Kapitel 1.4
In der Scherbe erschien das abgehärmte Gesicht eines alten Mannes. Seine Haut war faltig und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. „Was?", brummte er reichlich verärgert über ihre Störung. Von was auch immer sie ihn abhielt. Rudos war eigentlich immer beschäftigt.
Lina brachte das jedoch zum Lächeln. So war ihr Mentor eben.
Sie erklärte ihm kurz, was für ein Problem sie hatte. Das veranlasste ihn dazu, sich durch den langen, weißen Bart zu streichen. „Arelia Zaratus", murmelte er vor sich hin. Seine Stimme tief und rau. Eigentlich recht unangenehm in den Ohren, doch Lina hatte sich daran gewöhnt. „Gut, ich werde Schritte einleiten. Du wirst ihre Rolle spielen."
Lina seufzte leise, aber mit einem Lächeln. Es beruhigte sie, dass sich der Orden darum kümmerte. Das hieß, die Frau würde hier nicht auftauchen und hoffentlich auch für einige Zeit verschwinden. „In Ordnung. Ich brauche dann aber entsprechende ... Kleider", sagte sie, auch wenn sie das Thema ungern ansprach.
Der Mann winkte ab. „Folgt", sagte er knapp und dann war die Scherbe auch schon wieder das, was sie eigentlich war: Durchsichtig.
Der Wind schlug ihr die schwarzen Strähnen ins Gesicht, da sie noch immer am Fenster stand. Doch war das nun hinfällig. Ob sie die Wache informieren sollte? Vielleicht hatte sie auch Glück und er würde entlassen werden. Oder noch besser: Auf eine Patrouille geschickt und nie wieder gesehen.
Allerdings sollte sie vielleicht vorher testen, ob er nicht einer ihrer Gesuchten war. Obwohl sie sich das nicht vorstellen konnte. Er war dazu viel zu weich und ängstlich.
Lina schüttelte den Kopf und schloss das Fenster wieder. Wenn sie nicht kam, würde er vermutlich verstehen, dass sie sich anders entschieden hatte. Aber was sollte sie jetzt machen?
Ohne ihr Gepäck würde sie sich nicht auf den Abend vorbereiten können und wenn sie ihr Zimmer verließ, könnte sie Gefahr laufen der Wache über den Weg zu laufen. Aktuell war er ironischerweise der Einzige, der ihr gefährlich werden könnte. Zumindest wenn er recht hatte und sein grummeliger Kamerad wirklich ein Gedächtnis wie ein Sieb hatte.
Lina begann ein wenig unruhig in ihrem Zimmer auf und abzulaufen.
Sie wartete darauf, dass ihr Gepäck kam, damit sie sich vorbereiten konnte, doch wie lange es brauchte, konnte sie nicht sagen. Zudem wusste sie auch nicht, ob es überhaupt heil bei ihr ankam. Vielleicht sollte sie einfach mit Madam Filtrin sprechen und ihr erklären, wo das Problem lag. Vielleicht konnte sie ihr Glauben machen, dass ihr Gepäck auf der Reise abhandengekommen war.
Doch ob sie ihr da würde aushelfen können, war fraglich. Immerhin war sie nicht dafür zuständig etwas aus eigener Tasche für sie zu zahlen und etwas ausleihen könnte sie ihr sicher auch nicht ... allein schon von dem Größenunterschied her. Doch eine wirklich andere Wahl würde sie im Notfall nicht haben. Immerhin hatte die Madam doch immer wieder betont, dass sie sich um alles hier im Palast kümmerte. Was war da also schon ein bisschen Stoff, das zu einem Kleid geformt wurde?
Lina überlegte, welche Alternativen sie hatte, doch ihr wollte nichts einfallen.
Da sie noch etwas Zeit hatte, setzte sie sich wieder ins Bett, bevor sie sich den Namen der Wache notierte. Ihn musste sie sich dringend merken.
Minuten verstrichen, bevor es wieder an der Tür klopfte. Diesmal jedoch auf eine leichte und beschwingte Art.
Das konnte weder die Wache noch die Dame sein. Lina runzelte die Stirn, steckte das Buch wieder weg und öffnete dann die Tür, um zu sehen, wer es nun schon wieder war. Vielleicht ihre Koffer?
Rosige Wangen und goldene, kleine Locken waren das erste, was ihr ins Gesicht sprangen. Ein junges Mädchen, wohl um die siebzehn Jahre, stand in feinen, edlen Kleidern von ihr, die sie kaum als Dienstmädchen durchgehen ließen. Sie knickste höflich vor Lina und verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, während sie aufgeregt auf und ab wippte. „Verzeiht die Störung, Lady Zaratus. Mein Name ist Prinzessin Arabella von Windfall."
Sofort knickste auch Lina. „Prinzessin Arabella", sagte sie höflich. „Es freut mich sehr, Euch kennenzulernen." Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war doch noch überhaupt nicht vorzeigebereit. So würde man ihr doch nie abkaufen, dass sie Lady Zaratus war.
Mit neugierigen, jadefarbenen Blicken musterte die Prinzessin Lina. „Unglaublich. Man sieht Euch Euer Alter wirklich kaum an, Madam hatte recht", wisperte die Prinzessin zu sich selbst.
Das kam unerwartet, denn Lina wusste überhaupt nicht, wie alt Lady Zaratus war. Obwohl sie das verunsicherte, lächelte sie. Immerhin sollte niemand bemerken, dass etwas nicht stimmte. „In unserer Familie ist das normal und die meisten machen mich gern älter, als ich bin", antwortete sie höflich lächelnd.
Verblüfft blinzelte Arabella bei dieser Information. „Dann seid Ihr also gar nicht 36 Jahre alt?"
Lina lachte leise. „Das wird gern behauptet", sagte sie. „Zumindest wird hier nicht erzählt, dass ich bereits über 50 bin", winkte sie schmunzelnd ab. „Ich bin erst 31", log sie. Das war sie nicht, doch so konnte sie ihre Jugend erklären. Hoffte sie.
Die rosigen Wangen der Prinzessin wurden nun in ein tiefes Rot getränkt, als sich ihre Scham bemerkbar machte. „Oh, verzeiht, Mylady. Dann waren die Quellen wohl falsch. Zugegeben, hätte es mich nicht gewundert, wenn Ihr gar 26 wärt. Mein Vater weigert sich immer seine Lesebrille aufzusetzen und daher bringt er gerne mal Dinge durcheinander."
Lina konnte das leise Lachen nicht verhindern. „Das ist nicht schlimm", versicherte sie schnell. Dass ihr Vater so war, kam ihr nun auch zugute. „Es ist immer seltsam, wenn die Lehrerin so jung ist, daher haben einige der Adligen rumerzählt, dass ich älter wäre, damit sie sich keine Blöße geben müssen", versicherte Lina und hoffte, dass sie sich in ihrem Lügennetz nicht zu sehr verstrickte.
Ein glockenklares Kichern entkam der jungen Prinzessin. „Wem sagt Ihr das. Meine Mutter weigert sich ihr Alter preiszugeben. Wenn man das also herausfinden will, muss man in den Archiven nachlesen. Wobei es mich auch nicht überraschen würde, wenn sie die Seiten rausgerissen hat", lachte die Prinzessin vergnügt, doch möglichst beherrscht.
Lina lächelte. „Ihr seid ebenfalls eine Frau. Ihr solltet dieses Bedürfnis also nachvollziehen können", sagte sie und zwinkerte leicht. Dann wechselte sie das Thema. „Ich bin heute erst angekommen und Euer Vater plant eine Feier", bemerkte sie, wobei sie eher fragend klang.
„Oh, ja ... nun ja. Ihr werdet herausfinden, dass Windfall keine Gelegenheit auslässt, eine ausgelassene Feier zu veranstalten. Letztes Jahr haben wir sogar eine Feier veranstaltet, als das neue Mühlrad aufgestellt wurde", erklärte die Prinzessin mit einem verlegenen Lächeln. Es war ihr anzuhören, dass sie selbst nicht viel Interesse an diesen Festen hatte. Doch anscheinend schienen sich genügend Leute darüber zu freuen, da das Feiern in diesem kleinen Reich großgeschrieben wurde.
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