Leise Musik bahnte sich ihren Weg durch Tommys Ohren und schlich sich rasselnd in seine unruhigen Träume ein. Er stand gerade mitten auf einem unendlich weiten Erdbeerfeld, über ihm schwebten Gestalten, die er nicht richtig deuten konnte, zu seinen Füßen lagen Millionen und Abermillionen von roten Beeren. Er bückte sich, um eine davon zu essen, doch er bekam sie nicht zu fassen. Seine Oma stand in weiter Ferne, sie trug ihr geblümtes Sommerkleid, einen Hut mit breiter Krempe über ihrem offenen Haar und hielt einen braunen Bastkorb in den Händen. In diesen lud sie die Erdbeeren ein, die sie vom Boden aufsammelte. Tommy wollte zu ihr, doch sie war zu weit weg und als er begann zu laufen, merkte er, dass er sich nicht von der Stelle bewegte. Er lief immer schneller, doch der Abstand zu seiner Oma blieb gleich und so verharrte er und rief nach ihr, doch sie hörte ihn nicht. Gut gelaunt sammelte sie immer weiter die Beeren vom Boden auf und ließ sie in ihren Korb fallen, und obwohl sie so weit weg war, konnte Tommy ein dumpfes Geräusch hören, jedes Mal, wenn eine Beere auf den Boden des Korbes plumpste.
Klonk.
Klonk.
Klonk.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel und all die bunten Gestalten in der Luft verflüchtigten sich und machten etwas anderem Platz, etwas Dunklerem. Tommy hörte das rasselnde Geräusch, rhythmisch, wie ein rascher Atem. Es kam näher und er suchte mit wildem Blick den Himmel ab, doch er konnte nichts erkennen. Das Rasseln wurde lauter, schneller, sein Herzschlag panischer. Nur noch wenige Sekunden und das unbekannte Wesen würde sich auf ihn stürzen. Er schrie nach seiner Großmutter, versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch sie sah und hörte ihn nicht. Fröhlich pflückte sie die Beeren vom Boden, nicht ahnend, in welcher Gefahr Tommy sich befand, während das Wesen immer näher kam. Plötzlich war sie aus seinem Sichtfeld verschwunden. Und dann ertönte ein hoher, schriller Pfeifton.
Er schreckte aus dem Schlaf.
Es war hell im Zimmer. Dennoch dauerte es einige Sekunden, bis er realisierte, wo er sich befand und woher die Geräusche kamen. Das rhythmische Geräusch tönte aus dem Küchenradio und kroch durch seine geschlossene Zimmertür, es war der langsame Takt irgendeiner Ballade. Der schrille Pfeifton kam vom Teekessel, der lautstark das Kochen des Wassers ankündigte.
Tommys Handflächen waren schweißnass, sein T-Shirt klebte ihm am Rücken. Sofort flog sein Blick zum Schrank, doch die Tür war verschlossen. Natürlich war sie das, schließlich hatte er sie am vorigen Abend eigenhändig zugemacht. Er schüttelte den Kopf über seine eigene blühende Fantasie und rieb sich die Augen. Was für unsinnige Träume das gewesen waren. Erst die Sache mit dem Schrank, dann das mit dem Erdbeerfeld. Doch es hatte sich so real angefühlt, vor allem die Sache mit dem Schrank ...
Er brauchte einige Minuten, um sich halbwegs zu sammeln. Der Wecker zeigte neun Uhr an. Er hatte lange geschlafen, aber da er auch sehr spät eingeschlafen war und offensichtlich eine unruhige und von Albträumen gebeutelte Nacht hinter sich hatte, war das kein Wunder. Mitzelschwack lag neben ihm auf dem Kissen und schnarchte leise. Nach einer Weile schlüpfte Tommy aus dem Bett, holte sich seine Kleidung aus dem Schrank und zog sich an.
Seine Oma stand bereits in der kunterbunt dekorierten Küche parat und trällerte breit grinsend »Happy Birthday«, als er das Zimmer betrat. Singen war eindeutig nicht ihre Stärke, aber Tommy freute sich trotzdem und musste ebenfalls grinsen.
»Danke, Oma«, sagte er.
Es war einfach zu schön, wie sie sich jedes Jahr für ihn ins Zeug legte. Sie zog ihn in eine innige Umarmung und drückte ihn so fest, dass er fast keine Luft mehr bekam.
»Alles Liebe, mein Schatz. Ich wünsche dir, dass das kommende Jahr das beste, aufregendste und glücklichste deines bisherigen Lebens wird! Und jetzt setz dich, es gibt Frühstück.«
Gegen Mittag trudelten die Gäste ein: Tommys Tante Agnes und ihr Mann Stephan, Frau Sauerbier, Onkel Charlie und Tommys Freunde Nick und Daniel. Sie aßen gemeinsam die Pfannkuchen, die Tommy sich jedes Jahr zum Geburtstag wünschte, er packte seine Geschenke aus (er bekam eine neue Klingel für sein Fahrrad, ein paar neue Bücher, Stifte, ein Spiel und einen neuen Schlafanzug) und war einfach glücklich über den besonderen Tag, das schöne Wetter und all die Menschen, die hier waren, um ihn zu feiern. Er war sogar so glücklich, dass er die Sache mit seinen Albträumen und dem leuchtenden Schrank komplett vergaß – und dass ihm gar nicht auffiel, dass er Helmut an diesem Morgen überhaupt nicht gesehen hatte.
Am Nachmittag machten sich alle zusammen auf den Weg in den Stadtpark, um das Herbstfest zu besuchen. Der Park war eine riesige Grünanlage am Rande der kleinen Stadt, die am hinteren Ende nahtlos in den Wald überging. Das Fest fand jedes Jahr in der ersten Oktoberwoche statt und so war es fast schon eine kleine Tradition, seinen Geburtstag dort zu feiern.
Er durfte mit Nick und Daniel in dem Kettenkarussell fahren, das wie ein riesiger Pilz aussah. Seine Oma schaukelte mit ihm eine Runde in der Schiffschaukel. Um sie herum tobte das Leben. Sie stopften sich mit Zuckerwatte, Maiskolben und gerösteten Mandeln voll, bis sie Bauchweh bekamen. Tommy erkundete mit seinen Freunden den Jahrmarkt, während die Erwachsenen an einem Biertisch in der Nähe des Bratwurststandes saßen, Kaffee und Kuchen zu sich nahmen und sich angeregt unterhielten. Es war einer der schönsten Geburtstage, die er je hatte.
Als Tommy und seine Freunde sich gerade für ein Eis anstellten, sah er hinter der Bude etwas aufblitzen. Nur für einen kurzen Moment, gleich darauf war es wieder verschwunden. Verwirrt rieb er sich über die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Vielleicht hatte er es sich eingebildet.
Er versuchte, nicht mehr an das kurze Blitzen zu denken, und kaufte sich ein Eis. Langsam schlenderte er mit Nick und Daniel zurück in Richtung der Biertische, wobei sie sich aufgeregt über das gerade erst begonnene Schuljahr und ihre neuen Lehrer unterhielten.
»Herr Steiner soll sehr streng sein«, sagte Daniel gerade. »Meine Schwester hatte ihn vor drei Jahren schon und sie sagte, dass bei ihm fast niemand eine Eins in den Klassenarbeiten bekommt und dass er außerdem immer sehr viele Hausaufgaben aufgibt.«
Nick, der mit Daniel in einer Klasse war, stöhnte gequält über diese neue Information, doch Tommy war schon wieder abgelenkt. Das Blitzen war erneut erschienen und nun erkannte er, was es war: ein weiteres Monster, was auch sonst. Es schien fast nur aus Licht zu bestehen, so hell war es – wie eine grelle kleine Sonne, die auf zwei Beinen durch die Buden und Jahrmarktbesucher huschte, ohne von irgendjemandem bemerkt zu werden; außer von Tommy.
Aus irgendeinem Grund fühlte er sich von dem Lichtwesen magisch angezogen und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Die Stimmen von Nick und Daniel verschwammen immer mehr mit den Hintergrundgeräuschen des Jahrmarktes und Tommy konnte überhaupt nicht mehr zuhören. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das kleine Lichtmonster gerichtet. Später würde er nicht mehr sagen können, was er sich in diesem Moment dabei gedacht hatte, doch nun fasste er einen spontanen Entschluss.
»Komme gleich wieder!«, sagte er hastig zu Nick und Daniel und eilte dann auf das Wesen zu. Seine Freunde konnten es natürlich nicht sehen und blickten Tommy verwirrt über dessen plötzlichen Abgang noch eine Weile hinterher, bis er in der Menschenmenge verschwand.
Das Monster bahnte sich einen Weg durch die Jahrmarktbesucher und als Tommy es fast eingeholt hatte, drehte es sich um und warf einen kurzen Blick nach hinten. Tommy erkannte zwei große blaue Augen, die in dem Gesicht strahlten und sich nun weiteten. Ein kleiner runder Mund formte ein erschrockenes »O«. Das Monster drehte sich wieder um und legte einen Zahn zu.
Tommy musste sich beeilen, um noch hinterherzukommen. Es lief Schlangen- und Zickzacklinien wie ein hakenschlagender Hase, und er hatte große Mühe, es in all dem Tumult nicht aus den Augen zu verlieren. Doch er war wild entschlossen, es nicht davonkommen zu lassen. Mit großen Schritten folgte er dem kleinen Wesen, schlängelte sich an Menschen vorbei, passierte Losbuden und Süßigkeitenstände, ignorierte die laute Musik, das Gemurmel und die vielen verschiedenen Gerüche. Mitzelschwack klammerte sich verzweifelt an der Kapuze seines Pullovers fest und wehte hinter ihm her wie ein kleiner grauer Drachen im Herbstwind. Tommy konzentrierte sich nur auf das Wesen vor ihm und registrierte dabei gar nicht, dass er irgendwann zu rennen anfing.
Das Monster allerdings merkte es und legte nun seinerseits auch noch einmal an Geschwindigkeit zu. Dazu fuhr es seine kurzen Beinchen wie Teleskopstangen aus, sodass es nun fast so groß wie Tommy war, nur eben viel längere Beine hatte. Damit begann es zu rennen und nun musste Tommy sich wirklich beeilen. Er raste los, so schnell er konnte. Rempelte dabei Besucher an und rief über die Schulter Entschuldigungen zurück, stolperte einmal über einen am Boden stehenden Rucksack und rappelte sich wieder auf, wurde immer schneller, bis seine Lungen brannten – und merkte dabei überhaupt nicht, dass er den Stadtpark verließ und immer tiefer in den Wald hineinrannte.
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