
ACHTUNDVIERZIG
Meine Schreie hörte niemand.
Niemand, der mir zur Hilfe kam.
Die Korridore erstreckten sich lang vor mir. Ich rannte in die Dunkelheit in der Hoffnung, dass ich dem, was auch immer sich hinter mir bewegte zu entkommen. Die Wände liefen am Ende der Korridore zusammen, bildeten Sackgassen. Putz blätterte von den Wänden ab, fiel zu Boden und sammelte sich in den Ritzen.
Ich pumpte eisige Luft durch meine Lungen. Die Kälte strahlte von den Mauern ab. Meine Härchen stellten sich auf.
Es gab unzählige Sackgassen, verschlossene Türen. Ich hämmerte an jede, schrie, hielt mich laut auf. Meine Beine traten mechanisch auf den Betonboden auf. Schritte hallten langsam hinter mir. Ich hörte sie überall, schlug neue Wege ein, lief im Kreis.
Sollte ich aufgeben, mich meinem Schicksal hingeben?
In diesem Augenblick hatte ich noch die Möglichkeit mich zu befreien, mich in Sicherheit zu bringen.
Warum betrat ich das Labyrinth? Warum dachte ich, dass es mir hier unten besser gehen wird?
Meine Handballen schmerzten, Blutergüsse bildeten sich unter der Haut. Abgesehen von ihnen spürte ich nichts, mein Körper war taub, nahm einzig meine Befehle entgegen. Ich hatte keine Zeit, mich auf die Pein zu konzentrieren.
Bereits zum dritten Mal sprintete ich an der Holztür mit Gittern als Fenster vorbei. Sie war verschlossen, wie auch jede andere in den Gängen. Der Ausgang war unauffindbar.
Während die Schritte hinter mir sich annäherten, schwebten mir meine Gedanken vor, bereiteten sich für den schlimmsten Fall vor.
Was war das schlimmste, das passieren konnte? Mein Tod? Folter?
Vage erinnerte ich mich zurück, Nebel wich in meinem Kopf. In den Unterlagen des Kuverts zeichnete der Eigentümer die Gänge ein, ich sah das Papier noch vor mir. Jedoch merkte ich mir damals nicht genau, wie die Korridore darauf abgebildet waren.
Meine Schritte verlangsamten sich, ohne mein Zutun. Das Adrenalin ließ nach. Anfängliche Energie wandelte sich in Panik. Schmerz, das greifbare Ende vor mir, verdunkelte meine Sicht. Mein Sichtfeld verschwamm, meine Schreie klangen ab. Cael, meine Eltern und meine Kindheit schwebten mir vor, zeigten mir, wie es einmal gewesen war, wen ich liebte.
Mein Magen zog sich zusammen, verkrampfte sich augenblicklich. Der Inhalt meines Magens bildete sich auf dem Boden ab.
Mittlerweile zitterte mein ganzer Körper, ich war kaum noch zum Laufen imstande.
Unwissend ließ ich mich damals auf Kenneths Hochzeit auf eine Mörderin ein, stimmte einem zweiten Treffen zu.
Rasend setzte sich mein Herz fort. Ich rannte, suchte nach einem Weg. Ich werde mich retten. Meine Letzte Kraft wird dazu imstande sein.
Ich glaubte an mich zum ersten Mal seit so langer Zeit.
Die Bluse und die Jeans, die ich mir morgens übergestreift hatte, klebten an meinem Körper. Schweiß lief über meine Stirn, die Schläfen hinab.
Der Ausgang direkt vor meinen Augen. Die große, schwere Tür, die ich geöffnet hatte.
Meine Beine waren schwer, Arme hingen wie Hinkelsteine meinen Torso herab. Ich stieß die Tür auf, atmete die salzige Luft Irlands ein. Jede Stufe zu der Grünfläche hinauf mühte an meinen Füßen.
Die Tür hinter mir wurde ein weiteres Mal aufgestoßen. Schwindel überkam mich. Ich verspürte den großen Drang mich zu setzen, zu schlafen und mich versichern, dass alles gut war.
Zurückblickend betrachtet wusste ich nicht, woher ich die Kraft für einen weiteren Sprint bekam.
Der Verfolger kam mir so viel näher als bei der ersten Jagd.
Meine Beine trieben mich zu den Klippen, dem weiten Meer, das sich über den Horizont hinaus erstreckte. Unter mir brachen die Wellen, rollten sich neu auf und zerbarsten ein weiteres Mal.
,,Wir wollen nicht auffällig sein, oder?" Helans Stimme jagte meine Härchen ein weiteres Mal nach oben. ,,Vielleicht können wir noch einmal reden oder du springst gleich die Klippen herab."
Roisine erschien vor meinem inneren Auge.
Sie sprang damals in ihren Tod.
Wie werde ich meinen wählen?
Ich schrie. Laut. Suchte nach Aufmerksamkeit.
,,Du kannst auch mit mir wieder zurück nach unten kommen und alles wird gut. Du wirst noch unzählige Male wieder auf den Ozean schauen."
Ohne ein Wort zu erwidern, ohne zu brüllen, nach Hilfe zu betteln, folgte ich ihr.
Mein Leben war mir zu teuer. Wenn ich von ihr floh, dann musste ich jede Nacht in Angst leben. Nur noch ein letztes Mal musste ich Helan vertrauen.
Sie tätschelte meine Wange, nahm sie in eine Hand. ,,Du bist ein gutes Mädchen mit viel Potenzial. Schade, dass es mit uns nicht funktionierte."
Lebendigkeit floss in meinem Blut. Wut flammte in mir auf. Sie manipulierte mich von Anfang an. Helan versuchte mich selbst noch in diesem Moment, um den Finger zu wickeln.
Es roch nach Desinfektionsmittel und Laub. Wir sprachen nicht.
Sie hatte mich in einen Raum geführt, darin abgesetzt und sich selbst neben der Tür positioniert.
Eine weitere Person betrat den Raum, maskiert und bekleidet mit einer Schuluniform.
Die Person drängt mich in einen Stuhl, fesselte mich mit Tape und befestigte meine Füße an die Stuhlbeine.
Helan verließ den Raum. Den Fremden und mich ließ sie zurück.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch kein Wort gesprochen.
Der Fremde zog sich langsam die Maske vom Gesicht. Ich erkannte ihn. Ich kannte jeden Zentimeter seines Körpers. Ihm habe ich alles gegeben, was ich besaß.
,,Arschloch!"
Ich trat mit meinen Füßen gegen ihn und fiel mit dem Stuhl zurück. Mein Kopf prallte hart auf dem Boden auf.
Remi beugte sich über mich. Er legte seine Hand über meinen Mund. Ich biss ihn.
,,Wenn du nicht das machst, was ich dir sage, dann können wir auch einen langen Prozess machen. Du wirst leiden, wie du mich leiden lässt."
Er richtete mich mitsamt dem Stuhl wieder von dem Boden auf.
,,Was willst du von mir?"
,,Du sollst mir zuhören."
,,Was ist, wenn ich deinem Willen nicht befolge?"
Ohne auf meine Frage einzugehen, riss er sich ein weiteres Stück vom Klebeband ab und brachte mich so zum Schweigen.
,,Helan hat mir geholfen, obwohl das anfangs nicht einmal mein Plan war. Ich kannte sie, ein Kontakt von mir. Sie spielte schon immer mit ihrer Identität."
Woher sie sich kannten, wollte ich nicht wissen. Ich befürchtete, dass Remi einen Monolog mir vortragen wird und einzig, wenn ich ihm zustimmte, durfte ich leben.
Wäre das auch passiert, wenn ich mich nicht von ihm getrennt hätte?
,,Wohingegen das Kuvert ein Missgeschick war. Die Informationen waren für einen anderen Abnehmer gedacht. Wer hätte sich denken können, dass jemand die alten Fächer durchsucht?"
Er seufzte, lehnte sich an die Tür. Das Holz knarrte unter ihm. Er verschränkte die Arme vor der Brust und fokussierte mich mit seinen eisblauen Augen.
Wir befanden uns in einem alten Waschraum. Womöglich wurde er früher für die Laken und Kissen der Schüler benutzt. Es roch nach Öl. Der Geruch von Winter ließ nach, der Gestank wurde immer intensiver.
Licht fiel auf Remi. Er verkniff sich sein Grinsen nicht. Es schien ihm ins Gesicht geschrieben, dass er stolz darauf war, was er mir antat. Dass er mir Angst einjagt, dass er die Kontrolle von uns beiden beherrschte.
Hätte ich diese Situation voraussehen können? Wahrscheinlich nicht. In unserer Beziehung hatte er sich nie ansatzweise so verhalten, wie in diesem Moment. Wuchs er hinter meinem Rücken zu einem anderen Menschen heran? Veränderte er sich so grundlegend? Hatte ich ihn zutiefst verletzt, dass einzig mein Tod eine Genugtuung für ihn sei?
,,Wir können reden." Das Tape verschloss meinen Mund und dennoch versuchte ich es, nutzte meine letzten Chancen aus.
,,Ich kann dich nicht verstehen."
Remi baute sich vor mir auf, schaute zu mir herab.
,,Unsere Trennung macht mir das alles leichter. Du hast mir die perfekten Voraussetzungen gegeben."
Last fiel mir von den Schultern. Es lag nicht an unserer Trennung, nicht an meiner Entscheidung.
,,Soll ich Helan wieder hereinholen? Wollt ihr noch eure letzten Worte miteinander tauschen?"
Mein Körper begann zu beben, Schweiß brach aus. Adrenalin floss durch meine Arterien, zwang mich, mich zu befreien. Meine Beine zappelten, versuchten sich von dem Tape zu lösen. Ruckartig probierte ich das Tape von meinen Handgelenken zu reißen. Ich konnte meine Arme hinter meinen Rücken nicht weiter nach oben strecken.
Etliche Videos zur eigenen Befreiung hatte ich bereits angeschaut, mir die Techniken gemerkt. Aber für meinen expliziten Fall? Ein Keller in Form eines Labyrinths? Wer hätte mich darauf vorbereiten können?
Ich durfte nicht akzeptieren, was Remi mit mir vorhatte. Ich startete einen weiteren Versuch, mich aus den Fesseln des Tapes zu lösen.
Er riss mir das Tape vom Mund.
Weitere Schreie nach Hilfe entflohen meinem Mund, suchten sich einen Weg aus dem Keller. Wer wird mich hören? Wird mir jemand zur Hilfe kommen? Wo befand sich Helan?
Behutsam legte er seine Hand unter mein Kinn und drehte meinen Kopf zurück.
,,Sag Eloise, dass ich sie liebe."
Ich spuckte Remi in sein Gesicht.
Sein hämisches Grinsen entglitt ihm. Er zog etwas aus seiner Hosentasche. Medikamente.
Er kippte sie mir in den Mund, Unmengen von ihnen. Ich schluckte nicht, drehte meinen Kopf zur Seite und spie sie auf den Boden.
Mein Körper zitterte immer noch, mein Herz raste und meine Atemluft wurde weniger. Schwindel setzte ein. Ich war noch nicht bereit für meinen Tod.
Remi ohrfeigte mich.
Ihn zu treten, scheiterte.
Er kippte mir eine weitere Rate von Tabletten in den Mund. Mein Ex-Freund stand hinter mir, hielt meinen Kopf in seinen Händen, sodass ich sie nicht ein weiteres Mal ausspucken konnte.
,,Schluck sie, verdammt noch mal!"
Roisine, die wachsende Leere in ihren Augen, ihr Gesicht vor mir.
In dem Kuvert sah ich sie, sah ich ihren Tod und auch meinen. Die Tabletten, die Gänge. Ich sah meinen Tod kommen, wie er sich fortbewegte, ohne mein Zutun.
Die beschriftete Box, Gänge, die ich nicht kannte. Ich wusste alles.
,,Du hattest keinen schlechten Charakter."
Remi verließ den Raum. Die Tür hallte in meinem Kopf nach, schwoll zu einem Dröhnen an.
Mein Leiden kroch in mich ein, die Kraft wich aus meinen Beinen, die Energie aus meinen Händen. Die Decke war mit Ruß bedeckt, sammelte sich direkt an einem Punkt. Die Teilchen verschwammen vor meinen Augen. Meine Lider flatterten, verloren ihre Kontrolle.
Eloise Lachen, ihre Freude und ihr Wunsch mich nach den Stunden zu sehen, erwärmte die Kälte in mir. Ich sah sie vor meinem inneren Auge, wie wir auf unseren Betten tanzten, die Tränen in unseren Augen und die Sehnsucht nach unserer Zukunft.
Oxford. Alles was ich je wollte, die Zeit die ich investierte, mir nichts sehnlicher wünschte.
Mein Atem verlangsamte sich, kam zur Ruhe. Ich spürte, wie sich mein Brustkorb auf uns ab bewegte. Für einen kurzen Augenblick zappelte mein Körper noch. Meine Beine begann um sich zu schlagen. Mein Kopf warf es nach vorn und ich warf meine Augen auf.
Eine graue Welt offenbarte sich mir.
Leere säumte sich in mir zusammen, brannte sich in mein Blut ein.
Ich starb als ein Versager, als Nichtskönner, als eine Enttäuschung.
Liebte mich jemand? Wird mich jemand vermissen?
Meine Seele verließ meinen Körper. Einzig blieb meine Materie, nichts war von mir existent. Ich war Teil der Toten, ging mit ihnen. Ich werde Roisine auf der anderen Seite sehen.
Leben wich der Akzeptanz.
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