16 ~ Ich bin nicht tot ~ 16
Der Älteste war gestorben.
Für ihn war jede Rettung zu spät gekommen, er lag schon im Sterben, als Mondbrise mit der Katzenminze zurück ins Lager gerannt war. Die Kräuter hatten für Dunstnase und die Jungen gereicht und sie alle waren bereits auf dem Weg der Besserung, nur einen einzigen Kater hatte sie nicht vor dem Tod schützen können.
Hilflos hatte sie zusammen mit Tropfenfarn beobachtet, wie der Arme seinen letzten Atemzug gehaucht hatte und sie hatten beide gewusst, dass sie nur ein wenig schneller die Katzenminze hätten finden müssen, um auch ihn zu retten.
Die Schuld lastete alleine auf Mondbrises Schultern, da sie schon mehrere Tage lang gewusst hatte, dass der Grüne Husten im Lager ausgebrochen war und sie trotzdem nicht bemerkt hatte, dass vor ihren Augen Katzenminze wuchs. All die Tage, die sie bei Koko verbracht hatte, war ihr wirklich nie aufgefallen, dass das wichtigste Heilkraut von allen in seinem Territorium spross.
Der Geruch von Tod lag schwer auf dem Lager, umhüllte das alte Zweibeinernest in den Nebel des Kummers. Diese Stimmung, die drückend und still über den Katzen hing, jagte Mondbrise kleine Schauer über den Rücken. Das war alles ihre Schuld! Ihr war schlecht und die Trauer der Familie des Ältesten ließ sie nicht fröhlicher werden.
Sie lief trotzdem, oder gerade deshalb zu Koko. Sie musste den Geruch und das Gefühl der unendlichen Schuld loswerden! Der Knoten in ihrem Bauch und ihrer Brust nahm mit jedem Moment, in dem sie das Unglück sah, zu. Sie hatte keinen Hunger und keine Kraft, etwas zu jagen.
Das dunkelbraune Hauskätzchen schien zu spüren, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Er begrüßte sie nicht, sondern legte sich einfach neben sie auf die steinerne Erhöhung mit dem Zweibeinerbegriff "Mauer". Sein Fell berührte ihres, er versuchte sie zu trösten und es funktionierte sogar. Die Wärme seines Körpers im Frost der Blattleere tat gut und wirkte beruhigend auf Mondbrises aufgewühlten Geist.
Sie schaffte es, sich von ihren Gedanken zu trennen und sich zurück in die reale Welt zu reißen. Stumm saßen die beiden nebeneinander auf dem Stein. Sie beobachtete das Gras im Wind und den Schnee auf den Gipfeln der Zweibeinerbauten um sie herum. Die Natur und Koko besaßen eine unglaubliche Wirkung, sie konnte vergessen, was vorgefallen war. Kein toter Ältester spuckte in ihrem Kopf.
Dann fiel ihr Blick auf das Büschel Katzenminze, dessen Enden schlaff und abgerissen waren. Hier hatte sie erst kurz zuvor das Heilkraut gerupft, um die Katzen zu heilen. Sie war zu langsam gewesen - nein! Irgendwie musste sie sich ablenken.
„Koko, hast du Geschwister?"
Der Kater zuckte zusammen, als Mondbrises laute Stimme durch die Stille hallte. Es tat ihr nicht leid, denn es war nötig gewesen, um sich abzulenken. In welchen Gedanken wäre sie ertrunken, hätte sie noch einen Moment länger geschwiegen?
„Es ist schon lange her, ich habe sie im Alter von sechs Monden zuletzt gesehen. Ich habe zwei Schwestern, Kiana und Libera-" Er unterbrach sich selbst kurz, sprach dann aber weiter. „Ich weiß nicht, ob sie noch leben."
Hundemief, jetzt dachte sie wieder daran! Tote Katzen, diesmal zwei Kätzinnen, die so aussahen, wie sie sich Kokos Schwestern vorstellte, verfolgten sie in ihrem Kopf. Die eine besaß schwarzes Fell, die andere dunkelbraun-weiß geflecktes. Beide hatten starre, leere Augen, die den lebendigen Glanz einer jeden Katze verloren hatten. Panisch schüttelte Mondbrise den Kopf, um den Gedanken an die Leichen zu loszuwerden und ihre Atmung beschleunigte sich.
„Mondbrise? Alles gut?"
Die besorgte Stimme von Koko drang zu ihr durch. Sie blinzelte und fand sich mit gesträubtem Fell und ausgefahrenen Krallen in auf dem Gras wieder. Wie war sie denn hier hinab gekommen? Den Sprung hatte sie nicht mitbekommen.
„Du glaubst ... sie sind tot?", krächzte sie vorsichtig.
„Nun ja, viele Hauskätzchen werden zwar so alt wie ich, aber nicht gerade alle", stammelte Koko unsicher. Seine fragenden Augen bohrten sich in ihre.
„Wo kommst du hin, wenn du stirbst?"
Die Frage war mäusehirnig, sie hatte sich doch schon vor ein paar Mondaufgängen dieselbe gestellt und unterdrückt, sie auszusprechen. Mondbrise schloss die Augen und schwankte. Der alte Kater sollte nicht antworten! Das wollte sie nicht hören und nicht wissen. Sie wünschte, sie könnte ihre Ohren verschließen.
„Ich denke, ich bin dann weg?"
Falsche Antwort!
Falsche Antwort auf die falsche Frage. Ihr entwich ein Wimmern.
Koko nährte sich ihr irritiert. Wie konnte er nicht erkennen, was in ihr vorging? Konnte er nicht sehen, wie ihr Fell von ihr abstand und ihre Augen zusammengekniffen waren, als ob ihr Wasser hineingelaufen wäre? Er konnte nicht so blind sein!
Sie konnte nicht verstehen, wie er nicht ebenso verängstigt war wie sie. Er wäre weg, er würde einfach aufhören zu existieren, aus dem Leben gerissen werden und nie wieder zurückkommen. Seine Lebenserfahrung und seine Weisheiten würde nie jemand jemals hören, der Körper würde von den Zweibeinern genommen werden. Er würde vergessen werden, bis er ein unwichtiges Nichts in der Welt werden würde - genauso wie sie alle.
Der HimmelClan war die einzige Hoffnung aller Katzen, er würde sie aufnehmen und beschützen. Dort würden sie in die Ewigkeit weiter leben und niemand würde sie jemals vergessen. Sie konnten ihre Botschaften an die Lebenden weitergeben und allen Katzen für immer helfen - das war es doch, worauf sie alle hinarbeiteten?
Das ewige Leben?
Der Schutz der anderen Katzen?
Wie konnte Koko das alles verweigert bleiben?
Verzweifelt brach Mondbrise in Kokos Garten zusammen.
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