Freitag, 13. Dezember 2019
„Lass sie gehen!", schreit jemand, gefolgt von einem lauten Tröten. Die Bestie wendet den Blick ab, knurrt in die Richtung aus der die Stimme kommt und steigt umständlich über mich rüber. Dabei verlagert sie das Gewicht auf die Hinterbeine und läuft aufrecht wie ein Mensch. Zwei Meter vor meinem Retter lässt sie sich wieder auf alle Viere fallen.
„Lass das Mädchen gehen!", mein Retter ist ein Herr in den Sechzigern, welcher mit einem Gewehr in der Hand in der offenen Tür seines Hauses steht. Die Bestie schleicht auf ihn zu, ein Knurren in der Kehle. Der laute Warnschuss lässt sie innehalten und den Blick in meine Richtung wenden. Statt den unheimlich grünen Augen schaue ich in Toms.
Ruhig erwidert er meinen Blick. Seine Nase hat wieder ihre normale Größe und die Lippen stülpen sich nicht mehr über zu große Zähne nur noch die Augen funkeln grün. Seine Haare sind kürzer, fallen ihm nicht mehr ins Gesicht.
„Stella!", Violet ergreift schmerzhaft meinen Arm und zieht mich hoch. „Weg hier!" Sie stützt mich die ganze Straße runter, erst dann machen wir eine Pause. „Was war das!?"
Ich schüttele den Kopf. Keine Ahnung, was gerade passiert ist.
Tom ist die Bestie!
Tom ist ein Werwolf!
Unsere Vermutung hat sich bestätigt. Oh mein Gott. „Tom", bringe ich raus.
„Ich habe es gesehen", unterbricht Violet mich. „Wir sollten uns jetzt schleunigst aus der Gefahrenzone begeben. Ich rufe Lukas an."
„Warte, ich kenn dann jemanden, der besser ist."
„Noch jemand Nachschub?", Joel steht mit einer Kanne heißer Schokolade vor uns. Violet, Zuckerqueen wie sie ist, hält auffordernd ihre Tasse hin. Ich lehne dankend ab.
„Was macht dein Fuß?", erkundigt sich Jules zum x-ten Mal und deutet mit seiner MickeyMaus-Tasse auf meinen bandagierten Knöchel, der unter den vielen Kissen verschwunden ist.
„Besser, ich glaube die Schmerzmittel schlagen an", müde lehne ich mich an die Sofalehne. Das Adrenalin ebbt ab, ich könnte sofort einschlafen. Halte mich aber meinen Freunden zu Liebe wach.
„Super", Joel kommt wieder und besetzt vorsichtig den Platz neben meinem Fuß. Violet und Julius teilen sich das andere Sofa und haben sich unter dem Schutz der Decke aneinander gekuschelt. „Dann könnt ihr mir ja jetzt erzählen, was ihr da draußen gemacht habt."
„Wie oft denn noch", Violet nimmt einen Schluck. „Wir waren spazieren, weil wir nicht schlafen konnten und dann ist Stella unglücklich umgeknickt. Und dann haben wir euch auch schon angerufen."
Joel bläst die Backen auf, lässt die Luft dann aber wieder entweichen. Ihm ist deutlich anzusehen, dass er uns nicht glaubt. „Wissen eure Eltern wo ihr seid?"
„Lukas weiß Bescheid", lügt Violet.
„Meine Eltern wissen es nicht", gestehe ich unter Joels Blick. „Wenn sie es erfahren darf ich das Haus nie wieder verlassen." Schweigen. Nur unterbrochen von Violets Schlürfen. Nervös spiele ich mit dem Lederarmband an meinem Handgelenk rum. Drehe es von links nach rechts, schiebe es hoch und runter.
„Ich bringe euch jetzt nach Hause", Joel steht auf und nimmt mir die Tasse ab. „Dann bekommt ihr noch etwas Schlaf." Ein Heulen ertönt. Leise, weit entfernt. Abrupt bleibt er stehen und starrt aus der Terrassentür. „Habt ihr das auch gehört?"
„Sie kommen", flüstert Violet tonlos. „Wir müssen hier weg!" Sie befreit sich und Julius aus der Decke. Da ertönt wieder ein Heulen. Näher diesmal, lauter. Die beiden schauen sich an.
„Was?!" Es scheppert. Unzählige Scherben springen durch den Raum. Eine Pfütze Kakao sammelt sich auf dem Boden. „Seht ihr das auch?", Joel zeigt mit dem Finger zur Tür. Ich kneife die Augen zusammen. Da! Eine Bewegung, ein Schatten! Plötzlich schieben sich zwei helle, grün leuchtende und eindeutig nicht menschliche Augen in mein Bild. Tom!
„Wir müssen hier weg! Jetzt!", Violet hilft mir hoch. „Jules? Kommst du?" Doch der ist Richtung Fenster gegangen. Starrt wie gebannt nach draußen.
„Jules? Kleiner?", Joel greift nach seinem Arm, dreht ihn um. Die sonst so grauen Augen mustern uns in einem unheimlichen Grün. Die Lippen sind fest zusammen gepresst, es sieht beinah schmerzlich aus.
„Julius", ich strecke meine Hand aus, will ihn anfassen. In dem Moment reißt er sich los und steuert weiter auf die Terrasse zu. „Wir müssen ihn aufhalten!" Schrill hallt meine Stimme durch den Raum.
„Es ist zu spät, kleiner Stern." Der Schattenmann steht direkt neben Julius, berührt sachte seine Schulter. „Er gehört zu uns. Es tut mir leid."
„Nein!" Ich will zu Julius! Schmerzhaft gibt mein Knöchel unter mir nach. Nur Violets Hände verhindern, dass ich auf dem Boden aufschlage. „NEIN!", kreische ich.
„Stella, wir müssen hier weg. Es ist zu spät", Violet schiebt meinen Kopf sachte zur Glastür, deren Klinke schon in Julius' Hand ist. „Joel, ich brauche Hilfe." Einer links, einer rechts tragen die beiden mich aus dem Wohnzimmer in die Küche.
„Wir können ihn doch nicht einfach dem Tod überlassen", protestiere ich und werde unsanft auf einem Stuhl abgeladen. „Wir müssen ihn retten!"
„Ich bin ganz bei dir", stimmt Violet mir ruhig zu.
„Warum sind wir dann hier?!", ich ziehe mich am Tisch hoch, werde aber wieder nach unten gedrückt.
„Ich habe ihn gesehen, Stella. Den Schattenmann." Sie schlingt ihre Arme um den Körper. „Ich habe auch gehört, was er gesagt hat. Wir hätten nichts mehr tun können." In dem Moment unterbricht uns ein Siegesheulen. Gefolgt von einem lauten unmenschlichen Kreischen.
„Es geht los", Halt suchend krallt Violet ihre Finger um die Arbeitsfläche. „Haltet mich auf", steif und ungelenk geht sie zur Tür.
„Schnell, sie darf nicht zu den anderen", ich springe auf und stelle mich in Violets Weg. „Bleib bei mir", beschwöre ich sie. Meine Hände auf ihren Armen dränge ich sie zurück, doch sie ist stärker.
„Wir müssen sie irgendwie festbinden", wende ich mich an Joel. Fünf Minuten später sitzt Violet mit einem Bein an die Bank gefesselt auf dem Boden. Nach langem Gerangel haben wir ihren Arm an die Schublade gebunden, um auch jeden Fluchtversucht zu verhindern. Leicht skeptisch habe ich ihn dabei beobachtet und bin mir mittlerweile sicher, dass ich nicht wissen will, woher er das so g kann.
„Oh Gott!" sacke ich erschöpft auf der Bank zusammen. Tränen laufen mir über die Wangen, tropfen auf meine Hände, lassen meine Sicht unscharf werden. Unkontrolliert erfassen mich Schluchzer, schütteln mich durch. Ein Arm legt sich um meine Schulter, jemand drückt mich an sich. Ein männlich herber Duft steigt in meine Nase, Joel. Dankbar kralle ich mich an ihm fest, bis meine Atmung wieder ruhiger wird.
„Ich bin hier", Joel hält mich fest und beruhigt mich, bis ich wegdämmere.
Blinzelnd schaue ich in das helle Licht. Applaus ertönt, jemand ergreift meine Hand und zieht mich in die Dunkelheit. Ich komme kaum zu Atem, als ich auch schon wieder in dem Licht stehe. Fragen formen sich in meinen Mund, doch keine verlässt ihn, denn alles was ich erkennen kann sind Schemen. Helle, dunkle, grüne, rote. Sie wuseln um mich herum, nehmen mich kaum wahr. Ich stehe neben einer Bühne, schaue auf den Baum in der Mitte. Seine Blätter fallen zu Boden, was niemand zu bemerken scheint. Kästen werden auf die Bühne gestellt. Weiße Kästen. Sie färben sich langsam schwarz, werden größer. Die Schwärze dehnt sich aus, nimmt die ganze Bühne ein. Nur der Baum steht in der Mitte, wie eh und je. Schön, nicht?, murmelt jemand neben mir, doch als ich den Kopf drehe steht dort nur ein Mann, ganz in schwarz gehüllt. Du solltest gehen, sagt er noch.
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