EINUNDZWANZIG
Meine Fingerspitzen fuhren über die weichen Seidenstoffe.
Wie an den meisten Tagen in Irland schwebten dicke Regenwolken über das Land und ließen ihre Schauer auf das Land herab. Minutenweise wechselte das Wetter vor dem Schaufenster. Jedoch schenkten wir dem keine Beachtung.
Ich zog ein beliebiges Kleid von einem Kleiderständer und hielt es vor meinen Oberkörper. Ein smaragdgrünes Cocktailkleid mit Bündchen und Riemchen. Meine flache Hand fuhr über das Material. Es kratzte auf meiner bloßen Handfläche. Kopfschüttelnd hängte ich das Kleid zurück auf die goldene Stange.
Eloise entspannte sich für keine Minute. Bereits den ganzen Tag verfiel sie in wiederkommende Panik.
,,Es tut mir so leid, dass ich dich so kurzfristig gefragt habe.", entschuldigte sie sich ein weiteres Mal an diesem Tag.
Ich winkte ab und streunte weiter durch die vielen Kleiderständer mit den mit Pailletten besetzten Kleidern und Anzügen.
Die Hochzeit von Kenneth, Eloises Bruder, fand in einer Woche statt. Meine Mitbewohnerin verzweifelte mehr, je näher der Tag vorrückte. Entweder begann ich einen unnützen Versuch sie zu beruhigen oder ließ sie klagen. Denn ich hatte keine andere Wahl als ihr zuzuhören oder ihr Trost zu spenden.
Ich konnte nur hoffen, dass ich in ein paar Jahren nicht in dieselbe Panik wie sie verfallen werde. Die Hochzeit meiner kleinen Schwester wird sicher früher stattfinden als meine eigene. Denn ich hatte keine Vorstellung davon, wie lange ich Remi nachtrauern werde.
Mit einem beladenen Arm voller Kleider und mehreren Anzügen (ich gab dem Drang nach etwas Neues auszuprobieren nach) verbarrikadierte ich mich in der Umkleidekabine. Während Eloise mit ihren filigranen Händen die vorherigen Kleider zurück schob, um ein Neues zu betrachten, kämpfte ich in der Umkleidekabine. Die Reißverschlüsse klemmten oder sie gingen nicht einmal zu.
Auf dem Boden der Kabine stapelte sich ein Berg voller Kleider. Ich hoffte, dass die Verkäuferin es nicht bemerkte. Selbstverständlich werde ich sie später sorgfältig wieder auf ihren Bügeln aufhängen, davor musste ich mich für ein Kleid entscheiden.
Nachdem ich mich mit jedem Kleidungsstück auseinandergesetzt hatte, traf ich eine Entscheidung. Ich wählte ein schwarzes Meerjungfrauenkleid. Letztendlich musste ich mich damit zufriedengeben, denn ich hatte kaum eine andere Wahl. Da die anderen Kleider mir entweder nicht passten oder zu kompliziert zum Anziehen waren.
Eloise und ich verließen den kleinen Hochzeitsladen in Arklow mit vollbepackten Tüten. Eloise steckte sich noch Schmuck ein und ich entschied mich für ein Paar Schuhe.
Die vom Himmel gemalten Wolken wurden glänzend durchdringt von der Sonne. Eloise blieb einen Moment stehen und warf ihren Kopf zurück. Sie atmete tief ein, dann wandte sie ihr Gesicht mir zu.
,,Weißt du ich liebe den Geruch von Regen."
,,Ja, ich auch." Ich würde den starken Regen und die Gewitter, die die Nacht durchblitzten vermissen, wenn ich mich später in den Gängen von Oxford aufhielt. Dort stellte ich es mir nicht so stürmisch vor. Verwegen und regnerisch, so kannte ich die grünen Felder, die sich über die Hügel Irlands zogen. Heimweh bedrückte mich, wenn ich mir vorstellte, dass ich später die Landschaft nicht tagtäglich sehen werde.
Für diesen kurzen Augenblick als ich ebenfalls meinen Kopf nach hinten warf, atmete ich ebenfalls den Geruch von Erde und frischem Gras ein. Ich belastete mich nicht mit Roisine oder dem Kuvert. Ich fing einen Moment ohne Kummer und Angst vor der Zukunft auf.
+++
Das Umweltpapier raschelte als ich es unter meiner Matratze hervorzog. Ich musterte es noch einmal. Die Aufschrift an der Öffnung bereitete mir Angst. Wie gerne würde ich zurück gehen zu dem Zeitpunkt, als ich im Unbekannten war und nichts von dem Kuvert und seinem Inhalt wusste.
Eine Weile starrte ich vor mich hin und suchte an der vollbehängten Wand einen leeren Punkt, an dem ich mich festhalten konnte.
Eloise und ich hatten einen schönen Nachmittag gehabt. Keine einzige Minute dachte ich an den Abschluss und an die Zukunft und was sie mir bereiten wird. Für einen Wimpernschlag war es mir gleich, was mit mir in der Zukunft passieren wird.
Mein Blick löste sich von der Wand und mein Augenpaar wanderte wieder zu dem verschlossenen Kuvert auf meinem Schoß. Der Inhalt machte mich kaputt. Meine Stimmung hing von einem Stück Papier ab. Meine Gefühle sollten nicht so einfach beeinflusst werden. Ich wurde einer Gehirnwäsche unterzogen und allmählich übermannte mich das Gefühl, dass ich verrückt wurde.
Ich hatte lange genug bei dem Spiel mitgespielt. Ich habe Spielregeln verfolgt, die ich nicht verstand.
Ja, wahrscheinlich bildete ich mir ein, dass es nicht direkt an mich adressiert war. Es handelte sich unter anderem um mich, aber es war nicht für mich. Man konnte es mit einem Gerücht vergleichen. In der Geschichte war ich involviert, jedoch drehte es sich nicht um mich.
Ich setzte mich von der Bettkante auf und riss die unterste Schublade meines Schreibtisches auf. Ein Feuerzeug kam zum Vorschein.
Ich rollte die Flamme auf und hielt das Kuvert unter das flammende Inferno. Während des Vorgangs schielte ich auf meinen Schreibtisch in dessen Mitte die CD lag.
Die Flamme kletterte von dem unteren Rand des Kuverts weiter nach oben. Ich beobachtete, wie sich das Feuer durch die vielen Schichten Papier fraß.
Je mehr Papier sich zusammenrollte und schließlich in dem heißen Licht verschwand, desto mehr wuchs die Euphorie in mir.
Mein Glück entwickelte sich immer weiter. Ein Funken von Freude hatte auf mich übergegriffen und breitete sich weiter in mir aus.
Ich spürte, wie in mein Gesicht ein breites Lächeln schrieb.
Eine Wasserflasche, die zufällig auf dem Fensterbrett stand, drehte ich auf. Ich goss das kalte Wasser über die brennenden Unterlagen. Nur noch ein Fetzen von Papier blieb übrig. Der Boden war komplett nass und eine kleine changierende Pfütze hatte sich unter meinen Socken gebildet. Das Wasser kroch durch den Stoff bis auf meine blanke Haut. Mir entfuhr ein Fluch.
Trotz meines Missgeschicks erreichte ich ein kleines Stück Freiheit wieder. Das Kuvert und dessen Inhalt hatte mich zu sehr beeinflusst. In den letzten Tagen war ich vorsichtiger. Ich befürchtete jedes Mal, dass noch jemand mit dem Kuvert eingeweiht wurde. Dass ich die Einzige war, die davon wusste, beruhigte mich. Es ließ mich glauben, dass niemand dasselbe Leid widerfahren musste.
Als nächstes griff ich auf der CD, die auf meiner Tischplatte lag. Ich konnte sie schlecht verbrennen.
Wie als würde jemand quer über eine Tafel mit Kreide fahren, quietschte die CD, als ich sie in der Mitte in zwei brach. Die zwei Stücke, die übrig blieben, zerkratzte ich mit der Spitze meiner Schere.
Die kaputte Scheibe und der Fetzen des Dokuments, der verblieb, ummantelte ich mit einem Papiertaschentuch, dann warf ich die Überreste in den Mülleimer.
Eloise würde bei einem Taschentuch keinen Verdacht schöpfen und es im schlimmsten Fall aus dem Metallbehälter fischen. Ich konnte es schlichtweg nicht riskieren, dass sie Vermutungen anstellte. Am Schluss bot sie ihre Hilfe an.
Ich mochte sie echt. Jedoch brachte ich es nicht über mein Herz sie derart zu belasten. Sie wirkte auf mich viel anfälliger auf Krankheiten als ich. Sie würde unter ihren Sorgen leiden.
Der Prozess dauerte wenige Minuten. Jedoch sagten sie viel für mich aus. Ich hatte mich von etwas Unbekannten befreit. Der Spuk ging vorüber. Er klang noch ein wenig nach. Solange der Müll nicht geleert war, würde ich nicht die volle Freiheit auskosten können. Dennoch schätze ich meinen Gewinn wert.
Die Barriere überwand ich, wenn auch es lange brauchte. Aktiv beschäftigte ich mich mit dem Umschlag für ungefähr eine Woche. Doch es hatte meine kostbare Zeit von mir gerissen. Die vielen schlaflosen Nächte, die ich deswegen durchmachte, waren dahin. Ich hoffte, dass mir in Zukunft etwas Dergleichen nicht passieren wird.
Ich angelte mein Handy aus der Hosentasche und rief Remi an. Vergeblich. Nach mehreren Versuchen sprach ich ihm auf die Mailbox. ,,Hi Remi, ich wollte dir nur sagen, dass das mit dem Kuvert sich automatisch erledigt hat. Du musst dir darüber keine großen Gedanken machen."
Während ich die Tür zu dem Mysterium des Kuverts schloss, öffnete sich eine Neue vor mir. Remis und meine Trennung wird reibungslos ablaufen, ohne dass er etwas gegen mich in der Hand hatte. Er konnte, wenn es mit uns vorbei war, niemanden erzählen, dass ich einen Umschlag besaß mit Selbstmordphantasien.
Das ganze Internat würde über mich herziehen. Mich befragen. Ich wollte dem aus dem Weg gehen. Eine reibungslose Trennung ist mir nie widerfahren, jedoch glaubte ich bei uns daran. Wir würden es schaffen uns aus dem Weg zu gehen. Kein Drama. Kein Zwischendelikt.
Roisine lebte nicht mehr. Sie nahm sich das Leben. Damals gewährte sie mir so einen großen Schrecken. Dass sich jemand freiwillig in den Tod stürzte, wirkte auf mich befremdlich. Als Kind liebte ich mein Leben. Ich sehnte mich nicht nach der Flucht.
Heute verfügte ich immer noch nicht über die nötige Kenntnis, wie ich mit Suizid umgehen sollte. Vielleicht erwartete man von mir, dass ich wegen einer so scheußlichen Erfahrung einen einfacheren Umgang damit hatte.
Es verstörte mich. Die Sehnsucht nach dem Tod machte mir Angst. Heute wie auch damals liebte ich mein Leben, obwohl es in der Gegenwart mir Probleme bereitet hatte.
+++
Die matte Sonne schien auf die Anlage des Internats. Sie schien durch die hohen Fenster des Prüfungsraumes.
Ich musste die Französisch-Prüfung nachschreiben, obwohl ich vor wenigen Tagen eine Krankheit vorfälschte. Ich hätte so weit denken müssen. Doch meine Gedanken verblendeten sich. Durchblick zu finden, war schwierig.
Meine Hände zitterten, als ich das Prüfungsblatt hingegen nahm. Die Prüferin lächelte mich aufmunternd an. Trotz der höflichen Geste beruhigte ich mich kein bisschen. Mein Fuß wippte unregelmäßig über den Boden und mein Herz flatterte. Ich hätte mehr lernen sollen.
Die Blase von Oxford wird platzen, wenn ich nicht gut genug war. Die Lösungen befanden sich irgendwo im Lehrerzimmer. Zum damaligen Zeitpunkt müsste ich nur einen Blick in das Kuvert werfen müssen, dann würde ich jetzt nicht derart ins Straucheln kommen.
Eloise nickte mir ermutigend von der Tür zu. Sie wird bestehen. Dann verschwand meine Mitbewohnerin hinter den Wänden des Schulgebäudes.
Ein letztes Mal gab ich Mabel ein Lächeln zurück, dann konzentrierte ich mich wieder auf die Prüfungsaufgaben.
Die letzten Gedanken hingen an Fäden in meinem Kopf, sobald ich meine komplette Aufmerksamkeit auf das Blatt vor mir richtete, werden sich lose abfallen.
Ich fragte mich, was Mabel und Remi zusammen getrieben hatten, so dass selbst ich nichts davon wusste. Hatte Remi noch eine zweite Freundin?
Mein Interesse hielt sich in Grenzen. Bald wird unsere Beziehung ein Ende finden und ich beschäftigte mich nicht mit meinem Ex-Freund.
Das Ende naht.
Meine Angst hätte größer sein sollen.
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