4. 🌕
Er hatte es nicht vergessen. Aber heute war sein Geburtstag und er hatte seinen Bruder schon lange nicht mehr gesehen. Aliko wusste, dass beide eine wichtige Aufgabe hatten: Er kümmerte sich um den Mond, sein Bruder Tamio war für die Sonne verantwortlich. So kam es, dass sie sich nie sahen.
Tamio hatte aus der Ferne an ihn gedacht und als Gruß den farbenprächtigsten Sonnenuntergang an den Himmel gemalt, der möglich war. Der Himmel war ein reines Kunstwerk aus rot, gelb und blau, die Wolken schimmerten in einem strahlenden weiß. Selbst die Vögel waren beeindruckt und kreisten Ehrenrunden über die Wüste, um den Abendhimmel zu bestaunen. In der Ferne spiegelte sich das Licht in den Fenstern der Stadt und er sah die Bewohner auf den Straßen stehen, die Hände erhoben, um auf den Himmel zu zeigen.
Der junge Wächter vermisste seinen Bruder so sehr, dass er am Mond vorbei zum Horizont lief. Immer weiter, in der Hoffnung, die Pracht irgendwann zu berühren und Tamio zu treffen.
Doch die Sonne versank immer weiter und er kam ihr kein Stück näher. Als die Farben verschwanden und die Dunkelheit sich wie ein Schleier über die Wüste legte, fühlte Aliko sich, als hätte jemand ihn aus einem Traum gerissen. Denn mit der Dunkelheit kam die eisige Kälte. Er blieb verwirrt inmitten der endlosen Wüste stehen und wusste nicht, wohin er gehen sollte.
Kein Licht wies ihm den Weg.
Kein Mond war aufgegangen.
Er war allein in der Nacht.
Der Junge ließ sich in den Sand sinken und tastete zitternd nach einem kleinen Stück Mondgestein in seiner Tasche, welches er immer bei sich trug. Er hatte seinen Mond allein gelassen. Er war verankert auf dem Boden und die Lunarier würden ihn aufessen. Er gefährdete die Mond-Magie und verdammte die ganze Welt zur Dunkelheit!
Endlich fand Aliko das Mondgestein und drückte es fest an sich, als einzigen Funken in der Dunkelheit. Ein schwacher Schein schien ihm ins Gesicht, wie ein Hoffnungsschimmer.
Noch konnte er den Mond retten.
Seine Hand schloss sich fest um den Stein und er blickte auf. "Zeige mir den Weg", flüsterte er dem Mondgestein zu. Tatsächlich wurde das Stück kurz heller - es wollte ihm helfen.
Aliko stand auf und rannte los. Der Stein wies ihm den Weg.
Schon aus der Ferne sah er ein leichtes Schimmern und beschleunigte seine Schritte, bis er voller Entsetzen stehen blieb.
Auf dem Boden thronte der Mond, am Anker festgebunden, wie er es am Morgen gemacht hatte. Doch auf ihm und um ihn herum saßen zahlreiche kleine Wesen - Lunarier. Sie hatten ihre bläulichen, langen Arme wie Äffchen um das Gestein geschlungen. Ihre Ohren drehte sich, als sie seine Schritte hörten, und die Lunarier blickten gleichzeitig auf. Mit leuchtenden Augen, so wie früher der Mond geleuchtet hatte, sahen sie zu ihm.
Das Schlimmste waren nicht die Wesen. Das Schlimmste war der Mond.
Sein Mond, um den er sich jahrelang gekümmert hatte, war angeknabbert. Er war keine runde Kugel mehr, stattdessen fehlen Ecken und Kanten. Dellen und Furchen zogen sich durch das Gestein.
Der Mond sah aus wie ein zerlöcherter Käse.
Aliko war erstarrt vor Schreck. Der Mond flackerte kläglich, ein Abschiedsgruß, eh sein schwacher Schimmer immer mehr verblasste. Es wurde dunkel und selbst der kleine Mondstein in seiner Hand vermochte es nicht, ihm noch Hoffnung zu spenden.
Der Mond war kaputt.
Der kleine Mondstein flackerte wie ein Herzschlag, der seine letzte Kraft nutzte, um ihm Mut zu geben. Aliko spürte die Wärme in seiner Hand und plötzlich packte ihn ein unerklärlicher Tatendrang, als die letzte Magie durch ihn floss. Mit viel Geschrei und Armgewedel stürmte auf seinen Mond zu, wobei er die Lunarier aufschreckte. Sie fielen vom Mond und hüpften durch den Sand, unentschlossen, ob ein Kind eine Gefahr für sie darstellte. Erst, als er das Pulver warf, flohen sie. Nach und nach verschwanden sie in der düsteren Nacht.
Der Mond flackerte ein letztes Mal wie eine kaputte Glühbirne, ein letztes Lebenszeichen - ein letzter Dank. Dann erlosch er endgültig.
Aliko löste ihn vom Anker und ließ ihn in den Himmel steigen. Dann streute er sorgsam den Schutzkreis und blickte hoffnungsvoll und unter Tränen hinauf.
Dieses Mal erleuchtete kein Licht seine Geburtstagsnacht.
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