VIERZIG
,,Kennst du Imogens Todesursache?"
Cael blinzelte kein einziges Mal, seitdem sie einen Blick auf mich warf. Ich konnte ihren Augenkontakt nicht halten. Als würde sie nach Antworten suchen, schaute sie mich an. Ich konnte ihr nicht so helfen, wie sie es von mir verlangte. Sie entsprach dem Gegenteil ihrer Schwester.
Imogen machte bei solchen Anlässen Witze, lockerte die Atmosphäre auf, damit ja nicht ein unannehmliches Wort ihren Mund verließ.
Zwanghaft versuchte sie jeden auf Trab zu halten.
Cael brachte mich mit ihren andauernden Augen auf mir zum Schweigen. Ich konzentrierte mich nicht in ihrer Gegenwart, jede Antwort könnte sie unzufrieden stellen.
Anfangs hatte ich vermutet, dass Cael sich auf mich freute, dass sie Imogens Freundin kennenlernte. In meiner Vorstellung verbrachten wir das Wochenende zusammen, verarbeiteten, den Fortgang von Imogen und trauerten ihr nach. Der Besuch war auch dafür bestimmt, sich von ihr zu verabschieden, sie hinter mir zu lassen.
Meine Essstörung begann, als Imogen ging. Sie war ein Auslöser, ich machte sie dafür nicht verantwortlich. Aber ich wollte essen, Nahrung zu mir nehmen und mich in meinen eigenen Körper wieder wohlfühlen.
Seit ihrem Tod schmeckte das Essen fad, hatte keine Bedeutung mehr. Ich ließ es aus, wurde von meinen Aussehen besessen. Es wandelte sich so schnell, auf einen Schlag veränderte sich meine Realität. Ich zählte Kalorien, führte Tabellen, widerstand dem Drang mich zu wiegen und missglückte dabei. Innerhalb von wenigen Monaten rollte sich meine Gegebenheiten in die Tiefe ab.
Ich sah mich selbst untergehen, wie ich mich verlor. Spiegel in meinem Zimmer hängte ich ab, warf keinen Blick mehr in die Reflexion meines Körpers. Allein ein Handspiegel blieb mir. Mithilfe von ihm trug ich mein Make-up auf, benutzte ihn einzig zu einer Tageszeit.
Wie konnte ich nur meine ganze Hoffnung auf ein Mädchen legen, das wenige Jahre jünger als ich war? Wie sollte mir eine riesige Villa helfen Imogens Tod zu verarbeiten?
Mir war so plötzlich zum Weinen zumute. Ein weiterer vergeblicher Versuch mich selbst anzulügen, zu vergessen, was geschah.
,,Ich kenne ihre Todesursache nicht.", sagte ich.
Ohne auf mich weiter einzugehen, sprach sie weiter. ,,Dir würde orange sehr gut stehen."
Perplex starrte ich sie an. Meine Wangen liefen rot an und ich bedankte mich. Ihr plötzlicher Themenwechsel brachte mich aus meinem Konzept, verunsicherte mich auf die Weise, wie ich Dinge sehen sollte.
Mittlerweile waren wir die weiten Gänge durch kämt und erreichten Imogens Zimmer. Über ihrem Bett hingen Poster, Ausdrucke und Fotos ihrer Schwärme. So lernte ich sie erst in der Mittelstufe kennen. Sie schwärmten unerreichbaren Berühmtheiten nach. Damals behängte sie unser Zimmer mit ähnlichen Postern.
Durch die grünen, mit Blümchen bestickten Vorhänge fiel blaues Licht in den Raum und hüllte ihn in seine Schale.
Imogen erzählte mir nicht oft von ihrer Kindheit, aber ich wusste, dass sie nicht glücklich war. Sie rebellierte gegen ihre Eltern und verstand ihre Schwester nicht. Sie hasste die Ferien, in denen wir nach Hause fuhren und dort unsere Sommerzeit verbringen sollten.
Schon damals fand sich in Imogens Sachen keine Ordnung wieder. Mein Blick schweifte über ihre Dekoration. Sie entschied sich für keine Farben, nichts passte wirklich zusammen und dennoch stand alles an seinem Platz, auch wenn ihre Struktur nicht zu finden war.
Cael schließt die Tür direkt vor meinen Augen, wäre ich nur einen Zentimeter weiter in das Zimmer getreten, hätte sie die Tür gegen meine Nase geschlagen.
Ich schrie kurz auf, hielt meine Hand vor den Mund. Ich drehte mich zu Imogens kleiner Schwester um und lächelte sie verlegen an, auch wenn ich nicht schlau aus ihr wurde.
Sie führte mich durch das Haus, zeigte mir das Bad, das ich benutzen durfte und die Räume in den ich mich aufhielt. Ich nickte wissend, suchte nach Imogen in den Räumen, nach Gegenständen, die mich an sie erinnerten.
Ihre Familie löschte sie nicht aus, aber mehr als ein paar Bilder und ihr Zimmer ließen sie von ihr nicht übrig.
Am Ende unserer Tour durch das Haus begleitete Cael mich in das Gästezimmer.
Sobald ich die Tür hinter mir schloss und ich endlich ein paar Minuten für mich allein hatte, ließ ich mich in die Kissenpracht auf meinem Bett fallen.
Ich ließ den Augenblick passieren, legte meinen Kopf ab und schätzte mich glücklich für wie weit ich kam.
Hinter mir hörte ich das Türschloss klicken.
Mit einem Ruck sprang ich von der Matratze auf und rannte zur Tür. Ich drückte und zerrte einige Male an der Türklinke, jedoch ließ sie sich nicht öffnen. Man sperrte mich in einem fremden Haus ein. Ich konnte nicht so fliehen, wie ich es vielleicht wollte, Schmerz loderte in mir auf.
Das wohlige Gefühl in meiner Magengrube machte der Angst Platz, räumte den Weg frei, um sich vollkommen in mir einzunisten.
Ich hämmerte mit meiner blanken Faust gegen die Tür, hoffte, dass jemand sie für mich öffnete, dass ich aus meinem Albtraum erwachte.
Tränen trieb es in meine Augen, als ich keine Schritte hörte. Meine Existenz wurde weggesperrt. Ein deutliches Zeichen, dass ich nicht erwünscht war, dass sie mich hier nicht haben wollten.
Kummer trieb sich durch meinen Körper. Was wollte sie mit mir machen? Was tat ich den Sweeneys auf eine solche Reaktion?
Die Kälte ließ meinen ganzen Körper erzittern. Ich kuschelte mich unter meine Bettdecke, die den Frost nicht lindern konnte. Ich atmete bewusst langsam und rieb mich an den Armen. Eine Panikattacke war das Letzte, was ich in diesem Moment brauchen konnte.
Auf dem Display meines Handys wählte ich eine Nummer.
Nach wenigen Sekunden hörte ich Aspen auf der anderen Seite der Leitung. Seine raue Stimme sendete einen Schauder über mein Rückenmark.
Was ich alles in diesem Moment geben würde, damit ich wieder in seinen Armen liegen könnte.
,,Die Sweeneys haben mich eingesperrt. Ich glaube, ich bin bei ihnen nicht willkommen." Mein Kinn bebte. Ich wollte schreien, hier raus, mich in Sicherheit wissen.
Warum ich Aspen angerufen hatte, war mir selbst nicht klar. Er war die erste Person, die mir einfiel. Ich sehnte mich nach seiner Stimme, den Halt, an den ich mich klammerte.
,,Ich will zurück. Ich weiß nicht wie."
Er seufzte. Ich deutete es nicht, ich nervte ihn nicht, aber er war auch nicht sonderlich erfreut über meinen Anruf.
,,Ich weiß ehrlich gesagt nicht wie ich dir helfen kann."
Mein Atem wurde schneller, meine Brust würde jede Sekunde sprengen.
,,Aber bis wir eine Lösung gefunden haben, telefonierst du mit mir, okay? Ich will nicht, dass du Panik bekommst. Alles wird gut, ich verspreche es dir."
Ihn in diesen Moment zu sehen, mich nicht mehr in diesem Grauen zu spüren, wäre ein Erlös.
,,Willst du abgeholt werden?"
,,Du besitzt doch nicht einmal ein Auto." Ich lachte bitter auf.
,,Für dich werde ich einen Weg finden."
Ich hörte ein Rütteln und verschwommene Stimmen am anderen Ende. Kurz darauf ertönte eine weibliche Stimme.
,,Hi, ich bin Aeryn, Aspens Schwester. Und du?"
,,Eloise." Ich fühlte mich wie ein Kleinkind bei ihrer Frage, als wäre ich unfähig zu Ruhe zu kommen, weil ich sonst die Tür eintreten würde.
,,Hör zu Eloise. Ich beziehungsweise wir werden kommen und holen dich ab."
,,Das muss echt nicht sein, ich komme hier super klar." Meine Stimme brach am Ende des Satzes, was mir umso mehr widersprach. Ich sollte zusagen, bitten, dass sie mich holen.
Ich schwebte in Todesangst und ich wollte ihnen keine Umstände machen? Wenn ich einem Mord zum Opfer falle, machte ich mir Sorgen darüber, ob es für sie bequem war?
,,Du kannst mir nichts vormachen, alles wird gut. Aspen und ich sind auf dem Weg und werden dich erlösen, egal ob du in Gefahr schwebst oder nicht. So ein Anruf hat nichts Gutes zu bedeuten." Aeryns Stimme blieb leise, sie sprach hypnotisch auf mich ein, als würde ich schwer verstehen.
Mir war bewusst, dass sie all das tat um mich zu besänftigen, meine Angst zu stillen. Aber konnte ich einer Fremden trauen? Ich kannte sie nicht einmal.
Ich saß zwischen zwei STühlen. Entweder verbrachte ich meine Zeit in diesem Zimmer, auf der Suche nach einem Ausweg und einer Situation voller Verzweiflung. Oder ich ließ mich abholen, benahm mich wie ein Kleinkind, konnte für mich keine Verantwortung übernehmen.
,,Ich will nicht, dass ihr euch die Mühe macht. Ich werde klar kommen., danke für euer Angebot." Ich legte auf, ohne etwas zu sagen. Wahrscheinlich war dies die schlechteste Entscheidung, die ich treffen konnte.
Nun war ich nicht nur stur, sondern auch dumm. Was war, wenn tatsächlich etwas geschah und ich meine letzte Hilfe ablehnte?
Ich kauerte mich auf den Boden zusammen, sammelte meine Gedanken.
Im nächsten Moment schrie ich auf. Das Handy, das in meiner Hand lag, vibrierte und summte in meinem Klingelton.
Ich ignorierte den Ton, ein erstes Mal, ein Zweites. Beim dritten Male beschlich mich mein schlechtes Gewissen. Ich hätte die Situation erwachsen handeln können, mich wie eine reife Frau der Gefahr stellen können und Hilfe entgegengenommen, wenn sie mir angeboten wurde.
Mein Trotz hielt mich ab, suchte einen Weg mich selbst hier rauszuholen.
Ich war fast den Tränen nahe, als ich das Telefonat wieder annahm, Scham versprühte jede Faser meines Körpers, nahm mich in seinen Besitz.
,,Hey, ich bin es wieder Aeryn. Ich weiß du hast Angst und willst es allein schaffen. Ich kenne das, aber lass dir helfen. Solange wir anfahren, suchst du einen Weg aus deinem Zimmer und aus dem Haus. Ist das eine gute Idee?"
Ein weiteres Mal werde ich den Fehler nicht machen und auf den roten Button drücken, meine Möglichkeiten hinschmeißen.
Ich erklärte mich einverstanden, schämte mich immer noch über mein Verhalten. Schließlich gab ich ihr die Adresse, hoffte dass sie einen schnellen Weg fanden.
Kurz bevor ich auflegte, hörte ich ein Flüstern in der Leitung, ein Dialog. Wahrscheinlich diskutierten Aeryn und ihr Bruder. Musste es mir überhaupt wichtig sein, worüber sie sprachen? Danach legte jemand auf, ohne sich zu verabschieden.
Einige Minuten verweilte ich auf dem Boden, machte mir bewusst, wie scheiße ich mich gegenüber Aeryn verhielt. Ich prägte keinen ersten guten Eindruck.
Wahrscheinlich hielt sie mich für ein hysterisches Mädchen, das Aspen ununterbrochen nach schwärmte.
Innerlich gab ich mir eine Ohrfeige, dass ich in diesem Moment mir Gedanken über ihre Meinung machte, dass es mir wichtig war, ob sie sich für mich interessierte. Momentan stand meine Sicherheit an erster Stelle, nicht was irgendwer Gedanken sich über mich machte. Wann mutierte ich zu der Person, die ich war?
Warum lag mir so viel an ihnen, an ihrer Meinung über mich?
Ein Weg nach draußen gestaltete sich nicht gerade einfach. Die Straße lag mehrere Meter unter mir. Die Tür war verschlossen. Ich setzte mich auf, schaute aus dem Fenster. Der Erdboden begann drei Meter unter mir. Ich sprang nicht in die Tiefe, um noch mehr als meine Sicherheit zu riskieren. Denn wenn ich auf dem Grund lag, meine Knochen gebrochen, dann half mir meine Flucht auch nicht besonders viel.
An der Tür klopfte jemand kaum hörbar. Ich antwortete nicht. Meine Angst vor den kommenden Geschehnissen war zu groß. Sie fraß sich in mich, krallte mich wie ein Löwe eine Gazelle, entriss mir meine letzte Würde, nahm mir mein Selbstbewusstsein.
,,Eloise? Kann ich hereinkommen?" Die Stimme Imogens Mutter klang dumpf durch das Massivholz der Tür.
Ich krächzte ein ,,Ja"
Solange sie Cael nicht im Schlepptau hatte, machte mir ihr Kommen keine Angst.
Der Türknauf wurde einige Mal gerüttelt, dann entfernten sich wieder die Schritte von der Tür.
Panik beugte sich in mir auf. Machte sie das, um mich zu quälen? Um mich hinzuhalten? Was wollten sie hören, damit ich sie endlich zufrieden stellen konnte?
Ein paar Sekunden später hörte ich Stimmen, die eine Auseinandersetzung führten. Jemand eilte wieder zu meiner Tür.
Der Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt und die Tür öffnete sich endlich wieder. Imogens Mutter kam gerade soweit die Tür aufzustoßen, da ereignete sich vor meinen Augen eine Szenerie. Hinter dem Türrahmen stampfte Cael aus einem Raum, schrie auf ihre Mutter ein
,,Sie ist eine Mörderin!" Ihre Hand zeigte auf mich. Ihren Blick wandte sie von ihrer Mutter ab auf mich-
Ich saß weiterhin auf dem Fußboden, erdrückt von der Last ihrer Worte.
Wenigstens wusste ich, was sie von mir glaubte. Ich setzte die Puzzleteile zusammen, kombinierte ihre Aussagen. Ihr Kommentar, dass mir orange stand, ob ich wusste, was Imogens Todesursachen waren. Sie glaubte ich besaß Täterwissen oder das Wissen, das in dem Obduktionsberichten stand.
,,Ich rufe die Polizei an. Es kann wohl nicht sein, dass eine Mörderin unter unserem Dach lebt!"
Bevor Cael die Treppe herunter eilte konnte, reagierte ihre Mutter. Sie presste ihre Lippen zusammen, kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. ,,Eloise ist eine Freundin! Sie hat Imogen und uns nichts getan!"
Einzig Caels leiser schneller Atem vernahm man in diesem Moment. Selbst die Tränen, die sich in meinen Augen bildeten, verschwanden im Nichts.
Mittlerweile überfiel mich nicht mehr die Angst, sondern Mitgefühl. Trotz Caels falschen Verhalten mir gegenüber, verstand ich sie. Vielleicht hätte ich ähnlich reagiert, wenn Kenneth ermordet wurde.
,,Komm zu Verstand. Niemand will dir hier etwas tun!"
Die Schreie nahmen auch weiter ihren Lauf, als Imogens Mutter die Tür schloss. Anscheinend war es ihr peinlich vor einem Gast derart zu streiten.
Ich hätte nicht kommen sollen, ich hätte Imogens nach ihrem Leben suchen sollen.
Die Stimmen von draußen verstummten. Ein waberndes Schweigen, voller Emotionen schlackerte durch meine Tür. Ich verstand nicht, wie ihre Diskussion endete, obwohl mich ernstes Interesse packte. Cael würde nicht einer anderen Meinung sein, einzig allein wegen ihrer Mutters Meinung.
Ihre Mutter öffnete die Tür zaghaft. Ihr Augen schwillten und Blut unterlief sie. ,,Ich muss mich ehrlich für Caels Verhalten entschuldigen. Das ist nicht okay, wir werden sicher noch zu sprechen haben."
Ich nickte verständnisvoll. Ihr war offensichtlich die Situation genauso peinlich wie mir.
,,Wir alle haben Imogens Tod noch nicht richtig verarbeitet. Wir wollen daran arbeiten, aber wie du sehen kannst..."
,,Ich kann Sie vollkommen verstehen. ich nehme Cael ihr Verhalten nicht böse.", rechtfertigte ich mich.
Schließlich überwand ich mich und beichtete das Telefonat mit Aeryn und Aspen. In der Zwischenzeit setzte sich ihre Mutter sich auf das Gästebett und strahlte mich an.
Sie reagierte ganz im Gegenteil, als ich es von ihr vermutete.
Womöglich erinnerte sie sich an Imogen, wie sie damals auch so reagiert hätte.
,,Wenn sie wollen können sie bei uns mitessen und eine Übernachtung können wir bestimmt beschaffen. Seit Imogens Tod ist das Haus leerer, ein Teil fehlt. Ihr müsst euch auch keine Sorgen über Cael machen. Sie wird die nächsten Tage nicht mehr aus ihrem Zimmer kommen."
Ich lächelte sie an, sah zum ersten Mal seit meiner Ankunft Imogen in ihren Augen, beobachtete wie ähnlich sie sich waren. Sichtbar war es erst bei dem zweiten Blick. ich schloss Imogens Mutter in mein Herz, fand Platz für sie. Wir teilten unser Leid, vereint gegen die Vorwürfe.
Und trotz allem fürchtete ich mich vor Aspens und Aeryns Ankunft, denn ein ganzer Abend stand uns bevor.
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