SIEBZEHN
Selbst nach dem Flug ging es mir nicht besser.
Es wurde spät und ich lag erst um zwei Uhr in meinem Bett. Der Tag war stressig gewesen und ich hatte in nächster Zeit auch nicht vor ein Treffen mit Declan zu wiederholen. Meine Zeit war mir kostbar und gestern hatte ich sie verschwendet.
Auf dem Rückflug zurück hatte ich mir Notizen gemacht zu dem, was Declan gesagt hatte. Ein wenig Ordnung musste ich noch beibehalten. Ich durfte Erinnerungen an gestern so wenig wie möglich verlieren. Denn wenn ich nur ein kleines Detail vergaß, dann könnte es mir zum Nachteil kommen. Ich wusste, dass Victoria etwas vor uns versteckte. Aber was? Declan hätte eine große Hilfe für mich sein können, wenn er mehr gesprochen hätte.
Meine Schrift war unleserlich und die Tinte war verschmiert. Als ich aus dem Flieger ausgestiegen bin, regnete der Platzregen auf die Passagiere herab. Mein Rucksack war nicht wasserdicht und so gelangten ein paar Tropfen hinein. In meinem Notizbuch fanden sich nur noch wenige Seiten, die nicht vom Regen durchnässt wurden.
Ich war hilflos ohne meine Notizen, deswegen überlegte ich mir ernsthaft, was Declan brauchte, damit ich ihn zum Sprechen bewegte. Ich konnte ihn nicht aus dem Gefängnis befreien, außerdem stand das auch nicht zur Option. Er musste sich selbst retten.
Einige Minuten spielte ich alle Erinnerungen mit Declan durch meinen Kopf. Ich kannte keine Schwachstelle von ihm, die seine Verschwiegenheit lösen könnte. Ich hatte auch nicht vor ihn zu bestechen. Es musste simpel sein und mich trotzdem weiterbringen. Doch was? Was konnte ihn zum Sprechen animieren?
In meiner Anrufliste stand der Name meiner Schwester immer noch ganz oben. Ich tätigte kaum Anrufe und wenn. In eine solche Unannehmlichkeit brachte ich mich nur, wenn es sich um etwas Wichtiges handelte.
Aeryn kannte unseren Cousin besser als ich. Sie wusste, wie er tickte und was er wollte. Aeryn und er hatten auch ein gutes Verhältnis gehabt, damals als er noch kein Mörder war.
Meine Schwester schrie in das Mikrofon. Wahrscheinlich fuhr sie gerade mit der Tram durch die Stadt oder sie hatte ein paar Besorgungen zu erledigen.
,,Hi, Aeryn. Ich hätte ein paar Fragen an dich." Ich fühlte mich wie ein Kind in ihrer Gegenwart. Sie benahm sich im Gegenzug zu mir so erwachsen. Für sie war ich immer ihr kleiner Bruder.
,,Hey, beeile dich okay? Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.", erwiderte sie.
,,Was weißt du über Declan?"
,,Unser Mörder-Cousin? Ich kannte ihn nicht so gut, wie du es dir vielleicht erhoffst.", erklärte Aeryn.
,,Mir ist relativ egal, dass du ihn nicht so gut kennst. Ich will nur wissen, was du weißt."
Innerlich konnte ich vor mir sehen, wie meine Schwester am anderen Ende nickte und sich in der U-Bahn umschaute, ob jemand sie belauschte. Sie hatte schon immer Angst davor, dass jemand ihre Gespräche mithörte.
Sie begann zu erzählen. ,,Declan und ich waren noch ein paar Jahre gemeinsam auf dem Internat. Er hatte keine Probleme gemacht -soweit ich weiß. Ansonsten war er ziemlich unauffällig. Jedoch glaube ich nicht, dass dir das viel weiterhelfen wird."
Ich war enttäuscht von dem, dass sie mir nicht mehr erzählte. Jedoch hatte ich bei ihr nicht das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg, wie bei unserem Cousin.
,,Kannst du mir nicht ein wenig mehr erzählen? Irgendetwas was mir weiterhilft?", hakte ich nach.
,,Aspen, wie ich bereits gesagt hatte, weiß ich nicht so viel von ihm. Er war sonst jemand mit dem ich verwandt war, nichts Besonderes."
Ich lag quer über meinem Sofa und starrte an die Decke. Erst einmal musste ich alles verarbeiten, was mir Aeryn erzählt hatte. Es war nicht viel und es war auch nichts dabei, das besonders herausstach. Und dennoch hoffte ich, dass ich irgendein Muster zwischen all den Fakten finden konnte. Es gestaltete sich als schwierig. Einen einfachen Zusammenhang konnte ich nicht finden.
Jedoch erhoffte ich mir mehr von Aeryn. Sie hatten für einen kurzen Zeitraum viel Kontakt gehabt und wenn der nur aus Smalltalk bestand, dann war es enttäuschend. Von ihr hatte ich mir wenigstens erhofft, dass sie Informationen hatte, die seine Taten erklärte. Etwas was mir half ihm zum Sprechen zu bringen.
,,Warum rufts du überhaupt nach so kurzer Zeit wieder bei mir an? Normalerweise machen wir das doch nicht so." Zwar verzerrte sich ihre Stimme, aber trotzdem hörte ich ihre Verwunderung heraus.
Ich wusste nicht recht, wie ich es ihr erklären konnte, ohne einen Vortrag zu erhalten. Ich hatte gute Lust an dieser Stelle das Telefonat zu beenden, aber das war Aeryn gegenüber nicht fair. Ich konnte nicht einfach so einen Rückzug machen, nur weil ich es so wollte.
Es kam noch hinzu, dass ich es nicht darauf abzielte auffällig zu sein. Sie sollte nicht denken, dass ich Declan wieder zu unserer Familie dazuzählte. Denn er war weit davon entfernt wieder aufgenommen zu werden.
,,Gestern habe ich Declan in Dublin besucht." Meine Stimme war brüchig. Ich wollte es ihr nicht so erklären. Sie sollte es nicht so erfahren.
Aeryn keuchte laut auf. Ich hörte ihre Enttäuschung. Ich half keinem Mörder, falls sie das dachte. Ich wollte es mir nur etwas einfacher machen an Informationen zu gelangen.
,,Ich weiß nicht, inwieweit ich dir mit ihm helfen kann.", ergänzte sie.
,,Es ist mir wichtig. Und umso weniger Fragen du stellst, desto einfacher ist es für dich."
Aeryn hakte mehrmals nach. Sie wollte wissen, was ich so plötzlich mit Declan zu tun hatte. Immerhin hatten wir einen Altersunterschied von sechs Jahren. Zudem war er inhaftiert.
,,Was glaubst du, kann ihn zum Sprechen bringen?", unterbrach ich einer ihrer vielen Fragen. ,,Freiheit kann ich ihm nicht bieten. Aber ich brauche ein wirksames Mittel, das ihn reden lässt.", fügte ich hinzu.
,,Mir ist klar, dass du mir etwas verschweigen willst. Aber ich biete dir nur meine Hilfe an, wenn ich die ganze Wahrheit kenne."
Sie brachte mich in ein Dilemma, das ich überhaupt nicht verursachen wollte. Mir war klar, worum es ihr ging und, dass sie mir nur so helfen konnte. Dennoch erhoffte ich mir, dass sie es nicht für eine große Sache hielt.
,,Kennst du Victoria Hearst?" Mich kostete es Überwindung sie direkt zu fragen. Denn mir war bewusst, dass Aeryn nach dem Telefonat sofort ihren Namen googelte.
,,Nein, noch nie gehört." Sie machte eine Pause, dann schnappte sie laut nach Luft. ,,Ist das deine kleine Liebhaberin?"
Verwundert verzog ich mein Gesicht. Es hätte mir bewusst sein müssen, dass sie auf eine solche Idee kam. Jetzt wird sie erst recht nach Vickys Namen suchen.
,,Nein, es ist wirklich nicht so wie du denkst."
,,Und ob es so ist!"
In mir begann meine Wut zu kochen. Warum konnte meine große Schwester mir nicht einfach so glauben? Victoria und ich waren keine Option und wenn Aeryn sie kennen würde, dann wäre sie auch davon überzeugt.
Am anderen Ende der Leitung hörte ich Aeryns helles Mädchenlachen. Sie glaubte mir wirklich nicht. Am besten bestritt ich es nicht, dann konnte nicht noch mehr davon überzeugt sein.
Wir verabschiedeten uns voneinander.
Ich trat auf der Stelle. Aeryn war mir keine Hilfe gewesen und bei meinen Eltern werde ich sicher nicht nachfragen. Es gab niemanden, der Declan noch besser kannte als Aeryn oder ich. Seine Eltern waren ausgeschlossen. Sie würden bestimmt denken, dass ich etwas Illegales vorhatte und deswegen die Hilfe ihres Sohnes benötigte.
Wie bereits so oft in dieser Woche tippte ich Victorias Nachnamen in die Sucheingaben-Leiste ein. Langsam bauten sich Ergebnisse vor mir auf. Es waren wieder und wieder dieselben Artikel. Es waren Randnotizen. Nichts, was für mich wichtig sein könnte.
Ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich so besessen von ihr war. Womöglich war sie auch nur eine normale Einsteigerin. Jedoch hegte ich Misstrauen ihr gegenüber bereits von Anfang an. Ich wollte ihr nicht trauen, weil ich wusste, dass etwas faul war.
Obwohl es Artikel einblendete, die ich bereits gelesen hatte, scrollte ich weiter hinunter. Nichts war zu finden. Ich setzte ihren Vornamen wieder ein und wartete auf die Vorschläge.
Sie war eine nichtssagende Adlige (was an unserem Internat nicht selten vorkam) und sie hatte ein paar Verwandte in ganz Europa. Mir fiel nichts Besonderes ins Auge. Victoria wies keinerlei Besonderheiten auf. Sie könnte genauso gut nicht existieren und es würde sich auch nicht viel daran ändern. Womöglich musste ich mit dem Gedanken abfinden, dass sie nicht der Mensch war, für den ich sie hielt.
Nach einiger Zeit entdeckte ich ein Detail. Es fiel mir nicht sofort auf, denn es war nicht auffällig. Victoria besaß keinerlei Social Media. Nicht, dass es allzu verwunderlich war, aber dennoch fühlte es sich seltsam an. Fast jedes Mädchen am Internat besaß auf irgendeiner Plattform ein Profil. Sie liebten es ihren Namen in die Welt zu setzen, damit es jeder lesen konnte, dass sie ein Vermögen auf ihrer Seite hatten.
Außerdem konnte ich keine Information zu ihrer Person finden. Entweder wurde nur ihre Schwester erwähnt oder keiner der beiden. Es war so, als ob sie kein Teil der Familie Hearst war. Victoria existierte in ihrer Welt nicht.Vicky wurde immer mehr zu einem Mysterium.
Die Möglichkeit bestand, dass ich Coy nach ihr fragen konnte. Immerhin waren sie ein inoffizielles Paar. Er müsste ein paar mehr persönliche Informationen über sie kennen. Doch fragen werde ich ihn nicht. So wie ich Coy kannte, wusste ich, dass er glaubte, dass ich seine Freundin ausspannen wollte. Dass ich an ihr Interesse hatte, lag auf der Hand, aber nicht auf eine romantische Art, wie Coy es vermuten könnte.
Vielleicht gab es einen Grund, warum Aeryn Victoria nicht kannte. Womöglich hatte Vicky keinen Namen.
+++
Eloise ignorierte mich. Sie wich mir buchstäblich aus und ich hatte so gut wie nie die Chance etwas daran zu ändern.
Heute wendete es sich. An diesem Tag schaute sie mir in die Augen und ging mir nicht aus dem Weg. Ich hatte keine Ahnung von dem, was in ihrem Leben vor sich ging, aber ich blieb auf der sicheren Seite, wenn ich sie nicht danach fragte.
Trotzdem verletzte es mich. Ich ließ es mir nicht anmerken, denn es war nichts Besonderes und es wird sowieso gleich vorüber sein. Hatte ich etwas falsch gemacht? Lag es daran, dass ich aus der Bibliothek gegangen war, während sie noch nicht fertig mit Lernen war? Jedoch verstand ich nicht, dass ich aus einem so simplen Grund eine solche Strafe verdiente. Es war nicht gerechtfertigt. Hatte sie mich oder ich sie falsch behandelt?
Anfangs hatte ich noch gehofft, dass aus uns noch Freunde werden können. Ich stellte es mir einfacher vor. Aber sie machte es mir so schwierig ihr näher zu kommen. Das schloss automatisch aus, dass wir Freunde werden konnten.
Zufällig sah ich sie nur ein paar wenige Meter von mir stehen. Sie stand mitten im Gang und wandte sich ihrem Spind zu. Ihre Haare hatte sie heute zu einem Dutt zusammengebunden aus denen Strähnchen fielen, die sie hinter ihr Ohr schob.
Es war richtig, dass ich die Initiative ergriffen hatte. Ich nahm die wenigen Meter zu ihr.
,,Hi." Sie drehte sich direkt zu mir um, bevor ich zu sprechen beginnen konnte.
,,Hey. Warum ignorierst du mich?" Es war nicht meine Absicht so besorgt zu klingen. Ich wollte nicht, dass sie dachte, dass sie mich so viel kümmerte, dass ich sie danach fragte. Sie sollte nicht denken, dass ich mich für sie interessierte. Denn das tat ich.
Eloise staunte Bauklötzchen als die Worte aus meinem Mund kamen. Offensichtlich hatte sie es nicht erwartet. Eine kurze Stille breitete sich zwischen uns aus.
,,Ich ignoriere dich nicht." Von einer Entfernung von mehreren Metern könnte man sehen, dass sie es nicht so meinte.
Die darauffolgenden Erklärungen fielen einsilbig aus. Während sie ihre Sätze zurechtlegte, hielt ich ihren Blickkontakt aufrecht. Sie war verunsichert. Augenblicklich fühlte ich mich schlecht, dass ich sie in eine solche Lage brachte.
Jedoch ließ mich einer ihrer Aussagen aufhören. ,,Du hast nichts falsch gemacht, falls du das denkst."
Sie dachte, dass sie mich verunsicherte.
Und sie hatte recht.
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