
VIERUNDVIERZIG
Vor einem Jahr
,,Ich will dich nicht verletzen. Du hast alles, wonach ich je suchte."
Victoria strich sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Nase errötete aufgrund der Kälte, die hinter den Türen Wasser gefror. Möwen tanzten über unseren Köpfen, sangen uns ein Drama.
,,Wenn du mich nicht verletzen wolltest, warum warst du unehrlich?"
,,Allein für deine Sicherheit."
Ich seufzte. Unsere Konversation führte nicht dorthin, wohin ich sie mir zu Beginn erhoffte.
Die Wellen brachen an den Felsen der Klippen. Der Horizont erwies sich uns mit seiner vollen Breite. Winde rauschten über die Meere, wiegten den Ozean in den Händen der Lüfte.
Die Sonne verbarg sich hinter einem tiefen Wolkenmeer, zeigte sich als weißer Punkt am Himmelfeld.
,,Sag mir wer du bist. Sei aufrichtig und ich werde dir noch eine Möglichkeit geben."
Ich blickte in die Ferne, wünschte mich fort von diesem Ort. Victoria hielt mich nicht. Sie log, versprach mir Liebe und drückte mich in die Tiefe.
,,Helan Doyle."
Mein Herz brach in tausende von Stücken. Ich trug Hoffnung in ihnen, wünschte mir, dass ich einem Stück folgte. Doch welchem sollte ich nachjagen, wenn ich mir selbst Illusionen machte?
Mein Puls raste in meiner Brust, drückte sich gegen mich. Sie enthüllte sich mir in ihrer vollen Pracht. Zum ersten Mal, seitdem wir uns kannten, war sie transparent. Hinter ihrer Verdrossenheit trug sie Stolz und Gier. Helan durstete nicht nach mir, sie erwählte jemanden. Ihre Wahl fiel auf mich, machte mich zu ihrem Opfer.
Konnte ich sie unter diesen Umständen noch lieben? Wenn sie mich so hinterging, nicht von Anfang an sie sich vor mir aufrichtete?
,,Warum sollte ich dir glauben, dass du mich sichern willst? Woher weiß ich, dass du mich nicht noch einmal hintergehst?"
Unter ihren vielen Kommentaren suchte ich nach einer Struktur, wie sie vorging, welchen Schritts sie als Nächstes tat.
,,Wir sind Seelenverwandte. Vielleicht siehst du es noch nicht, aber ich kann es bereits spüren."
Ihre Worte klangen dreckig, als hätte sie diese viele Male ausgesprochen, als hätte sie darauf gewartet, um ihren nächsten Punkt auf einer To-do Liste abzuarbeiten.
,,Hör zu!" Helan schrie, verfolgte meinen Blick auf das Meer. ,,Konzentriere dich auf mich, ich will dich nicht verlieren. Nicht wegen eines dummen Missverständnisses, ich hätte dich früher aufklären sollen-"
,,Das hast du nicht und das ist mein Problem! Du präsentierst mir Lügen, ohne Schuldgefühle."
Tränen rinnen mir über mein Gesicht, trafen sich an meinem Hals.
,,Ich liebe dich." Helan nahm meine Hand. Ich ließ es zu, riss sie nicht von ihrer.
Vielleicht sehnte ich mich nach Halt, suchte in jemanden etwas, das ich nicht haben konnte.
Ich blickte die Klippen herab, wie die Fluten sich an der Felswand teilten, ihren letzten Ton von sich gaben, bis sie verhalten. Die Wellen kamen wieder, setzten sich neu zusammen.
In dem ersten Schuljahr machten wir eine Tour über das zulässige Gelände, dass die Schüler betreten durften.
Tutoren und Lehrer schulten uns der Tiefe der Klippen, die Gefahr, die von ihnen ausging und dass wir Sicherheitsabstand zum Rand halten mussten.
Ihre Formulierungen hingen mir noch in den Ohren. Sie sorgten sich um unsere Sicherheit, testeten uns, ob wir es verstanden. Damals bekam ich Gänsehaut.
In der Gegenwart veränderten sich meine Gedanken zu damals. Roisine stürzte sich von einer solchen Höhe in den Tod, wand sich dem Tod freiwillig zu.
Suizid stand in ihrem Bericht.
Mein Augenpaar huschte über die Felder, das Meer und das Waldstück, das besonders für das Internat angepflanzt wurde.
Als ich meine Hände aus Helans löste, zitterten sie. Nicht allein der Frost beschlich mich, kraulte über mich hinweg.
Roisines totes Gesicht schlüpfte aus dem Gedankenkarussell, ihre bleiche tote Haut, die sich über ihren Schädel spannte, ihre Augen, in denen kein Funken von Lebendigkeit schimmerte.
Augenblicklich wandte ich mich von Helan ab, ließ die Klippen, das tiefe Meer und meine Gedanken hinter mir.
Dass ich für wenige Sekunden meinen Tod wünschte, mir meine Nichtexistenz vor Augen führte und daran Gefallen fand, widerte mich an. Wie konnte ich das glauben?
Roisine wäre enttäuscht von mir, ich enttäuschte mich selbst.
Der Wind peitschte in mein Gesicht, fror meine Lippen aneinander.
Niemand spendete mir die Sicherheit, die ich brauchte. Keine Menschenseele konnte mir das geben, wonach sich mein Herz sehnte.
Das Wohnhaus wärmte sich mit den vielen Heizungen, die weit aufgedreht wurden. Ein Schwall von Schülern kam mir vor unserem Zimmer entgegen. Ich grüßte sie flüchtig und schloss die Tür auf.
Eloise lag in ihrem Bett, ihr Gesicht der Wand zugewandt. Ich zupfte an ihrer Decke, bis sie sich zu mir drehte. Ihre Augen quollen auf, sie schnäuzte in ein Taschentuch. Ihr Mascara verteilte sich weit über ihrem Gesicht, klebte ihr in den Augenwinkeln.
Ich rüttelte ihr, riss ihre Kopfhörer aus den Ohren.
,,Aspen sind deine Tränen nichts wert. Er liebt dich nicht, du musst dich besinnen!"
Auf meine Mitbewohnerin wirkte ich unwissend, naiv, aber ich wollte, nicht dass sie auch verletzt wurde. Helan brach mir mein Herz, Eloise in dem Zustand zu sehen, wie ich mich fühlte, zerbrach mich noch mehr.
Sie stemmte sich von ihren Kissen auf, folgte mir mit ihrem Blick. Ich nahm ihr Handy ab, verband es mit der Anlage und drehte die Musik auf. Es war ohrenbetäubend laut.
Unter Eloises Tränen lächelte sie mich an.
Womöglich erhoffte sie sich immer noch eine Zukunft mit Aspen, aber für diesen kurzen Augenblick konnte sie ihn vergessen, sich nicht an ihre Hoffnung klammern, von seiner Vorstellung loslassen.
Die Musik betäubte unsere Gedanken, wir vergaßen Helan und Aspen, schrieben ihnen in diesem Augenblick nicht unsere Zukunft zu.
Eloise sprang aus ihrem Bett, tanzte mit einem Strahlen auf ihren Lippen.
Ich vernahm meine Gedanken nicht, hörte nicht die Klippen nach mir rufen. Wir hüpften auf das Bett, bewegten uns zu der dröhnenden Musik. Trotz unserer Tränen in den Augen und dem Schmerz, der in unserer Brust zerrte, schmiegten wir uns der Musik an, wichen uns nicht aus. Wir hatten einander, wir genügten uns.
Nach einer Weile drehte ich die Musik ab, zog Eloise an mich in eine Umarmung, hörte ihr Schluchzen in meinen Ohren. In demselben Moment, in dem wir uns voneinander lösten, drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange.
,,Danke, Imogen."
Trauer malte auf ihren Wangen, zog sich über ihr Gesicht, malte ein Bild ihrer Einsamkeit.
Ich wollte sie nicht gehen lassen.
,,Ich muss etwas Wichtiges erledigen, ich komme wieder. Versprochen."
Wir verhakten unsere kleinen Finger miteinander.
In Hektik warf ich mir eine Jacke über und schlüpfte in meine Schuhe. Ich eilte den Gang entlang, spürte meinen Puls in meinen Venen pochen. Während ich die Gänge entlang schritt, wischte ich mir mit dem Handrücken die schwarzen Flecken des Mascara fort.
Auf der Rückseite meiner Hand zog sich ein langer schwarzer Streifen von Verzweiflung.
Ich wollte dem ein Ende setzen, mir ein Leben schenken.
In viel zu kurzer Zeit schenkte ich zu vielen Menschen mein Herz, reichte es ihnen auf einem goldenen Tablett. Ich hätte vorsichtiger damit umgehen sollen, wissen müssen, wen ich vertrauen durfte.
Remi und Victoria reichte ich meine Ehrlichkeit und sie machten daraus schonungslos Gebrauch, wrangen mich aus und ließen mich zurück.
Mein Herz zerfetzte in sich selbst, Überreste meiner Hoffnung für sie blieben übrig. Konnte ich mich davon erholen? In diesem Augenblick konnte ich mir nicht vorstellen, jemanden eine solch tiefe Zuneigung zu wenden.
Könnte ich mich selbst pflegen, mich heilen von den Missetaten?
Niemand, keiner in meinem Umfeld brachte Licht in meine Gegenwart, schaffte es meine Umstände zu verstehen, nahm sich Zeit, um mich zu verstehen.
Eloise wies als Einzige noch Verständnis auf, wandte sich mir zu und lauschte meinen Worten.
Ohne Bestimmung lief ich auf dem Gelände des Internats umher. Schüler musterten mich argwöhnisch, fragten sich, warum ich ziellos in der Gegend tobte.
Trotz den vielen Blicken auf mich, sahen sie durch mich hindurch, sahen einzig die Hülle, die ich um mich trug, einen Kokon, der mich schützte. Wie konnten sie auch wissen, wie ich mich fühlte, wenn sie mich sahen?
Mehrere Minuten huschte ich durch die Gänge, Arcaden und Wege, die um den Kern des Geländes führten.
Sie würdigten mich keines Blickes mehr, urteilten über mein Äußeres, ohne mich zu kennen.
Mit jeden Schritt, den ich nahm, verlor ich an Wert, hinterließ Spuren meiner Selbstzweifel. Es machte keinen Unterschied, ob ich existierte oder fehlte. An den Tagen, in denen ich krank im Bett lag, erfuhren nur wenige davon. Denn der Rest beschäftigte sich mit seinem Zirkel, ihren eigenen Angelegenheiten.
Jasmin wollte, dass ich mich so fühlte, dass das Elend sich gemächlich durch mich fraß, sich Zeit ließ, damit mir meine Schmerzen bewusst wurden.
Kirk steuerte unter all den Leuten direkt auf mich zu.
,,Geht es dir gut? Du rennst schon seit einer halben Stunde durch denselben Gang."
,,Alles gut. Mir geht es super."
,,Bist du dir dabei sicher? Willst du etwas trinken?""
Ich machte eine wirsche Handbewegung. ,,Du siehst da ein Missverständnis. Ich fühle mich sehr gut. Du musst dir keine Sorgen um mich machen."
Kirk runzelte die Stirn. Er wünschte mir einen schönen Tag und verschwand hinter der nächsten Ecke.
Zwischen den Strömen von Schülern bahnte ich mir einen Weg nach draußen. Die Gänge engten mich ein, zwangen mich in ein Stigma, in das ich nicht gehören wollte.
Meine fehlenden Aufgaben, Personen, mit denen ich längst wieder Kontakt aufnehmen hätte sollen, die Konversationen, die ich führen musste und Fragen, auf die ich Antworten suchte, lasteten auf mir.
Der Weitblick, den man von einem der Seitenausgänge erhaschen konnte, fasste mich, zog mich zu den Klippen.
Jasmin stand lange nicht mehr an der Stelle, wie zuvor. Ein paar Schüler, die ihr erstes Jahr im Internat verbrachten, betrachteten die Wellen, die an der Brandung auftrafen.
Ich lächelte ihnen flüchtig zu und warf einen letzten Blick in die Tiefe.
Wenige Schritte und ich wäre bei Roisine, könnte sie wieder in die Arme nehmen.
Kopfschüttelnd wandte ich mich dem Meer ein letztes Mal ab.
Ohne meinem bewussten Zutun stieß ich auf einen hinteren Eingang vom Internat. In meiner ganzen Schullaufbahn hatte ich sie nicht bewusst wahrgenommen. Bereits viele Male hatte ich mich vor den Türen bewegt, aber ihnen keine große Bedeutung zugeschrieben.
Abgesehen davon, wohin die Räume führten, sehnte ich mich nach Ruhe. Kein Geräusch durfte meine Ordnung brechen.
Vielleicht brauchte ich ein paar Sekunden Stille, um wieder zu mir zu kommen.
Meine Gedanken schwirrten, suchten sich einen Weg Struktur zu gewinnen.
Es blitzte auf, abrupt, ohne dass ich versuchte mich daran zu erinnern.
Im Kuvert wurden jene Gänge eingezeichnet, bereits damals waren sie mir unbekannt.
Womöglich fand ich in diesen Gängen eine Antwort auf Helans Auftauchen.
Ich drückte die schwere metallene Tür auf und schritt den schmalen Gang entlang, entgegen dem Licht, das aus verschiedenen Winkeln einstrahlte.
Einige Minuten später, als ich bereits tief in den Gängen verschwand, hörte ich ein Klicken. Die Tür fiel ins Schloss.
Unter diesen Umständen konnte ich nicht allein sein, Schatten folgten mir die engen Gänge entlang.
Schemen zogen sich lang hinter den Türen, die ich öffnete, Gefahr könnte mich in jedem Raum bedrohen und dennoch: Ein Grundverständnis, dass das Internat ein sicherer Ort war, blieb in meinem Hinterkopf, jagte nicht in meinen Ängsten hinterher.
Ich begann zu rennen, versuchte den Schatten zu entfliehen. Zuerst sah ich es als ein Spiel, dachte, dass mein Kopf mich überlistete. Die Schatten folgten mir, Schritte hallten direkt hinter mir nach. Zwischen den engen Betonmauern fand ich keinen Ausweg.
Die metallene Tür erschien wie ein Fiebertraum vor meinem inneren Auge.
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