DREIUNDZWANZIG
Livingston begrüßte uns bereits in den Arcaden des Internats.
Wir folgten ihr. Der streng zusammengebundene Dutt auf ihrem Kopf wippte mit jedem Schritt. Ich wandte meinen Blick von ihr ab und blickte zu Aspen auf. Er bemerkte nicht, wie ich ihn fokussierte. Er hatte bestimmt ebenso Panik gehabt wie ich, auch wenn er sie mir nicht zeigte.
Wir machten nicht auf der nächsten Polizeiwache eine Aussage. Vielleicht stellte es sich noch heraus, dass es nicht von großer Tragweite war.
Die Französischlehrerin ließ uns in einem Wartebereich sitzen, der normalerweise für die Besucher des Internats gedacht war.
Aspen nahm einen Stuhl neben mir Platz. Er starrte resigniert auf die tapezierte Wand vor ihm. Es roch nach Seife und verbrannten Essen. In den Zimmern direkt neben uns tuschelten zwei Polizisten miteinander, ansonsten erfüllte Schweigen den Raum.
Ich hoffte inständig, dass ich Aspen nicht zu sehr überrumpelt hatte. Immerhin platzte ich in sein Zimmer und unterbrach ihn bei was auch immer er in diesem Moment gemacht hat. Doch abgesehen von der dröhnend lauten Musik nickte er ein. Jedenfalls glaubte ich, dass er schlief.
Einer der tuschelnden Polzisten postierte sich vor uns. Er nahm Aspen mit in einer der naheliegenden Klassenzimmer. Aspen wird aussagen und das wird wahrscheinlich bestimmen, wie es für uns enden wird. Ich besaß die Möglichkeit eine Aussage abzugeben, aber wenn er nicht den realen Ablauf der Dinge erzählte, dann erschwerte er es mir so.
Angesichts dessen lernten wir zusammen. Zwar gab es keine Zeugen dafür, jedoch werden Kirk und ich genau das sagen. Wir besuchten die Bibliothek, um zu lernen.
Ich saß allein im Wartebereich ohne einen Beamten in Aussicht. Der Blumenstrauß vor mir verwelkte und die Blumen schrumpften zu zerbrechlichen kleineren Versionen zusammen. Die Tapete an der Wand bekam Risse und die Lampe an der Decke flackerte.
Bestimmt hatte das Internat genügend Geld, um die Räume zu renovieren. Trotzdem dachte niemand daran sie zu renovieren. Man sagte, es besaß Charme.
Ich lehnte mich zurück. Meine Atmung wurde ruhiger. Mabel konnte überall sein, aber das hieß nicht, dass es ihr in diesem Moment schlecht ging. Womöglich befreite sie sich aus dem Internat und floh, damit sie nicht mehr ihren Verpflichtungen entsprechen musste.
Indes war sie nicht der Typ für solche Aktionen. Ja, sie verschwand gerne für ein paar Stunden, aber sie kannte ihre Pflichten. Sie würde ihre Familie nicht mit einem schlechten Ruf hinterlassen, denn Mabel war ihre Reputation auch wichtig.
Mein Gesicht wandte sich dem Fenster direkt neben mir zu. Es regnete und Nebelschwaden verschleierten die grünen Felder. Die Regentropfen bildeten ein Muster auf der Fensterscheibe. Leise fielen sie auf das Glas und suchten ihren Weg zu dem unteren Rand des Fensters.
Hinter mir vernahm ich Schritte. Ruckartig drehte ich mich zu dem Geräusch um. War Aspens Aussage schon vorbei?
Victoria unterbrach den Augenblick von Stille. Ausnahmsweise in diesen wenigen Sekunden drehten sich meine Gedanken nicht um Mabel.
Die Augen der Schwarzhaarigen waren rot unterlaufen. Tränen rinnen ihre Wangen hinunter. Ihre Stirn verkrampfte sich und Falten zogen sich zwischen ihren Augenbrauen. Sie kam schweren Schrittes direkt auf mich zu. Sie knickte einmal mit ihren Schuhen ab, aber fing sich wieder.
Sie ließ sich neben mir nieder. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte. Brauchte sie eine Umarmung? Oder sollte ich sie mit Worten trösten?
Ich reichte ihr eine Packung Taschentücher. Nachdem sie unter ihren Augen die Tränen wegtupfte und ihre Nase putzte, drehte sie sich zu mir.
,,Ich habe von Mabel gehört und ich habe sofort an dich gedacht.", erklärte sie mir mit brüchiger Stimme.
,,Das ist echt lieb von dir."
,,Ihr wart Freundinnen. Das muss bestimmt sehr belastend für dich sein."
Ich seufzte. Mabel und ich waren nicht befreundet. Wir zogen beide einen Nutzen aus unserer Freundschaft. Sie bekam von mir Rat und sie schenkte mir Gesellschaft. Vielleicht passten wir nicht zusammen, aber trotzdem fühlte ich mich wohl in ihrer Umgebung.
Victorias Verhalten erschien mir als äußerst suspekt. In der letzten Woche war sie nie derart besorgt um meine Gefühle. Nichtsdestotrotz schätzte ich ihre Fürsorge. Vielleicht wollte sie unser Verhältnis aufbessern.
Ich rückte näher an sie und legte einen Arm um ihre Schulter. Ich hatte keinen Plan wie ich mich verhalten musste bei weinenden Personen.
Sobald Victoria ihren Kopf an meiner Schulter anlehnte, brach ihr Netz der Tränen erneut. Doch die Tränen liefen nicht still. Anfangs wimmerte sie, bis hilflose Laute aus ihrer Kehle drangen. Mittlerweile könnte uns das ganze Stockwerk hören, dementsprechend errötete ich.
Mit meiner Hand strich ich ihr durch die Haare. Die Schreie verebbten und ein leises Wimmern war zu vernehmen.
Trotz dem Trost, den ich ihr schenkte, jaulte sie wenige Minuten später wieder auf.
Livingston stürmte an uns vorbei, dann stoppte sie. Anscheinend hatte sie nach dem Auslöser des Geräuschs gesucht.
Mit einem vorwurfsvollen Blick musterte sie mich, dann wandte sie sich vollkommen Victoria zu.
Mit einem Tätscheln tröstete sie diese und es wirkte mehr als bei mir. Meine Mitbewohnerin hatte ein aufgequollenes Gesicht. Das Make-up, dass sie morgens säuberlich auftrug, verschwamm in alle Regionen ihres Gesichts. Trotzdem lächelte sie unter ihren Tränen hervor.
Livingston räusperte sich. ,,Ich suche einen Polizisten für Mrs. Hearst. Sie werden schneller mit der Befragung fertig sein."
So verschwand unsere Französischlehrerin.
Wahrscheinlich wurden nicht nur Kirk, Aspen und ich befragt. Wenn all meine Mitschüler eine Aussage machen mussten, dann bestand kein Grund zur Sorge. Vielleicht war es nicht so dramatisch, dass ich befragt wurde. Die Polizisten verdächtigten mich nicht. Es gehört zur Routine. Ich glaubte nicht dem, was ich dachte.
Ein Lehrer fing mich auf dem Gang ab und fragte nach Mabel, ob ich sie gesehen hatte. Es entsprach reiner Spekulation, dass wir die letzten Zeugen waren. Doch etwas in mir sagte, dass wir ihr als letztes in die Augen blickten.
Victoria wischte mit ihrem Handrücken die Tränen weg, sobald Mrs. Livingston um die Ecke verschwand.
,,Bevor Mabel verschwunden ist, haben wir geraucht. Jedenfalls war das der Zeitpunkt, an dem ich sie zuletzt sah. Du kennst doch das Zeug von Coy?"
Ich nickte.
,,Ja, genau das haben wir genommen. Aber ich kann das nicht der Polizei erzählen."
Victoria machte eine lange Pause. Ihr lag etwas auf der Zunge.
,,Ich würde Coy verraten und mich strafbar machen."
Und wenn es die einzige Spur zu Mabel war? Wenn Victoria der Schlüssel zum Verschwinden war? Vielleicht wusste sie, wo Mabel sich aufhielt. Immerhin gehörte Victoria zu den letzten Personen, die sie gesehen hat. Ihre Aussage war wichtiger als meine oder Kirks. Im Gegensatz zu Victoria verbrachten wir unsere Zeit zusammen mit etwas Unpersönlichem. Wir hätten genauso gut drei Fremde sein können und wir hätten dasselbe Motiv gehabt.
Dahingegen Victoria und Mabel rauchten und womöglich auf einem Trip waren. Sie teilten sich etwas Persönliches. Die beiden werden Schwierigkeiten haben, wenn die Polizei von ihren Tätigkeiten erfuhr. Wohingegen Aspen, Kirk und ich harmlos waren.
Warum konnte ich nicht stillsitzen? Wenn unsere Tätigkeit unbedenklich war, dann musste ich mir darüber keine Gedanken machen.
,,Weißt du, wo Mabel ist?", fragte meine Mitbewohnerin.
,,Nein. Sie hätte mir so eine persönliche Information nicht anvertraut."
Victoria musterte mich skeptisch.
Gleichzeitig hörten wir Schritte aus dem Gang zu uns. Prompt warf Victoria ihre Beine übereinander und begann an ihren Fingern den Nagellack abzukratzen.
Ich verstand, als Mrs. Livingston direkt vor uns stand.
Meine Mitbewohnerin zog eine Show ab. Es wird noch eine lange Zeit brauchen, bis die Polizisten und auch das Internat verstand, dass Victoria ein falsches Spiel spielte.
Inmitten dessen fühlte ich mich verpflichtet mitzuspielen. Ich durfte mir genauso wie Victoria nicht anmerken lassen, dass sie mehr wusste. Ich glaubte sogar, dass sie mit an Mabels Verschwinden involviert war.
Jetzt schaute Victoria klein und zerbrechlich aus. Neben mir schien sie zu zerbrechen. Ihre Schauspielkunst war bewundernswert. Aber was für eine hässliche Wahrheit versteckte sie dahinter?
Etwas war nicht in Ordnung mit Victoria. Waren ihr die Drogen wichtiger oder Mabel? Denn es hatte allen Anschein gemacht, dass sie lieber Coy und sich schützen wollte, als Mabel zu finden. Sie verhielt sich äußerst egoistisch.
Ich konnte nur hoffen, dass Mabel lebendig aus der Situation kam. Wenn sie tot war und Victoria nicht helfen wollte, weil sie Angst vor eigenen Konsequenzen hatte, dann wird sie früher oder später festgenommen werden.
Mir stellte ich die Frage, ob ich sie anschwärzen sollte. Den Polizisten zu erzählen, dass Victoria ein richtiges Motiv hatte. Vielleicht wollte Mabel Victoria auspfeifen? Der Grund war mir unbekannt, aber es lag nahe.
Ich kannte Mabel gut genug, um zu wissen, dass sie alles tun würde, damit ihr Ruf nicht geschädigt wird. Sie würde eine Freundin in die Tiefe stürzen lassen, damit sie ein unbeschriebenes Blatt blieb. Victoria machte sich vor mir verdächtig und leider hatte ich keine Idee, wie ich damit umgehen sollte. Einerseits war der Abschluss mein Mittelpunkt, den ich mir nicht verrücken lasse von Victoria. Andererseits war Mabel schon fast eine Freundin für mich gewesen und ich konnte sie nicht außer Acht lassen.
Victoria folgte Livingston. Ich war wieder allein im Wartebereich.
Ein Beamter lief den Gang entlang. Ich nahm die Möglichkeit und hob meine Stimme. ,,Entschuldigen Sie mich!"
Er blieb stehen und kam mit wenigen Schritten auf mich zu. Er fragte mich, was mein Anliegen sei.
,,Victoria Hearst, die gerade befragt wird, sollte einen Drogentest machen."
Der Polizist schmunzelte.
Er verunsicherte mich. Wollte er mir somit etwas sagen oder bildete ich mir das ein? Er bedankte sich bei mir, dann ließ er mich zurück.
Ich fühlte mich schrecklich. Ich war eine Snitch und verriet Victoria. Wegen mir könnten Nachwirkungen auftreten. Und am Ende fand sie heraus, dass ich es der Polizei gesagt hatte.
Ja, ich bereute, was ich zu dem Beamten gesagt hatte. Immerhin hätte man sie nicht getestet, wenn ich ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
Doch Victoria war nicht nüchtern, als sie in meine Schulter geheult und geschrien hat. Bei ihr lief etwas falsch. Vielleicht hatten die Drogen eine Nachwirkung und sie waren noch länger in ihrem Körper. Aber was war, wenn man so Mabel fand? Waren dann die Befindlichkeiten von Victoria so wichtig?
Mabel war eine Priorität. Ich würde sie nicht aufgeben für Victoria. Denn eines war mir klar. Dass meine Mitbewohnerin mitten im Schuljahr einstieg, ohne einem noch unerkennbaren Motiv.
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