Montag, 14. Oktober 2019, Ein Tag nach Vollmond
Das Signal einer eintreffenden Nachricht reißt mich aus dem Schlaf. Noch trunken von meinen Träumen greife ich danach und entsperre es. Marie hat eine Nachricht in unsere Gruppe geschickt. Es ist ein Foto von einer Werwolf-Karte, Lorenz war schuldig. Daneben eine kurze Notiz vom Spielleiter Herzluchen Glückwunsch, mehr steht nicht drauf.
Keiner traut sich das Foto zu kommentieren, bis Julius schließlich einen Daumen hoch schickt. Sehr zufrieden mit mir öffne ich WhatsApp.
Schlampe, Mörderin, Seuche springt mir entgegen. Sofort lösche ich die Nachrichten und kuschele ich mich wieder in meine Decke, nur um keine zehn Minuten später von meinem Wecker zum Aufstehen bewegt zu werden. Geschlafen habe ich eh nicht.
In der Schule geselle ich mich zu Julius, der etwas verloren auf dem Pausenhof sitzt.
„Na?", vorsichtig setze ich mich auf die Mauer neben mir. „Wie geht es dir?" Ich drücke seine Schulter.
„Ganz gut", er beißt mechanisch von seinem Brot ab. „Sie fehlt mir einfach." Er packt sein Essen weg. „Die ganze Zeit schaue ich mich um und erwarte sie in der Menge zu sehen."
„Ich weiß was du meinst. Mir geht es genauso." Schweigend sitzen wir einfach so dar, bis auf einmal eine Frau vor uns auftaucht. Ihr heller Hosenanzug sticht aus der Menge hervor, ebenso ihre große Sonnenbrille.
„Hallo, bist du Stella?", sie sieht mich freundlich an. Mein Blick huscht zu Julius, dann nicke ich zögerlich.
„Mein Name ist Katja, ich bin Reporterin von der regionalen Tageszeitung. Kannst du mir etwas zum Tod von Angelina erzählen?" Sie hält mir ein Handy unter die Nase und behält ihr Lächeln bei.
„Äh, was?" ich bin etwas aus dem Konzept gebracht.
„Einige unserer Quellen haben berichtet, dass es eventuell nicht mit normalen Dingen von statten ging? Stimmt es, dass Magie im Spiel ist? Oder eine überdimensionale Macht?"
„Ich habe keine Ahnung, wer Ihre Quellen sind oder was Sie behaupten, aber es gibt keine Magie", weiche ich aus und ergreife dann mit Julius die Flucht. Ohne umzudrehen hasten wir ins Gebäude, was ziemlich einfach ist, da mir immer noch alle Schüler aus dem Weg gehen.
„Was war das denn?", er schaut zurück zu Katja, die eifrig auf ihrem Handy tippt.
„Hey, ihr beiden!", Violet steht auf einmal vor uns und entlockt mir einen kleinen Schrei. „Seit wann bist du denn schreckhaft?" Sie lacht kurz, bemerkt dann aber unsere ernsten Gesichter. „Was ist passiert?"
„Siehst du die Frau dahinten?", Julius deutet in die Richtung von Katja. Violet schaut an uns vorbei und nickt dann. „Sie hat Stella gerade nach Lina und ihrem Tod gefragt."
„Nicht wirklich", Violet sieht schockiert aus.
„Anscheinend schon", ich packe mein Brot weg, der Appetit ist mir vergangen. „Sie hat gesagt, sie ist von der Zeitung und hat Fragen."
„Oh oh, sie kommt zu uns rüber", flüstert Violet und zieht uns beide mit sich um die nächste Ecke.
„Vielleicht sollten wir es einem Lehrer melden", schlage ich vor, doch weder Julius noch Violet sehen begeistert von der Idee aus.
„Nachher mischen die sich noch ein, das können wir gerade nicht gebrauchen", Violet zieht uns weiter in Richtung Klassenraum. „Gerade hat das Dorf eine reelle Chance zu gewinnen."
„Vorausgesetzt wir finden noch die restlichen Werwölfe", wirft Julius zweifelnd ein. Violet legt zustimmend den Kopf schief. Da winken ein paar Jungs Julius von der anderen Seite des Gangs zu und er verabschiedet sich.
„Sag mal, hast du Lust gleich mit in die Stadt zu kommen? Ich habe 'ne Freistunde, dann könnten wir uns in Ruhe über deine letzte Vision austauschen."
„Sorry, ich hab Sport", rede ich mich raus, als es auch schon klingelt.
„Och, komm schon", bettelt Violet. „Es ist nur Sport, keiner wird dich vermissen."
„Aua", ich lege eine Hand aufs Herz und greife nach meiner Tasche.
„Du weißt, so habe ich das nicht gemeint", sie lächelt mich an und ergreift meine Hand. „Lass uns gehen, so langsam bist du nämlich eh schon zu spät." Ich ringe mit mir, gebe dann aber nach. Glücklich zieht Violet mich raus aus dem Schulgebäude. Und tatsächlich legt sich meine Panik, als wir um die Ecke verschwinden und keiner meiner Lehrer mich aufgehalten hat.
Im Café schickt Viole mich los, einen Platz zu reservieren während sie Kuchen holt. Kurz darauf sitzen wir an einem Ecktisch, jede einen Muffin und eine heiße Schokolade vor sich.
„Wie geht es eigentlich Annas Großeltern?" fängt Violet an.
Ich schlucke meinen Bissen runter. „Ich war gestern noch bei ihnen, sie haben es erstaunlich gefasst aufgenommen, wobei ich das Gefühl habe, dass Anna ihnen alles erzählt hat."
„Bleiben sie hier?"
„Erstmal ja, sie sind hier immerhin aufgewachsen", ich greife nach meiner Tasse. „Aber ich glaube, dass sie am überlegen sind, ob sie wegziehen. Verübeln kann ich es ihnen nicht, erst verlieren sie ihre Tochter und dann auch noch ihre Enkeltochter. Hast du eigentlich etwas von Lorenz gehört?", traue ich mich zu fragen. Fest umklammern meine Finger den Rand der Tasse.
„Marie hat mich heute Morgen abgepasst. Sie wollte uns nur zu der Aktion gestern gratulieren. Na ja, wir sind ins Gespräch gekommen und da hat sie erzählt, dass Lorenz' Tod wohl ein Autounfall war." Violet schiebt sich gedankenverloren einen Stück Muffin in den Mund.
„Woher weiß sie das? Ich dachte, sie hätte ihn in die Zelle gesperrt?"
„Lorenz ist gestern Abend wohl nicht pünktlich aufgetaucht, da ist sie nervös zu ihm gefahren und hat auf dem Weg sein Auto im Graben gefunden. Die Polizei geht von einem Wildunfall aus, wobei es kein Wild gibt. Allerdings auch keine anderen Reifenspuren oder so", erklärt sie. „Bis jetzt haben sie den Unfall auch noch nicht mit Anna in Verbindung gebracht, aber das ist nur eine Frage der Zeit."
Ich nicke zustimmend.
„Zurück zum Wichtigen. Hat deine Vision noch mehr ergeben?" Da fallen mir wieder die Gestalten im Garten ein. Schnell habe ich Violet die Geschichte erzählt, zusätzlich zum Abbrechen meines Traumes.
„Als hätten die Werwölfe versucht zwei Leute umzubringen", murmelt sie. „Geht das eigentlich?"
„Soweit ich weiß nicht. Jede Nacht nur ein Opfer, außer der Amor oder die Hexe sorgen für ein zweites." Kurz überlege ich. „Vielleicht waren sie sich auch einfach nicht einig. Und dann hat die Mehrheit sich auf den Weg zu Anna gemacht und war erfolgreich."
„Wenn das so ist, haben wir es vielleicht mit Werwölfen zu tun, die alle einen dicken Schädel haben und dauernd ihre Meinung durchbringen wollen", Violets Augen glänzen auf einmal. „Das würde die Sache einschränken."
„Auf wen denn?" Ich schiebe meinen Muffin und die Tasse zur Seite und lege stattdessen einen Block und einen Stift auf den Tisch.
„Na ja, da wäre einmal Marie, die ziemlich stur sein kann. Und auch Mareike und Lukas können gerne auf ihrer Meinung beharren. Adrian, wenn ich so überlege, auch." Sie krizelt die Namen auf eine leere Seite.
„Genauso wie Julius, Tom, du und ich", ich streiche die Namen wieder durch. Frustriert zieht Violet ihre Unterlippe zwischen die Zähne, als uns jemand anspricht:
„Hi, ihr seid doch Freundinnen von Angelina und Kim gewesen, oder?" Violet und ich schauen auf. Vor uns steht Katja. „Könnt ihr mir etwas über ihre Tode erzählen?"
„Warum sollten wir?", Violets Blick wird eisig. „Und warum fragen Sie das die ganze Zeit?"
„Heißt das, es gibt mysteriöse Umstände?", Katja zieht eifrig einen Stift aus ihrer Tasche und schaut Violet mit einem wissbegierigen Blick an. „Vielleicht Umstände, von denen eure Eltern nichts wissen?"
„Was?!" Während Violet die Frau fassungslos anstarrt, klappe ich meinen Block zu und verstaue meine Sachen im Rucksack. Dann greife ich nach meiner Jacke, hänge mir meinen Rucksack über die Schulter und stehe auf.
„Ich glaube, wir müssen langsam zurück", ich schiebe Katja unsanft zur Seite und verlasse mit Violet im Schlepptau das Café.
Kaum sind wir draußen lässt die ihrer Wut freien Lauf. „Wie kann diese Frau es wagen uns anzusprechen?! Wir sind minderjährig und nicht befugt ohne unseren Eltern ein Statement abzugeben!" Ich lasse sie vor sich hin schimpfen.
„Die eigentliche Frage", fange ich an, als die Schule in Sicht kommt. „Ist doch, warum es sie so interessiert. Ja, es sterben ab und zu mal Jugendliche und unsere Quote ist gerade ziemlich hoch, aber dennoch, warum hakt sie so darauf rum?"
Das beruhigt Violet wieder soweit um darüber nachzudenken. „Außer uns weiß niemand, dass ihr Tod nicht normal war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer gepetzt hat. Das würde nur negative Folgen nach sich ziehen."
Doch bevor wir weiter überlegen können, klingelt es zur Pause.
„Ich sollte zusehen, dass ich hier weg komme", rufe ich Violet noch zu und sprinte dann hastig in Richtung Toilette davon.
Zum Beginn der nächsten Stunde laufe ich vorne bei meiner Klassenlehrerin auf und erkläre ihr, dass es mir nicht gut gehe, ich in Sport gefehlt habe und gerne nach Hause gehen würde. Sie versteht zum Glück sofort und schickt mich Heim. Dort begegne ich nur meiner Mutter, die seit dem Streit gestern nicht mit mir redet.
„Mir geht es nicht gut", erkläre ich und verschwinde dann auf mein Zimmer. Erst auf meinem Bette wird mir bewusst, dass zwei meiner Freundinnen tot sind, dass ich keinem mehr trauen kann und dass eine Reporterin Unruhe in unser Leben bringt. Dazu die ganzen Hassnachrichten. Die Tränen kommen ohne Vorwarnung und sind mein Weigenlied in einen unruhigen Schlaf.
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