SECHSUNDVIERZIG
Ich wachte auf. Die langanhaltende Starre löste sich.
Kirks und Aspens Gesichter kreisten in meinem Kopf. Ihre eindringlichen Blicke lagen auf mir, warteten ab.
Für einen kurzen Augenblick dachte ich an Suizid, das kommende nichts, dem man sich freiwillig fügte. Opfer gingen aus, dass ihr Schmerz erst mit ihrem Tod genommen wurde, dass sie ohne Grund existierten.
Kirk schnaubte. Seine Augen waren immer noch verschleiert, boten keinen Einblick in sein Innenleben. Seine Gedanken konnte ich nicht ablesen, Gleichgültigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, malte ein Bild von Kälte.
,,Warum bringt man eine Reihe von Mädchen um?", fragte ich.
,,Femizide?"
,,Kannst du dir das vorstellen? Natürlich kommen sie öfters vor, aber warum so offensichtlich an einem Internat, vor den Augen aller Anderen?"
,,Verbreitung von Hass?" Kirks Erklärung leuchtete mir ein.
Unser Internat, der Mittelpunkt vieler Elternhäuser, dem Hautevolee Morde beizupflichten, verbreitete eine Nachricht, konnte die Misogynie schüren, sich wie ein Lauffeuer verbreiten.
Die Presse befand sich im Haus, Maulwürfe lebten unter uns. Durch die Popularität des Institutes konnte sich der Hass verbreiten, sich durch die Reihen der Gesellschaft fressen, einen schlechten Einblick bieten oder auch Unwissende auf Ideen bringen.
,,Erkennen wir sonst noch ein anderes Motiv?"
,,Mabel und Imogen waren miteinander befreundet. Jedoch sehe ich nicht den Zusammenhang zwischen ihnen. Wussten sie etwas?"
Aspen räusperte sich. ,,Ich glaube nicht, dass sie aufgrund dieser Tatsache starben. Sie hängen zusammen -auf jeden Fall. Aber bestimmt nicht so, wie wir denken."
,,Warum bist du dir so sicher? Bald ist Imogens Gedenktag, die Morde sind nah aneinander, bloß in verschobenen Jahren."
,,Findet etwas in Gedenken zu ihr statt?" Kirks Miene verfinsterte sich, ahnte meine Antwort bevor.
,,Soweit ich informiert bin, wird an ihr in einer Durchsage gedacht, aber eine Zeremonie oder ähnliches wird nicht vollzogen."
Mein Klingelton schallte durch den Raum, löste uns aus unsrer Blase, riss uns von unseren Spekulationen.
Victorias Name erschien auf dem Bildschirm. Obwohl mein Körper nach Schlaf und Ruhe ächzte, nahm ich ab.
Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein Schluchzen. Tränen liefen ihr Gesicht herab, sie tupfte sie mit einem Taschentuch ab.
,,Kannst du in unser Zimmer kommen? Ich brauche dich."
,,Wofür?"
,,Als eine emotionale Stütze. Ich kann das nicht mehr allein durchstehen." Victoria schnäuzte in ein Taschentuch.
,,Um was handelt es sich?"
,,Die Gerüchte über Mabel machen mich kaputt. Wir haben uns gesehen und jetzt ist sie tot! Eloise ich mache mir Vorwürfe!"
,,Alles wird gut. Ich verspreche es dir, sicher wird sich bald alles bessern."
Wir tauschten noch wenige Floskeln aus und verabschiedeten uns voneinander.
Meine Stimmung, die bereits vor dem Telefonat in sich verwelkte, krümelte sich dem Boden gleich. Mein Herz schlug weniger schnell und ich hatte den Mut zu weinen, meine in mir empfundenen Gefühle ein Bild meines Frusts zu malen.
,,Du solltest aufhören, hinter ihr aufzuräumen." Aspen fokussierte mich. ,,Sie kümmert sich auch nicht um dich."
,,Aber wenn es ihr tatsächlich schlecht geht."
,,Wo ist sie, wenn es dir nicht gut geht?"
,,Aber-"
,,Sie würde nicht für dich Zeit machen und das weißt du"
Kirk ignorierte Aspens und meine Auseinandersetzung. ,,Der Mörder ist entweder ein Schüler oder ein Lehrer. Die Fahrzeiten sind zu lang, dass ein Außenstehender hier eindringen würde."
Ein kalter Luftzug fuhr durch den Raum, weckte unsere nackte Haut auf, dass sich unsere Härchen aufstellten.
,,Meiner Meinung nach sollten wir den Zusammenhang zwischen Imogen und Mabel begreifen. Sie könnten uns auf direktem Wege zum Mörder führen."
Aspen zögerte, runzelte seine Stirn, nachdem ich aussprach. ,,Ich will zwar nichts gegen deine Vorhaben sagen, aber wir haben in einer Woche unsere Abschlussprüfungen, wir haben keine Zeit dafür. Wir sollten uns stattdessen mit unserer Zukunft beschäftigen."
Er brachte sein Totschlags Argument hervor. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Mein Abschluss war meine höchste Priorität und ich sollte sie nicht kurz davor ändern. Wir lernten an dem Internat, wir wurden nicht bezahlt für unsere Spekulationen.
Trotzdem blieben Imogen und Mabel unsere Freunde. Schlechtes Gewissen nistete sich in meinen Kopf. Mein Abschluss war wichtiger als ihr Leben?
,,Meiner Meinung nach werden Morde folgen. Nächstes Jahr um diese Zeit wird es eine dritte Leiche geben, wenn nicht schon früher." Meine Augen wanderten aus dem Fenster, hinaus auf das weite Meer, das hinter den Scheiben lag.
,,Ich stimme Eloise zu. Es ist ein Wiederholung Mörder, dessen Ziel wir bis jetzt nicht erkennen können. Aber nach meiner Intuition verbirgt sich eine Absicht dahinter."
,,Meiner Meinung nach existiert ein Zusammenhang zwischen Imogen und Mabel. Sie werden nicht grundlos hintereinander an den fast identischen Daten getötet."
,,Das wissen wir, Kirk." Ich verdrehte die Augen.
Meine Augenlider flatterten. Die Augenringe, die sich auf meinem Gesicht abzeichneten, konnte ich heute Morgen nur schwer abdecken.
,,Du meinst, dass der Täter nächstes Jahr um dieselbe Zeit zuschlagen wird?"
,,Korrekt. Wir besuchen nicht mehr das Internat und vielleicht ist auch unter diesen Umständen der Täter nicht mehr anwesend. Vielleicht war Mabels Tod der letzte oder die Eröffnung zu einer neuen Serie."
Aspen setzte sich auf und sammelte die Dokumente auf seinem Tisch zusammen, heftete sie ab und verstaute sie in Fächern. ,,Hast du sonst noch etwas gehört? Ein anderes Gerücht über Mabels Mord?"
,,Suizid wird nicht ausgeschlossen." Kirk seufzte. ,,Aber das ist nicht alles. Der Hausmeister hat ein schulfremdes Kuvert an der Schule gemeldet."
Ich blickte zu Aspen auf. Er erstarrte in seiner Haltung für einen kurzen Moment, schließlich befasste er sich wieder mit seinen Dokumenten.
,,Wie kam der Hausmeister zu diesem Fund?", fragte ich.
,,Er hat die Fächer der Lehrer aussortiert, eines der, der abwesend ist. Sortierungsarbeiten."
,,Ist das ein Zufall oder geplant? Hängt das Kuvert mit Mabel oder Imogen zusammen?"
Mittlerweile lebte Aspen in seinen eigenen Gedanken, folgte unserem Gespräch kaum.
,,Du gehst meist davon aus, dass ich mehr als die Polizei weiß, aber ich kann genauso viel wie du spekulieren."
Kirk stand ebenfalls auf und bewegte sich zu Aspens Kleiderschrank. Er tastete den Boden ab. ,,Du hast immer noch Coys Zeug?"
Er wandte sich zu Aspen.
,,Ich kann es nicht wegwerfen, oder? Es hat seinen Wert und wir sind halbwegs noch befreundet."
,,Dass du so viel Vertrauen in ihn hast, dass er dich nicht verpfeift." Kirk grinste und schüttelte seinen Kopf langsam.
,,Was ist der Inhalt des Kuverts?"
Kirk sprang auf und ließ sich wieder neben mich fallen. ,,Das ist das eigentliche Interessante: Eine Schülerin hat durch Wege erfahren, dass es sich um gefährliche Inhalte handelt. Anscheinend. Ich würde auf diese Quelle nicht besonders viel geben, aber sie selbst ist stark davon überzeugt."
,,Aspen? Kannst du mir das Buch reichen?"
Ich übersprang mehrere Seiten des Tagebuchs, bis ich auf den letzten Eintrag stieß.
Imogen vervollständigte damals nicht ihren Satz, ließ die Worte leer vor sich stehen. Sie schenkte ihren letzten Worten keine Bedeutung.
,,In Imogens Tagebuch schrieb sie als Letztes von einem Mädchen. Sie hat sie hintergangen, betrogen. Jedenfalls behauptet Imogen das in ihrem Eintrag. Sowieso handeln die letzten Seiten nur von diesem Mädchen, nicht Remi, sondern einer sie. Ihr Name wird nicht genannt, keine Beschreibung ihres Aussehens."
,,Was ist damals tatsächlich zwischen Remi und Imogen passiert? Haben sie sich vor ihrem Tod getrennt oder ist das nur ein Mythos?"
,,Ich war anwesend, hörte ihre Argumente. Jedoch ist mir bewusst, dass Remi eine Zeit lang etwas anderes behauptete, noch meinte, dass sie ein Paar waren bis in ihren Tod. So ein Arschloch."
Aspens Schreibtisch bedeckte kein Blatt und kein Buch mehr. Er setzte sich wieder.
,,An das Mädchen kann ich mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich trug sie ein Alltagsgesicht, kein Erkennungsmerkmal. "
,,Warum kannst du dich nicht mehr erinnern?" Aspen betrachtete mich hochgezogenen Augenbrauen.
Ein Film von Worten schwebten an meinem inneren Auge vorbei, wusste nicht, ob ich sie in Sätze formen sollte.
,,Verdrängung."
Die ersten Wochen versuchte ich Imogen zu vergessen, sie in Vergessenheit zu drängen, ihre fehlende Anwesenheit zu ignorieren.
Erinnerungen gewannen an ihrem Wert, umso älter sie wurden. Mit jedem Tag klammerte ich mich an die Fetzen, rief mir jeden Zentimeter ihres Gesichts zurück in mein Gedächtnis.
,,Das ist nicht so schlimm, Erinnerungen können zurückkommen und selbst wenn sie es nicht tun, werden wir trotzdem einen Weg finden."
Aspen lächelte mich matt an. Wärme kribbelte meine Fingerspitzen bis in meine Wangen herauf.
,,Unter anderem muss die Existenz dieses Mädchens nichts für Imogen bedeuten."
,,Und wie erklärst du dir das?" Ich deutete auf das Datum des Eintrags.
Der Tag, der mir Imogen nahm, mir die Kontrolle entriss.
,,Zwar habe ich nicht damit gerechnet, aber weiterhelfen kann ich dir vorerst nicht damit." Kirk stemmte seine Arme in die Knie und stand auf. ,,Wenn ich mehr Informationen besitze, dann werde ich euch damit informieren, aber vorerst muss ich lernen."
Die Härchen auf meiner Haut stellten sich auf. Die Abschlussprüfungen hatte ich fast verdrängt. Ich musste lernen, damit ich die nötige Reife für eine Universität besaß.
Mein Drang ebenfalls Aspens Zimmer zu verlassen und mich auch meinen Studien hinzugeben, war zu groß. Für all die neuen Informationen brauchte ich Zeit, die ich nicht besaß.
,,Ich sollte auch gehen. Für die Prüfungen will ich schließlich vorbereitet sein." Mit einer Handbewegung deutete ich zur Tür.
Er holte nach meiner Hand aus, zog mich mit einem leichten Druck zu sich. ,,Wir wiederholen das von vorher, wenn der ganze Stress vorbei ist, okay? Außerdem haben wir noch ein Date."
Mit einem Grinsen auf den Lippen strich mit meinen über seinige.
Das Adrenalin in meinen Arterien gelangte in fliegender Eile in mein Herz, mein Puls sprang und Schweiß brach mir aus.
,,Halte mich nicht vom Lernen ab."
Ich warf ihm noch ein letztes Lächeln zu, dann schloss ich die Tür hinter mir.
Die Welt aus Imogens Perspektive zu betrachten, Tage neu aus ihrer Sicht zu erleben, war ein einzigartiges Erlebnis. Ihre Gedankenwelt funktionierte anders als meine, widerspiegelte sich in ihrem Schreibstil.
Victoria blickte von ihren Arbeiten auf, als ich das Zimmer betrat. ,,Was liest du?"
,,Nichts Wichtiges."
,,Du kannst jederzeit mit mir sprechen, wenn du willst. Ich bin für dich da."
Missmutig ließ ich mich auf meinen Holzstuhl sinken und ließ das Tagebuch in eine Spalte meiner Fächer rutschen.
,,Weißt du, wo Kirk ist? Ich muss mit ihm über Mabel sprechen. Offensichtlich verweigern andere ein Gespräch unter Freunden."
Victoria funkelte mich an.
Misstrauen wuchs.
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