1
Es war dunkel. Die schwarze Nacht raubte alles Licht, ließ alles verschwinden in der unendlichen Schwärze. Nur die kleinen Lichtpunkte am Himmel vermochten den dunklen Schatten mit ihrem Licht eine schwache Paroli zu bieten.
Doch heute war es keine gewöhnliche Nacht. Keine Nacht in dem alles Leben schlief. Denn eine kleine Seele, hatte auf diese Nacht gewartet, mit schmerzvoller Sehnsucht.
Es war Vollmond.
Und die kleine Seele wusste dies wahrscheinlich am besten. Denn nur wenn der Mond ganz zu sehen war, brachte er genug Kraft auf um ihr zu helfen, um seine silbernen Arme auszubreiten, die alles erleuchteten und sie hervorzuholen.
Die kleine Porzellanteekanne, die so unscheinbar auf dem Fensterbrett stand, verstaubt und unbenutzt, war unbemerkt voller Leben. Und niemand ahnte es.
Auch nicht ihre Besitzerin, eine alte Dame, die schon lange nicht mehr dazu in der Lage war, sich selbst einen Tee kochen zu können.
Die Teekanne glänzte im silbernen Mondlicht. In keinem anderen Licht konnte sie gleichzeitig so wunderschön und gleichzeitig so unglaublich kaputt aussehen. Haarfeine Risse zogen sich durch die weißen Porzellannwände, durch die goldenen Verzierungen und auch durch das Abbild eines jungen Mädchens. Amelia.
Der Mond gab ihr diesen Namen, der genauso zerbrechlich klang, wie sie es war.
Das zarte Gesicht umspielt von milchiger Blässe. Kirschblütenfarbene Lippen und Augen, in einem so wässrigen Braunton, dass man annahm sie würde weinen, obwohl ihr Mund lächelte. Ihre hellen Augen hatten jedoch schon immer diesen Funken, eine glühende Lichtquelle. Ein Glühwürmchen, dass es selbst den langen Weg bis zum Himmel schaffte, zu ihm.
Ein gleißender Lichtstrahl tauchte das kleine Esszimmer in ein helles Silberblau.
Jedes Mal, wenn sie dies beobachtete, fühlte sie sich fast als könnte sie atmen. Sie fühlte sich lebendig und beinahe, spürte sie ein Herz in ihrer Brust klopfen. Leise, sanft und dann gleich Paukenschlägen, wenn sie wusste, dass er in kürzester Zeit bei ihr wäre.
Das Licht wurde heller, strahlender, alles einnehmend. Überall in diesem Raum gab es nur ihn, dieses Licht, dieses stille Feuer, was sonst nur in weiter Ferne im Himmel zu finden war.
So schnell der Raum hell wurde, desto beflügelter wurde er wieder verdunkelt, bis nur noch eine kleine silberne Flamme übrig war, die auf der Fensterbank stand und eine menschlich ähnelnde Form annahm.
„Ich habe dich vermisst", flüsterte er.
Amelia hatte noch nie viele Vergleiche gehabt, doch seine Stimme war immer die schönste gewesen.
Sanfte Schwingen, so klar wie die Nacht, erreichten ihr Ohr und etwas in ihr, was eine normale Porzellanverzierung nicht besitzen dürfte, fühlte sich so leicht an, wie die Dampfwolken eines frischen Tees. Ihre Seele.
Wie gern hätte sie ihm ebenfalls erzählt, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Wie langsam die Zeit am Tag verging und wie schnell in der Nacht, wenn sie zu ihm aufschaute und die Tage zählte bis es endlich Vollmond war.
Er streckte einen lichtdurchfluteten Arm nach ihr aus, zeichnete langsam mit dem Finger ihre Konturen nach, durchbrach die Fesseln, die sie an das Porzellan band. Ihre Umrisse leuchteten und er sah mit weichem Blick auf das kleine Wesen, welches durch die Magie seines Lichtes endlich befreit wurde. Frei von den Fesseln, von den Porzellanwänden. Von dem Leben bloß eine nichtige Verzierung zu sein.
Zu mindestens für eine Nacht. Doch jede Minute mit ihm, ließ ihr Herz für die Ewigkeit weiterschlagen.
„Ich hab von dir geträumt."
Ihre Stimme war leise und bedächtig, freute sich über jedes einzelne Wort, welches nun über ihre Lippen kommen durfte. So viele Gedanken, die nun eine Stimme hatten.
Sie schaute zu der einzigen Lichtquelle im Raum, die alles in kalten Farben eintauchen ließ, außer sie. Sie fühlte sich so warm, als hätte ihre Seele Feuer gefangen und würde sie in die Nacht hinein lodern lassen.
„Sagtest du nicht, du könntest nie ruhen?", fragte er und strich mit einem Finger über ihre freie Schulter. Es war verzweifelnd, dass er sie nie anfassen könnte, da selbst seine menschliche Erscheinung nur aus Licht bestand. Doch Amelias zerbrechlicher Körper kribbelte unter dem Lichthauchen seiner Finger. Solche Momente kamen ihr immer so unglaublich vor, unbeschreiblich in ihrer Art und so bunt wie das Feuerwerk, welches sie einmal im Jahr vom Fenster aus bestaunen konnte.
„Ich träumte von einer Welt, in der ich an deiner Seite geboren wäre", flüsterte sie und verschränkte hinter ihrem Rücken, ihre dünnen Finger. Diese Worte, waren ihr unangenehm, denn niemals könnte sie für immer an seiner Seite sein.
In Gedanken bestrafte sie sich für diese Worte. Diese wertvollen Lichtmomente in ihrem Leben, durften nicht durch ein weiteres Trauerlied ihrerseits beschattet werden. Sie sollte glücklich sein, die Zeit genießen. Ihn festhalten solange es die Nacht zuließ.
„Könnte ich alle Sterne am Himmel dafür eintauschen, würde ich es tun", sagte er und senkte den Kopf.
„Du weißt, ich würde es tun."
Und wie sie das wusste. Ihm fiel die Trennung ebenfalls schwer. Seit dem Tag, an dem sein Licht ihr Fensterbrett streifte.
Manchmal, in ihren verzweifelsten Gedanken fragte sie sich, ob er sich nicht lieber einen Stern suchen sollte. Ein Stern, stark, hell und erreichbarer für ihn als sie. Ein Mädchen, welches jeden Moment zerbrechen könnte.
„Bitte sei nicht traurig, nicht weil das Schicksal uns die Türen verschlossen hat. Schließlich hat es auch eine geöffnet-ich habe dich kennengelernt."
Seine Worte wärmten sie und sein Licht ließ sie wunderschön funkeln.
„Hast du mir wieder ein Wort mitgebracht?"
Das kleine Porzellanmädchen lehnte sich neugierig nach vorne und schenkte ihm für seine Worte ein zaghaftes Lächeln.
„Habe ich es denn jeher vergessen?"
Auch der Mond schmunzelte, ließ ihn in die Nacht lachen.
„Nein. Nicht ein einziges Mal. Und immer hast du mir die schönsten Wörter geschenkt."
Die beiden hatten es sich zur Tradition gemacht, dass er ihr in jeder Vollmondnacht ein neues Wort mitbrachte. Denn Amelia liebte es, wenn er ihr einen kleinen Teil von Außerhalb mitbrachte. Außerhalb ihres Gefängnisses.
„Mondstille."
Neugierig funkelten ihre Augen ihm entgegen währenddessen er lächelnd auf die schützende Ecke des Fensterbrettes deutete. Ein kleiner Preis, den sie zahlen musste und er würde ihr durch seine Wörter die ungreifbare Welt erklären.
„Erzähl mir die Geschichte dahinter."
Amelia sah hinter Wörtern ein ungespieltes Lied, eine Symphonie aus Gefühlen, welches ein einziges Wort auslösen konnte.
„Es erzählt die Geschichte eines mondlosen Himmels, eine Nacht, einen Himmel ohne mich", offenbarte er ihr und fuhr mit haltlosem Blick ihre braunen Haare nach, die mit winzigen Röslein bedeckt waren.
„Das empfinde ich als traurige Nacht", erwiderte Amelia nachdenklich. Der Mond war das schönste an der Nacht, der Lichtpunkt, der alles überschattete. Erhaben und stolz wachte er am Himmel über die Nacht und auch über sie.
„Ich empfinde es als glückliche Nacht."
Verwirrt sah sie ihn an und bemerkte den Ernst in seinem Blick.
„Denn wenn mein Licht so schwach scheint bedeutet es, dass mein Herz zuhause ist und zwar bei dir."
Seine Worte ließ alles in ihr wollig kribbeln.
„Ich liebe dich."
„Und ich liebe dich."
„Manchmal sind die Fragen kompliziert und die Antworten einfach."
„Solange Liebe die Antwort darauf ist", ergänzte er sich.
„Ich wünschte, ich könnte es dir jeden Tag sagen", beichtete sie.
Warum fühlte sie sich nun wieder so traurig und allein?
„Lass uns nicht jetzt darüber reden. Bitte."
Die Gefühle kämpften in seinem Blick, während sich kleine leuchtende Tränen in seine Augen schlichen.
Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Das freudige Feuerwerk, welches sie noch vor wenigen Momenten belebt hatte, wich für einen dunklen Sturm, der die verschachtelsten Gedanken hervorholte.
„Bitte bleib hier", flehte er sie an, als sie sich langsam an den verbotenen Rand wagte und sich schließlich sogar setzte und ihre Beine im Nichts baumeln ließ.
Der Mond hockte sich neben sie, seine Haltung war angespannt, wie die strenge Haltung eines Nussknackers, der Jahr für Jahr verstaubt auf dem Kamin stand.
„Amelia, bitte."
Doch sie wollte nicht aufstehen, wollte über den Seelenschnitt in ihr sprechen.
Amelia fühlte sich leer, hohl.
„Können wir wirklich für immer so weiter machen?", fragte sie leise, ohne den Blick vom Abgrund zu nehmen.
„Ja, ich habe nie daran gezweifelt."
Das hatte sie erwartet.
„Sieh mich an, ich gehe kaputt, ich habe Risse."
Sie spürte seinen Blick auf ihr und hörte sein erschöpftes Seufzen.
„Wir kriegen das hin, die Risse sind noch haarfein, kaum zu sehen", versuchte der Mond sie zu besänftigen und rutschte noch näher an sie heran.
„Ich meinte nicht nur die Risse, die man sehen kann."
Auch wenn es schwer war ihn in diesen Moment anzusehen, sprach sie weiter.
„Es schmerzt, immer wieder zulassen zu müssen, dass du gehst und in meinem Gefängnis auf dich zu warten."
Wieder galt ihr Blick sehnsuchtsvoll der Tiefe, die allen Schmerz verschlucken würde.
„Nein!", rief er laut aus und sie wusste, dass er ihren Blick richtig gedeutet hatte.
„Es tut uns beiden weh und du wirst mich nicht vergessen können, wenn ich noch lebe."
Das kleine Mädchen wollte ihn nicht mehr ansehen, versuchen ihn auszublenden. Nur das würde ihnen noch helfen und diesen Weltschmerz heilen.
Und damit ließ sie sich fallen, in die schwarze Tiefe und hörte zuletzt seinen herzzerreißenden Schrei.
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