FÜNFZEHN
Vor einem Jahr
Mein Laptop surrte beim Hochfahren.
Viel zu viele Gedanken huschten mir durch den Kopf. Befand sich etwa verbotener Inhalt auf der CD? War ich nur jemand, der eine Haltestelle war? Das machte keinen Sinn. Warum wurde dann mein Bild aus dem Jahresbericht gerissen? Nein, es konnte nicht sein.
Ich musste die Wahrheit kennen und man konnte mich nicht mit wenig zufrieden stellen. Es durfte nicht sein, dass sich die Wahrheit unter vielen Lügen befand. Doch was passierte, wenn der Inhalt komplett harmlos war?
Ich fischte die CD aus dem Umschlag und legte sie ein. Die Datei erschien direkt vor mir.
Meine Hände zitterten und ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Ich musste das nicht machen. Ich könnte die CD und den kompletten Inhalt des Kuverts wegwerfen. Früher oder später würde das ganze Spiel in Vergessenheit geraten und ich konnte meine Ruhe haben. Es lag sicher nicht daran, dass ich Panik davor hatte mich mit etwas so Unbekannten dermaßen zu beschäftigen.
Es war schwierig sich zu beruhigen. Einatmen. Ausatmen. Ich schaffte das. Was wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte?
Unfreiwillig malte ich mir Bilder im Kopf davon aus zudem was alles möglich wäre.
Mit einem einfachen Mausklick überwand ich mich dann schließlich doch. Es war kurz und schmerzhaft und ich wusste, dass ich nicht vorankam, wenn ich nur weiterhin auf den Bildschirm starrte.
Vor meinen Augen öffnete sich eine Diashow. Tante Roisine war auf jeden der Bilder zu sehen.
Das erste Bild zeigte sie in ihrem roten Regenmantel. Ich kannte die Bilder und deren Geschichte dahinter. Sie war vielleicht sechs oder sieben auf dem ersten Bild. Die Haare flogen in ihr Gesicht und trotzdem verzog sie ihr Gesicht zu einem breiten Lächeln.
Die Diashow bewegte sich vom einer Lebensphase zur nächsten. Man konnte sehen, wie Roisines Leben auf einer so simplen Diashow dahinschwand. Ich war nicht traurig als ich es sah, noch belastete mich das Material.
Auf jedem Bild lächelte sie in die Kamera. Sie strahlte und machte mir einen überaus glücklichen Eindruck.
Von den Kinderbildern bis zu ihrer Hochzeit und verschiedenen Feiern, bei denen sie im Nachhinein teilnahm, wurden eingeblendet.
Es war schön sie so zu sehen. Vielleicht war das ganze Spiel nur ein Trost für mich? Womöglich wollte mich jemand an meine verstorbene Tante erinnern. Eigentlich fand ich die Idee schön, aber warum auf einem so komplizierten Weg? Es konnte einfacher gehen als so, wie es umgesetzt wurde.
Doch die Feiern gingen immer mehr dem Ende zu. Ein Sarg war zu sehen. Ich kannte ihn. Die Diashow war wohl keine freundliche Erinnerung, sondern etwas anderes, das mir viel zu schnell die falsche Richtung ging.
Die da vorige Gelassenheit und in Grenzen haltende Fröhlichkeit war verflogen.
Widerwillig ging ich zu dem nächsten Bild der Diashow weiter mit der Vermutung, dass dies das Ende sei.
Jedoch war der Sarg nicht das letzte Bild. Das leichenblasse Gesicht meiner Tante bildete sich auf dem Bildschirm ab.
Ich schrie auf und schloss das Fenster mit einem Klick.
Minutenlang flossen Tränen über meine Wangen. Das Bild hatte Roisine in ihrem Sarg abgebildet. Ihre Augen waren geschlossen, dennoch war ihr Tod so allgegenwärtig. An ihrer Beerdigung verabschiedete ich mich von ihr, nicht vor einem offenen Sarg.
Mit zehn war das mir viel zu einschüchternd gewesen und meine Mom wollte es auch nicht. Schon seltsam, dass man ein Bild von ihr als Leiche machte. Sie war nicht lebendig auf dem Foto. Warum kam man auf eine solche irrsinnige Idee?
Mein Magen zog sich zusammen und fiel in meine Kniekehlen. Schlagartig wurde mir übel. Meine Tante war tot. Sie wird mich nicht mehr in den Armen halten wie damals. Ich hätte noch so viel mehr Zeit mit ihr verbringen müssen. Aber wer hätte gedacht, dass es so schnell endete?
Meine Atmung wird langsamer. Das ringen nach Luft ließ nach. Die Tränen kamen vereinzelt. Das Kratzen in meiner Kehle ebbte ab.
Die Nebelwölkchen, die meinen Geist verdeckt hatten, schwanden, umso klarer wurde mir, dass die Bilder nicht irgendwoher kamen. Der Besitzer des Kuverts hatte sie an sich genommen oder viel schlimmer: Er besaß die Bilder der Leiche meiner Tante.
Ich war angewidert von dem Verhalten. Das konnte man nicht ohne einem Hintergedanken machen. Es musste jemand der Gäste gewesen sein. Vielleicht war die Person früher als die anderen Besucher da und hatte dann das Bild geschossen?
Je länger ich mich mit dem Gedanken beschäftigte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es jemand war, den ich kannte.
Mit einem guten Gewissen nahm ich die CD aus dem Spieler heraus. Ich werde kein weiteres Mal mir die Diashow antun.
Wie konnte ich nur denken, dass sie aus einer guten Intention heraus entstanden war? Zuerst dachte ich, dass der Besitzer mich aufforderte, dass ich mich zurückerinnern sollte. Aber jetzt? Nun war mir bewusst, dass es nicht nur um mich ging.
Tatsächlich begann ich mich vor dem Kuvert zu fürchten. Irgendjemand musste in meiner Familien Geschichte so gut recherchiert haben, dass er oder sie herausgefunden hatte, dass ich eine Rolle am letzten Tag von Roisine gespielt hatte. Die Person wusste, wie viel mir an ihr lag. Und es machte mir umso mehr Panik zu wissen, dass jemand sich so sehr in mein Privatleben eingemischt hatte, dass er selbst die kleinsten Details wusste. Hatte ich einen Stalker?
Ich war nicht mehr fähig dazu allein damit zurecht zu kommen. Ich brauchte Hilfe und jemanden mit dem ich über das Kuvert sprechen konnte. Denn wenn noch weiter so viel Zeit mit dem Inhalt des Umschlags verbrachte, dann könnte ich mich damit irre machen. Anfangs vermutete ich, dass es harmlos war. Der Friedhof war mir schon suspekt gewesen, aber die Diashow hatte mir den Rest gegeben. Das war nicht normal. Eigentlich sollte ich gar nicht in eine solche Situation kommen.
Es bestand die Möglichkeit Remi um Hilfe zu bitten. Aber das konnte ich jetzt nicht machen. Nicht nach meinem Entscheid mit ihm Schluss zu machen. Das würde die Trennung nur noch schwieriger machen und im schlimmsten Fall erzählte er weiter, was in dem Umschlag stand. Das würde dem Besitzer und auch mir nicht gefallen. Man würde mich für abergläubisch halten.
Eloise könnte ich auch fragen. Immerhin erzählten wir uns schon immer viel, da würde das keine große Rolle spielen. Jedoch dachte ich daran, wie sensibel sie auf nur ansatzweise auf Unbekannte Dinge reagierte. Sie würde bei nichts mitmachen, bei dem sie sich nicht auskannte. Das hieß wohl, dass ich diese Option ausschließen musste.
Bei Eloise und selbst bei Remi wollte ich nicht eine solche Last auferlegen. Das würde sie nur genauso kaputt machen wie mich. Denn mittlerweile war der Besitzer nicht mehr das Thema in den Dokumenten. Es handelte von Roisine und mir. Warum musste es so sein? Irgendjemand wollte mir damit etwas mitteilen. Zu Beginn glaubte ich, dass es nur ein Rätsel war, das ich lösen musste.
Nein, das war vollkommen ausgeschlossen. Warum war auf den ersten Seiten des Hefts eine Medikamentenpackung? Ich kam zu dem Entschluss, dass es sicher kein Rätsel war, sondern die Lösung bereits auf der Hand lag. Jedoch hatte ich noch nicht am richtigen Ort gesucht.
+++
Ich vergrub mich in die kalten Laken meines Bettes. Ich zitterte und zog den Saum der Decke noch weiter zu meinem Kinn.
Es war schon später Nachmittag und ich hatte den ganzen Tag weggeworfen. Es war nicht einfach. Denn ich hätte lernen sollen. Immerhin schrieben wir am darauffolgenden Tag die Arbeit, für die ich die Lösungen brauchte.
Vor meinem inneren Auge schwebte das tote Gesicht meiner Tante. Es machte mir scheußliche Angst daran zu denken, dass jemand sie einfach auf ihrem Totenbett fotografiert hatte. Das war abnormal. Wer auch immer das gewesen sein musste, er hatte einen Grund ein Bild von ihr aufzunehmen.
Ich versuchte einzuschlafen, um mich nicht mehr zurück an sie erinnern zu müssen. Natürlich hatte ich sie geliebt, aber ich konnte mich nicht ständig mit dem Tod befassen. Denn davor hatte ich Panik. Das ewige Nichts, das kommen wird und der Gedanke daran, dass nichts mehr sein wird, machte mir Angst.
+++
Ich hätte mich besser fühlen sollen. Es erging mir grauenvoll. Das tote Gesicht meiner Tante fraß sich immer mehr in meinem Kopf und ich konnte mich kaum noch auf etwas konzentrieren. Alles lag bei ihrem Tod. Doch ich wollte nicht daran denken. Jedenfalls nicht ständig. Irgendwie muss ich mich noch durch mein eigenes Leben lenken, was sich viel schwieriger gestaltete, wenn einem ein Profil vor Augen schwebte, dass keinerlei Anzeichen von Lebendigkeit machte.
Mit Remi hätte ich längst Schluss machen müssen. Ich hätte ihm sagen sollen, wie ich mich in unserer Beziehung fühlte und nicht außen herumreden sollen. Ich verfluchte mich selbst dafür. Ich würde ein kleines Stück Freiheit zurück erringen, wenn ich ihm sagen würde, wie es um uns stand. Denn unsere Beziehung gefiel mir momentan nicht und wenn es weiterhin funktionieren sollte, dann musste sich etwas verändern.
Jedoch hatte ich bei ihm nicht das Gefühl mich verstellen zu müssen. Ich war für ihn nicht irgendjemand unter vielen. Das machte es mir nur noch schwieriger es zu beenden. Losgelassen hatte ich bereits vor Monaten. Jedoch musste ich erst realisieren, was sich abspielte, damit mir wirklich bewusst war, was ich tun musste.
Es war glasklar und doch so schwer. Ich mochte Remi, aber nicht auf eine romantische Art und Weise. Ich war nicht verrückt nach ihm, was andere Mädchen nach einem Monat Beziehung wären. Für mich war er ein guter Freund, nicht mehr und nicht weniger. Außerdem war ich mir im Klarem, dass ich das vor wenigen Stunden nicht wiederholen werde. Der Sex fühlte sich nach Abschied an und nicht nach Neuanfang.
Neben Eloise war er der Einzige, dem ich mich anvertrauen konnte. Er hatte mich in den vergangenen Wochen kennengelernt und ich war auch überaus froh darüber. Remi könnte womöglich verstehen, was ich gerade durchmachte. Er müsste mir nicht einmal helfen. Von dem Kuvert und den Geheimnissen dahinter zu erzählen, würde bestimmt eine Last von mir nehmen.
Ich schrieb ihm, dass er kommen musste. Es sei dringend.
Leider band ich mich so nur noch mehr an ihn. Alles was ich sagen werde, würde die Trennung nur noch schwerer machen. Er wüsste zu viel. Und ich glaubte zu wissen, dass das ganze Internat von dem Umschlag wissen wird, wenn ich mich ihm anvertraute.
Aber es klopfte bereits an der Tür und ich hatte keine Möglichkeit mehr meine Gedanken zu Ende zu führen. Ehe ich mich versah, stand mein Freund bereits vor mir.
,,Hi." Ich unterbrach die peinliche Stille zwischen uns.
,,Hi, was ist los?" Er wirkte auf mich besorgt, als würde er sich wirklich kümmern.
Ich reichte ihm das Kuvert, das neben mir auf der Bettdecke lag.
,,Was soll ich damit?", entgegnete er genervt.
,,Lies es dir durch und sag mir wie ernst es ist."
Er drehte den Umschlag um und las die Worte, die auf der Öffnung standen.
,,Hast du das etwa geschrieben?", fragte er mich.
Ich reagierte nur mit einem Kopfschütteln. mir fiel es schwer ein Wort über die Lippen zu bekommen. Das lag vor allem daran, dass ich mich ihm nur noch weiter öffnete.
Denn mir war klar, dass ich Schluss machen werde. Mir war bewusst, dass ich mir so ins eigene Knie schoss.
,,Es klingt auf jeden Fall nach etwas, was du geschrieben hast. Etwas dramatisch, du weißt schon.", erklärte er mir. Remi machte es offensichtlich, dass er das unangenehme Schweigen zwischen uns aufheitern wollte, aber es gelang ihm nicht.
,,Kannst du nicht ein bisschen bei der Sache bleiben.", fuhr ich ihn an.
Mein Freund starrte mich entgeistert an. Vielleicht begriff er jetzt wie viel mir an seiner Meinung lag. Er wandte sich endlich dem ersten Heftchen zu und begann zu lesen.
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