
Chapitre 5
Am nächsten Tag setzen Henri und ich unseren Weg fort. Todesmutig fahren wir tiefer in die Höhle des Löwen, über die Autoroute 50 hinein nach Marseille.
"Es ist so ... komisch", murmelt Henri, während ich durch die Stadt navigiere, vorbei am Cimetière Saint Pierre, dem größten Friedhof von Marseille, und dem Patinoire de la Capelette, einer modernen Eissport- und Skate-Halle mit einem asymmetrisch geschwungenem Dach.
Der Himmel ist bleibgrau und hängt tief über der Stadt. Regen überspült den Asphalt und die Scheibenwischer sind im Dauereinsatz.
"Was ist komisch?", erkundige ich mich.
Henris Augenbrauen bilden ein steiles V über der Nasenwurzel. "Die Madame hat Marseille erobert und dennoch sieht alles so normal aus."
"Was hast du denn erwartet?"
"Keine Ahnung." Henri zuckt mit den Schultern. "Vielleicht ... Soldaten ... Straßensperren ... brennende Barrikaden ... sowas eben."
"Du vergisst, dass wir es mit schwarzen Wölfen zu tun haben", erinnere ich ihn. "Die Gesetze des Swarg verbieten es ihnen, Menschengestalt anzunehmen." Ich seufze theatralisch. "Und als Wolf ist es echt schwer, Molotowcocktails zu basteln."
Henri spitzt spöttisch die Lippen. "Kein Scheiß?"
"Kein Scheiß", bestätige ich. "Hat etwas mit den opponierbaren Daumen zu tun."
"Aber die schwarzen Wölfe haben doch menschliche Helfershelfer, wie diesen Personne."
"Ja, schon, aber vermutlich nicht genug, um sich mit der normalen Polizei oder dem Militär anzulegen."
"Wie wollen sie dann die Menschheit versklaven?"
"Das musst du die Madame fragen."
"Mach ich." Henri zückt sein Handy.
"Was hast du vor?", will ich wissen.
Henri tippt auf dem Display herum. "Ich mach mir eine Notiz, damit ich nicht vergesse, sie zu fragen."
Ich verdrehe die Augen. "Manchmal bist du so ein Trottel."
"Nur manchmal?"
"Wenn du böse Menschen und Wölfe abknallst, um mich und meine Freunde zu retten, bist du ganz in Ordnung", gebe ich zu.
Henri hebt das Handy an den Mund, als wollte er eine Sprachnachricht diktieren. "Memo an mich selbst: Mehr böse Menschen und Wölfe abknallen."
"Dazu wirst du schon bald genug Gelegenheit haben", prophezeie ich ihm düster.
Darauf sagt Henri nichts mehr.
Wir parken etwas außerhalb von Le Panier und machen uns zu Fuß auf den Weg zu unserer Wohnung. Mit gesenkten Köpfen stapfen wir durch die Pfützen, die sich auf dem Trottoir gebildet haben. In den steilen Gassen staut sich das Regenwasser und bildet kleine Flüsse und Kaskaden, die gluckernd und gurgelnd hangabwärts sprudeln.
Schon nach wenigen Schritten durch das Viertel bemerke ich die Veränderung, die mein Zuhause überrollt hat. Henri kann es nicht wahrnehmen, aber ich rieche es ganz deutlich. Der Geruch des Lavigne-Rudels ist verschwunden. Stattdessen stinkt es durchdringend nach Salzwasser, Eucalyptus und Tod.
Nur mit Mühe unterdrücke ich den Impuls, mich zu verwandeln.
Nervös schweift mein Blick über verlassene Tische und Stühle, verwaiste Fabriken mit vergitterten Fenstern, Häuser mit verblichenen Fassaden, hölzernen Fensterläden und gusseisernen Balkongeländern.
Normalerweise ist Le Panier ein bunter Ort voller Gegensätze und Kontraste, doch heute wirken sogar die farbenfrohen Graffitis, die an beinahe jeder Hauswand zu finden sind, trübe und stumpf.
Henri scheint meine Unruhe zu spüren und fasst nach meiner Hand. Ich wehre ihn ab. Nicht, weil ich nicht gerne seine Hand halten würde, wie ich ihm mit einem knappen Lächeln zu verstehen gebe, sondern weil ich meine Hände bei mir behalten will, falls wir angegriffen werden sollten.
Henri hat sein Gewehr im Wagen gelassen, also stehe nur ich zwischen uns und unseren Feinden.
"Denkst du, sie beobachten uns noch immer?", fragt Henri nach einer Weile.
Ich nicke.
Henri presst die Lippen aufeinander und sieht sich nach allen Seiten um. Doch mit den Augen allein wird er die schwarzen Wölfe niemals entdecken.
Ich kann sie dagegen nicht bloß riechen, sondern auch fühlen. Ihre eisige Kälte kriecht mir mit der Feuchtigkeit unter die Haut, bis hinein in die Knochen. Jeder Schritt fällt mir schwer, als müsste ich mich durch einen unsichtbaren Morast kämpfen.
Dieses Gefühl ist anders, als bei meinen bisherigen Begegnungen mit den schwarzen Wölfen, aber ich kann nicht sagen, ob sie sich verändert haben oder ob ich mich verändert habe – oder ob sich bloß mein Bild von ihnen verändert hat.
Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, unsere letzten Aufeinandertreffen hätten keinen Eindruck auf mich gemacht: die Armee der schwarzen Wölfe im Naturpark, das öffentliche Aufeinandertreffen am IKEA und der Angriff der brennenden Wölfe auf unser Rudelhaus.
Doch da ist noch etwas Anderes, das ich nicht recht beschreiben kann.
Wie so oft ist es Henri, der den Dingen, die ich bloß instinktiv begreife, verbal Ausdruck verleiht.
"Bernard wird bestimmt schon hier sein, oder?"
Ich erschaudere so heftig, als hätte man mir einen Eimer mit Eiswasser in den Nacken gekippt.
Das ist es!
Bernard!
Er verursacht dieses Gefühl, diese Kälte.
Ich nehme meinen Seelenverwandten zum ersten Mal so wahr, wie ihn rudelfremde Wölfe wahrnehmen müssen. Nicht als vertrauten Beschützer, der nach Koriander und Harissa duftet, wie ein algerischer Markt, sondern als gnadenlose und unvermeidliche Bedrohung.
"Chloé?", fragt Henri. "Alles in Ordnung?"
Ich ringe die Furcht nieder, die wie eine Welle der Übelkeit in mir aufsteigt. "Ja", presse ich heraus. "Alles prima."
"Du bist ganz schön blass", meint Henri. "Sollen wir vielleicht bei Pepite vorbeischneien?"
"Nein, nein", wehre ich ab. "Mir geht's gut." Ich schlucke eine zweite Welle der Angst herunter. "Und ja, Bernard ist bestimmt schon in der Stadt."
Vielleicht ist er sogar schon ganz in der Nähe und beobachtet uns.
Bei dem Gedanken stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Ich will Bernard nicht begegnen und gleichzeitig kann ich es auf eine schräge Weise kaum noch erwarten, ihn wiederzusehen. Er ist immer noch mein Loup du cœur. Außerdem habe ich ihn seit unserem Stelldichein auf dem Raststättenklo nicht mehr gesehen. Vielleicht kann ich ihn irgendwie davon überzeugen, dass sein Weg falsch ist, wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Vielleicht kann ich ihn wieder zurückholen, von der dunklen Seite. Dafür sorgen, dass er wieder nach Koriander und Harissa duftet und nicht nach der Einsamkeit und Kälte eines Solitaires.
Wenig später erreichen Henri und ich ohne Zwischenfälle unsere Wohnung.
Dort sieht es aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Vermutlich haben die Lavignes auf der Suche nach Lilou alles durchwühlt. Gestohlen haben sie jedoch nichts, wie ich nach einer kurzen Bestandsaufnahme feststelle. Dafür haben sie einige meiner Gemälde und Werkstücke kaputtgeschlagen, Skizzenblöcke zerfetzt und Henris Uni-Aufzeichnungen zerrissen.
Aber das ist jetzt alles nicht wichtig.
"Wieso eigentlich das Savon et Essence?", erkundigt sich Henri, während er in den Küchenschränken kramt.
"Keine Ahnung", seufze ich und wende mich unserem Schlafzimmer zu.
Der Raum ist winzig. Zwischen unserem Doppelbett und dem Kleiderschrank ist gerade so viel Platz, dass ich die Schranktüren aufklappen kann. Durch das halb geöffnete Fenster dringt das Prasseln des Regens auf dem Wellblechdach einer kleinen Schmuckwerkstatt herein und die Vorhänge bewegen sich in einem schwachen Luftzug, der vom Hafen her in die Stadt weht.
"Ich musste Bernard ja irgendetwas sagen und da ist mir nur das Savon et Essence eingefallen."
"Der Club ist aber ziemlich nobel", bemerkt Henri aus der Küche.
"Ich weiß. Wir haben Juliettes Geburtstag dort gefeiert, weißt du noch?"
"Stimmt. Juliette ... deine Freundin mit den pinken Haaren und den Schreiner-Händen."
"Sie hat keine Schreiner-Hände."
Henri schnalzt vielsagend mit der Zunge.
"Ihrem Vater gehört ein teures Antiquitätengeschäft", entgegne ich, während ich den Schrank nach passender Kleidung durchsuche. Vorbei sind die Zeiten legerer Kleider mit schwingenden Faltenröcken und tiefen Taschen. Wenn Bernard spielen will, werde ich spielen. "Monsieur Gamache ist Teilhaber im Savon und hat die Party damals organisiert."
"Man sieht Juliette nicht an, dass sie Geld hat", bemerkt Henri und lehnt sich mit einer Tüte Erdnüsse in den Türrahmen.
Ich runzele missbilligend die Stirn.
"Als wir ihr diese teure vegane Seife geschenkt haben, dachte ich nur: Hoffentlich benutzt sie sie auch."
"Henri!" Ich bewerfe ihn mit einem ausgeleierten Plastik-Kleiderbügel, der wegen seiner mangelnden Flugeigenschaften ungelenk in der Luft herumeiert und Henri schließlich – statt am Kopf – genau am Schritt trifft.
"Na toll", brummt Henri. "Ich weiß ja, dass das bei uns mit dem Kinderkriegen schwierig wird, aber du musst ja nicht gleich radikale Maßnahmen ergreifen."
"Das geschieht dir Recht", erwidere ich naserümpfend. "Du kannst doch nicht so über meine Freundin reden."
Henri schiebt sich eine Erdnuss in den Mund, höchstwahrscheinlich, um sich von einer Antwort abzuhalten.
Ich ziehe ein Kleid aus dem Schrank und betrachte es im trüben Tageslicht. Ein schickes, smaragdgrünes, hautenges Kleid, das Chalice für mich ausgesucht hat. Ich habe es noch nie getragen, weil ich keinen passenden Anlass dazu hatte. Das Kleid ist viel erwachsener als ich mich fühle, aber das kann derzeit nur von Vorteil sein. Bernard soll nicht denken, dass er es noch mit der kleinen, hilflosen Chloé von früher zu tun hat.
"Sicher?", fragt Henri, als ich das Kleid auf dem Bett zurechtlege.
"Wieso fragst du?"
"Auch auf die Gefahr hin, dass du mich kreuzigst, aber das Kleid passt nicht so richtig zu dir."
"Gut", erwidere ich grimmig.
Henri scheint darauf zu warten, dass ich dem noch etwas hinzufüge, aber als er merkt, dass das nicht passiert, trifft er die schlaue Entscheidung und widmet sich wieder seinen Nüssen.
Genau in diesem Moment verdichtet sich der Gestank der schwarzen Wölfe, der durch das halb geöffnete Fenster ins Zimmer geweht wird. Und nur Sekunden später sind von draußen aufgebrachte Stimmen zu vernehmen.
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