Die Wölfe sonnten sich friedlich auf der Lichtung in ihrem Wald, als sich auf einmal ein dunkel bekannter Geruch breitmachte. Vereinzelte Tiere hoben den Kopf und wollten nicht glauben, was sie da rochen. War das etwa-? Nein, das konnte nicht sein. Und doch, immer mehr Wölfe wurden auf den irgendwie vertrauten Geruch aufmerksam. Einige sprangen auf und begannen zu knurren.

Einen Moment später betrat ein unterdurchschnittlich kleiner, hellgrauer Wolf die Lichtung. Sein Anblick löste bei der Hälfte der Rudelmitglieder die Alarmglocken aus, wie verrückt knurrend rannten sie über die Lichtung und bauten sich vor dem Eindringling auf. Rena hatte mit einer Reaktion wie dieser gerechnet. Sie blickte über die Köpfe hinweg und versuchte, ihr altes Alpha-Weibchen zu erspähen. Auf ihre Reaktion war sie am meisten gespannt.

Sie machte einen Schritt nach vorne, der mit lauterem Knurren und vereinzeltem Schnappen beantwortet wurde. Ohne Vorwarnung schnappte Rena zurück nach der nächsten Schnauze, die sie erwischen konnte. Der Wolf jaulte überrascht auf. Erneut trat Rena vor, und die Wölfe wurden etwas unschlüssig, was sie bezüglich dieses sich überordnenden Gegner tun sollten. War sie es wirklich? Sie wirkte so anders... Doch der Geruch war unverkennbar. Endlich bekamen sie Gewissheit, als Rena knurrte: "Wo ist Sarah?" Diese Handlung löste eine Vielzahl von Reaktionen aus: beim Klang ihrer Stimme begannen die Wölfe erneut, nach ihr zu schnappen, einige heulten von Trauer erfüllt, einer, der nicht an die Front getreten war, lachte: "Sarah ist tot. Unser neues Alpha-Weibchen ist Minerva."

Rena fühlte keinerlei Schmerz bei dieser Nachricht, nur eine leichte Enttäuschung, Sarah nicht ein letztes Mal an die Decke zu treiben - für etwas anderes war sie doch sowieso nie gut gewesen, wie ihr immer gesagt wurde. Doch sie war neugierig, diese Minerva zu treffen. Als sie das Rudel verlassen hatte, war Minerva noch ein Welpe gewesen, sie hatte sich nie mit ihr unterhalten (man konnte sie doch nicht zu den Welpen lassen - nicht, dass sie sie noch beeinflusste).

Rena musste nicht lange warten: schon trat Minerva zwischen den liegenden Wölfen hervor, ihr Stand unverkennbar an der Haltung eines wahren Alphas. Ihr Fell war weiß mit braunen Akzenten, und sie hatte dunkle Augen, die Rena bis auf die Knochen zu durchschauen schienen. Mit einem Kopfnicken orderte sie die verteitigenden Wölfe zur Seite. "Willkommen", sagte sie zu Renas Überraschung. "Du musst Rena sein. Ich habe natürlich von dir gehört, aber ich muss sagen, die Gerüchte sind ganz anders als die Erinnerungen, die ich an dich habe. Ich habe immer gehofft, dich noch einmal zu treffen, um meine Einschätzung bestätigen zu können."

Nun war Rena vollends verwirrt. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Minerva bemerkte ihre Verwirrung und fuhr fort. "Weißt du, ich habe dich als Welpe oft beobachtet und mich immer gefragt, warum alle dich ausschließen. Du kamst mir so einsam vor, so verletzt, und ich konnte nicht ausmachen, warum dich bloß jeder hasste. Dann warst du auf einmal verschwunden, und niemand hat mehr über dich gesprochen oder auch nur anerkannt, dass du je existiert hast. Ich habe oft nachgefragt, das Bild von dir ist mir nicht aus dem Kopf gegangen, aber niemand wollte dich je gekannt haben. Ich bin froh, dass du zurückgekehrt bist. Nun kann ich dich endlich kennenlernen."

Rena fehlten die Worte. Jemand aus ihrem Rudel... mochte sie? Und nicht nur das, war froh sie wieder dort zu haben? Diese Neuigkeit änderte alles. Was wenn nicht nur Minerva, sondern die ganze neue Generation so dachte? Wenn sie Sarahs Groll nicht fortführten, sondern sie wieder aufnehmen wollten? Ganz plötzlich stand Rena vor einer Entscheidung: wollte sie als einzige ihrer Art in ihrer neuen Familie weiterleben, oder zu ihrer alten zurückkehren und zum ersten Mal ein Teil dieser sein, wie die Natur es vorhergesehen hatte?