Chapitre 6
Vorsichtig schleiche ich mich zum Fenster.
Henri legt die Nüsse auf den Nachttisch, klettert über das Bett und nähert sich dem Fenster von der anderen Seite.
Von hier oben können wir auf die Gasse vor dem Haus hinabsehen.
Mehrere Männer in militärisch aussehenden Kampfanzügen, mit Schutzwesten, Multifunktionsgürteln und Automatik-Gewehren kommen den Hang hinauf.
Mir ist sofort klar, dass sie zu Personne gehören müssen. Genau wie die Männer, die Bernard und mich damals im Naturpark festgehalten haben.
Henri presst sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster, flüstert meinen Namen und deutet mit einem Kopfnicken zur Tür. Offenbar will er, dass wir uns aus dem Staub machen.
Ich schüttele den Kopf.
Es sind nicht diese Menschen, die ich gerochen habe.
Kaum habe ich das gedacht, tauchen die schwarzen Wölfe in der Gasse auf.
Langsam schleichen sie von den Seiten in mein Sichtfeld und umzingeln die Bewaffneten. Ihre geduckte Körperhaltung, die gefletschten Zähne und das rote Schimmern in ihren Augen sind unmissverständlich. Sie haben nicht vor, die Männer passieren zu lassen.
Henri atmet langgezogen aus. Sogar er kann die Spannung spüren, die plötzlich in der Luft liegt.
Die bewaffneten Männer rücken näher zusammen. Sie kommunizieren mit kurzen, knappen Worten und Gesten. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, aber ich kann riechen, dass sie unruhig werden. Kein Wunder. Die schwarzen Wölfe sind keine Grenzwächter, keine stummen Beobachter. Sie werden angreifen, wenn einer der Männer eine falsche Bewegung macht.
"Was ist hier los?", flüstert Henri. "Ich dachte, Personnes Leute und die schwarzen Wölfe würden auf einer Seite stehen."
Ich zucke mit den Schultern. "Keine Ahnung. Offenbar gibt es Spannungen."
"Spannungen?", echot Henri ungläubig. Als ich darauf nichts erwidere, ergänzt er: "Wie auch immer ... wir sollten uns jetzt besser verdrücken."
Es fällt mir schwer, mich vom Anblick des Geschehens in der Gasse zu lösen. Der Standoff zwischen Menschen und Wölfen fasziniert mich.
Zum einen weil er in der Öffentlichkeit stattfindet, zum anderen weil ich darin eine Möglichkeit erkenne. Frei nach dem Motto: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Kann es uns gelingen, einen Keil zwischen die Madame und Personne zu treiben? Ist das der Weg zum Sieg?
Um diese Frage zu beantworten, müsste ich wissen, um was es in der Auseinandersetzung zwischen Menschen und Wölfen geht. Doch aus der Entfernung ist das schwer zu sagen.
Die schwarzen Wölfe ziehen ihren Kreis um die Männer immer enger, aber greifen nicht an. Ihr Auftritt wirkt vielmehr wie eine Machtdemonstration.
"Chloé!" Henris Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen. Er steht bereits an der Tür. "Komm jetzt!"
"Warte. Hilf mir mal."
"Wobei?"
Ich werfe ihm mein Kleid zu, reiße die dritte Schranktür auf und suche etwas zum Anziehen für ihn heraus.
"Ist das dein Ernst?"
"Stell keine unnötigen Fragen und hilf mir, dann geht's schneller."
Henri rollt mit den Augen. "Bernard würde ich zutrauen, dass er wegen eines Armani-Anzugs erschossen wird, aber du-"
"Bernard trägt kein Armani", falle ich Henri ins Wort. "Er mag italienische Marken nicht. Die Stoffe sind ihm zu weich."
Henri schnappt sich das Kleid und legt es sich über den Arm. "Das war ja nur ein Beispiel."
Draußen vor dem Fenster löst sich ein Schuss.
"Verdammt!" Henri zuckt zusammen. "Ich hätte mein Gewehr mitnehmen sollen."
"Das rettet uns auch nicht", kontere ich, stopfe Henris Klamotten in einen alten Rucksack und werfe ihn mir über die Schulter. "Los jetzt. Lass uns gehen."
Das muss ich Henri nicht zwei Mal sagen. Wir huschen aus der Wohnung in den Flur hinaus. Während wir die Treppe hinunterstürmen, werde ich für ein paar Sekunden regelrecht wehmütig. Als Henri und ich hier eingezogen sind, hatte ich so viele Hoffnungen für unser gemeinsames Leben. So viele Träume und Pläne. Doch jetzt ist alles anders gekommen. Vermutlich werde ich unsere Wohnung, die knarzenden Stufen und wasserfleckigen Wände nie wiedersehen. Doch natürlich habe ich keine Zeit, der Vergangenheit nachzutrauern.
Am Fuß der Treppe wenden wir uns dem Hinterausgang zu.
Wir müssen einen rostigen Wäscheständer und ein halbhohes Schuhregal beiseite schieben, bevor wir die Tür öffnen können.
Dahinter liegt ein an drei Seiten von Wohnhäusern umschlossener Hinterhof, in dem sich allerlei Müll und Metallschrott angesammelt haben, darunter Gartenwerkzeuge, Kinderfahrräder, vergammelte Plastikmöbel, Abdeckplanen, Blumentöpfe, Bettgestelle und sogar ein löchriges Kanu. Die Mauern sind mit großflächigen Graffitis beschmiert. Regen plätschert aus den überlaufenden Regenrinnen und sammelt sich in Pfützen auf dem Straßenpflaster. Der Geruch von Feuchtigkeit, Moder und Abfall ist so intensiv, dass es mir den Atem raubt.
"Alles in Ordnung, Chloé?", fragt Henri.
Ich nicke und schlucke die aufkeimende Übelkeit herunter. Manchmal sind Wolfssinne wirklich keine Hilfe.
Henri wirft mir noch einen zweifelnden Blick zu, dann setzt er sich wieder in Bewegung. Wir durchqueren den Hinterhof und laufen unter einem von Efeuranken überwucherten Torbogen auf die Gasse hinaus.
Der Gestank von schwarzen Wölfen hängt in der Luft wie ein Pesthauch.
Irgendwo über uns wird ein Fenster zugeschlagen und ich erinnere mich wieder daran, dass die meisten Anwohner von Antoine Lavigne eingesetzt worden sind. Ob seine Initiés immer noch hier wohnen oder sind sie mit den Lavignes aus der Stadt geflohen?
Gerade als wir in die Gasse einbiegen, kommen weitere bewaffnete Männer vom Hafen her den Hügel hinauf.
Ich sehe sie zuerst, packe Henris Handgelenk, wirbele ihn herum und sprinte los.
Henri versteht sofort, was los ist, und läuft mir nach.
Die Männer rufen etwas, das nach "Da sind sie!" klingt, und folgen uns. Ich weiß nicht, was sie wollen, aber ich habe auch nicht vor, es herauszufinden.
Meine Sneakers patschen über das unebene Straßenpflaster und durch eiskalte Pfützen. Regen klatscht mir ins Gesicht und tropft in den Ausschnitt meines Sweaters. Der Rucksack knallt bei jedem Schritt gegen meine Hüfte.
"War nicht die Rede von Freies Geleit? Oder bilde ich mir das nur ein?", keucht Henri knapp hinter mir.
Da ich nicht gleichzeitig rennen, denken und reden kann, bleibe ich ihm eine Antwort schuldig.
Die Jagdsituation weckt meine Wolfsnatur. Der Drang, mich zu verwandeln, brennt in meinen Adern. Die Welt um mich herum verschiebt sich. Konturen treten stärker hervor, Farben und Details verblassen. Geräusche werden unnatürlich laut, Gerüche unnatürlich klar.
Ein wahrer Sturm an Informationen zieht über mich hinweg. Auf einmal weiß ich, wer in den vergangenen Stunden durch diese Gasse gegangen ist, was die Menschen in den angrenzenden Häusern essen und wegschmeißen, wie es um die Gesundheit der Nachbarshunde bestellt ist und wo die Ratten ihre Schlupflöcher haben. Mein Wolfshirn könnte diese Informationen problemlos verarbeiten oder verdrängen, aber mein Menschenhirn ist damit heillos überfordert.
Verwirrt und leicht benommen taumele ich um die nächste Ecke.
Henri hakt sich bei mir unter und zerrt mich mit sich.
Der Geruch von Eukalyptus, Salzwasser, Blut und Einsamkeit wird drückend. Wie eine schwarze Nebelwand hüllt er uns ein. Eine eisige, gestaltlose, grausame Kälte.
Instinktiv schrecke ich zurück und will in die andere Richtung, aber ich kann nicht. Etwas hält mich fest. Der Verwandlungsimpuls frisst sich durch meinen Körper wie beißendes Gift.
"Chloé! Chloé!"
Ich werde geschüttelt.
Mit einem unartikulierten Knurren schubse ich meinen Angreifer von mir.
Gleichzeitig nehme ich etwas wahr. Etwas, das mich noch tiefer in das Gefühlsleben meines inneren Wolfs hineintauchen lässt. Gerüche, Geräusche und körperliche Empfindungen sind so sehr vermischt, dass es mir schwer fällt, es zu beschreiben. Es ist gleichermaßen kalt und heiß, laut und leise, dunkel und hell, süß und bitter, buttrig und metallisch, bekannt und fremd.
Verschwommen kann ich sehen, wie die schwarzen Wölfe an uns vorbeigleiten.
Sie scheinen aus allen Winkeln und Ecken von Le Panier ins diffuse Tageslicht zu kriechen. Aus Seitengassen und Hinterhöfen, von höher gelegenen Treppen, eisenumzäunten Balkonen und niedrigen Flachdächern. Wie eine kleine Armee verstellen sie unseren Verfolgern den Weg.
Und dahinter ... irgendwo ... ich kann nicht genau sagen, wo ... der Geruch scheint von allen Seiten zu kommen ... das Gefühl direkt aus meinem Innern ... spüre ich seine Anwesenheit.
"Chloé!"
Henri packt mich an den Schultern und schüttelt mich erneut.
"Chloé! Komm zu dir!"
Henri beugt sich vor und sieht mir ins Gesicht. "Nenn' mir zehn berühmte französische Maler", verlangt er und schüttelt mich noch einmal. "Sofort!"
"M-Monet", stammele ich.
"Mit Vor- und Nachnamen! Und ihrem berühmtesten Werk!"
Seine Forderung tröpfelt durch meine beeinträchtigen Sinne und löst in meinem Innern eine Kaskade von Gedanken und Gefühlen aus.
Ich kann mir ein leises, spöttisches Lachen nicht verkneifen. "Oh, das ist gar nicht so einfach. Jeder kennt Monets Seerosen-Serie, aber Impression, Sonnenaufgang hat ihn zum Vater des Impressionismus gemacht, auch wenn es damals verlacht wurde. Und Meules ist sein teuerstes Werk. Über 110 Millionen Dollar, kannst du dir-"
Mitten im Satz halte ich inne. Mir wird bewusst, dass ich Henri wieder klar sehen kann. Das Brennen in meinen Adern ist erloschen. Die Welt ist wieder so grau und eintönig, wie sie für einen Menschen abseits eines Drogenrausches sein sollte.
"Bist du wieder da?", fragt Henri.
"Ja, ich glaube schon", antworte ich verlegen.
Henri wirft einen Blick zu den schwarzen Wölfen, die sich erneut den Bewaffneten in den Weg gestellt haben. Augenscheinlich, um uns die Flucht zu ermöglichen.
"Gut, dann lass uns verschwinden."
Henri fasst meine Hand, so fest, dass ich meine Wolfskräfte aufwenden müsste, um ihn loszuwerden – und selbst dann würde ich mir vermutlich noch die eigenen Finger abreißen.
Hand in Hand setzen wir unseren Weg fort, bis wir den Parkplatz erreichen.
An der Windschutzscheibe klemmt eine Plastiktüte mit einem Briefumschlag.
Ich nehme ihn an mich, bevor ich komplett durchnässt auf den Beifahrersitz gleite.
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