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Das Aufeinandertreffen mit Tirana hatte Rena ordentlich ausgelaugt, aber ihr auch Klarheit in einigen Aspekten verschafft. Furians Tod war nicht ihre Schuld. Es war nicht ihr Versagen gewesen, das zu seinem Ableben geführt hatte, der Wettlauf gegen die Zeit war von Anfang an unbesiegbar gewesen. Sie war bis zum Letzten ihrer Kraft gelaufen, war Risiken eingegangen und hatte wahnsinniges Glück gehabt, Pierce rechtzeitig zu treffen, und trotz alledem war es nicht genug gewesen. Was hätte sie mehr tun können?
Obwohl sie noch immer verwundert über das fehlende Gefühl des Prägungsverlustes war, hatte Rena doch den Eindruck, mit den vergangenen Erlebnissen abgeschlossen zu haben. Also tat sie ihr Bestes, zu ihrem Alltag zurückzukehren, wenngleich es sich seltsam anfühlte. Im Augenblick befand sie sich auf dem Weg zum Wald, um dort zu jagen, was sie schon lang nicht mehr getan hatte. Sie verwandelte sich und tappte auf leisen Pfoten durchs Dickicht, ihre Ohren aufgestellt und in alle Richtungen zuckend.
Da! Ein Reh verriet seine Position durch das Rascheln trockener Blätter. Ihre Muskeln angespannt, schlich Rena sich heran. Ihre Augen fixierten sich auf die Gestalt, die vornüber gebeugt von einer Pfütze trank. Rena duckte sich noch tiefer, zog die Oberschenkelmuskeln ihrer Hinterbeine zusammen und katapultierte sich in die Luft. Noch während sie flog, hörte sie ein Geräusch in der Ferne, das sie irritierte. Doch dafür war nun keine Zeit, denn im nächsten Moment gruben sich ihre Zähne gezielt in den Nacken des Rehs, das sie mit ihren Pfoten und ihrer Brust niederrammte.
Als sie fertig gefressen hatte, lauschte sie erneut auf das Geräusch, das sie zuvor gehört hatte. Da war es wieder! Es klang wie... ein Weinen? Rena spitze die Ohren und folgte den Schluchzern zu ihrer Quelle. Zwischen den Bäumen sah sie ein Mädchen zusammengekauert sitzen. Sie hatte braune, schulterlange Haare und ihre Kleidung war zerrissen. Von ihr ging ein starker Geruch nach Vampir aus, doch durch den Umgang mit den Cullens hatte sie das Misstrauen vor ihnen verloren und ging geradewegs auf das Mädchen zu - ein Fehler. Der Kopf des Mädchens zuckte nach oben und mit einer Bewegung schleuderte sie Rena gegen den nächstgelegenen Baum.
Rena sah sie erschrocken an. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet, doch sie hatte vergessen, wie Vampire und Werwölfe normalerweise miteinander umgingen. Die Ausnahme wurde schnell zur Gewohnheit, wenn man nichts anderes kannte. Doch auch die Vampirin sah ein, dass von Rena wohl keine Bedrohung ausging. Ihre Körperhaltung entspannte sich und sie fragte: "Was willst du von mir?"
"Ich habe dich weinen gehört. Ich dachte, ich sehe mal nach, was los ist." Nun war es an Rena, Fragen zu stellen. "Wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen." Die junge Vampirin stellte sich als Eleanor vor und berichtete, vor wenigen Tagen als Flüchtling vor der Vampirgrippe hierhergekommen zu sein, die ihr ganzes Dorf ausgerottet hatte. Offenbar hatte sie in einer Gemeinschaft von Vampiren gelebt. Sie musste sich furchtbar einsam fühlen, sicher war sie seit langer Zeit das erste Mal allein. Aus diesem Grund schlug Rena ihr vor, mit zu den Cullens zu kommen. "Sie werden sich um dich kümmern - egal, ob du nur kurz oder länger bleibst." Eleanor stimmte zu, und auf dem Weg zurück zum Haus erzählte Rena ihr, wie sie letztes Jahr hier angekommen war, ebenfalls auf der Flucht, und wie die Cullens sie mit offenen Armen empfangen hatten, trotz allen Schwierigkeiten, die sie anfangs hatten. "Du wirst dich bei ihnen wohlfühlen, glaub mir", ermutigte sie sie.
Am Haus angekommen, klopfte Rena an die Tür und hoffte, dass Edward bereits von ihrem Gast Notiz genommen hatte. Das Glück war auf ihrer Seite, und so öffnete Esme die Tür nicht mit einem Schrecken vor der Fremden, sondern lächelnd mit einer Umarmung. "Willkommen, Eleanor", sagte sie. "Fühl dich wie zuhause."
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