Chapitre 12
"Ich?", hauche ich, beinahe tonlos.
Ein Kribbeln überzieht meinen ganzen Körper. Eine seltsame Mischung aus Erregung und Ekel.
Bernard lehnt sich zurück, dreht sein Glas zwischen den Fingern und betrachtet mich abschätzend.
"Das Überleben unserer Spezies?" Meine Stimme schwankt. Ich ahne, worauf Bernard hinauswill, aber ich hoffe, dass ich mich irre. Das ist doch einfach lächerlich.
Bernard schweigt und starrt mich an. Vielleicht will er mich aus der Reserve locken. Wenn ja, macht er einen guten Job.
Zum wiederholten Male frage ich mich, was mit ihm passiert ist. Hat er einen Schlag auf den Kopf bekommen? Dieser Mann, der mir gegenüber sitzt, kann unmöglich der gleiche Mann sein, der mich als Kind von der Schule abgeholt hat. Derselbe Mann, der mich im Wintercamp vor den schwarzen Wölfen gerettet hat. Der Mann, dem meine Eltern ihr Leben und Chalice ihr Herz anvertraut haben. Habe ich ihm das angetan? Habe ich ihn irgendwie zu dem gemacht?
"Was habe ich mit dem Überleben unserer Spezies zu tun?"
Bernard schürzt beinahe mitleidig die Lippen. "Was denkst du denn?"
Ich spüre, wie Henri sich versteift.
Die Musik wechselt. Lichter wirbeln durch die Luft. Menschen jubeln im Chor. Der Beat nimmt an Intensität zu und frisst sich wummernd durch Wände, Boden und Möbel. In unseren Champagnergläsern bilden sich konzentrische Ringe.
"Ich werde nicht deine ..." Das Wort Königin bringe ich nicht über die Lippen. "... Gefährtin werden."
Bernard sieht mich weiterhin unverwandt an. So lange, dass ich mich schon frage, ob er geistig weggetreten ist, aber dann geht ein Ruck durch seinen Körper. Er setzt sich aufrecht hin und stellt sein Glas auf den Tisch, ohne davon getrunken zu haben. "Ich will ganz ehrlich zu dir sein, Chloé ..."
"Du meinst, zur Abwechslung?", falle ich ihm ins Wort.
Bernard lächelt schmal. "Ja, zur Abwechslung." Er verschränkt die Finger ineinander. "Die Madame möchte, dass du ihre Nachfolgerin wirst."
"Ihre Nachfolgerin?", wiederhole ich ungläubig. "Aber ... wieso? Ist sie krank oder ...?"
"Nein, das nicht." Bernard lässt sich wieder zurücksinken. "Was weißt du über das Letzte Königreich?"
Ich zucke mit den Schultern. "Dass ich nicht darin leben möchte."
"Also nichts", stellt Bernard fest.
Jetzt bin ich es, die ihn anstarrt und auf eine Reaktion von ihm wartet.
Nach ein paar Sekunden wird sein Gesicht weicher. Kein Lächeln, aber kurz davor. Offenbar amüsiert er sich. Ich frage mich, ob er Spaß an diesem Katz-und-Maus-Spiel hat.
Doch welcher Wolf – welcher echte Wolf – hätte das nicht?
"Die Gesetze des Swarg beruhen auf einer alten Prophezeiung", fährt Bernard fort. "Die besagt, dass der Swarg von den Toten auferstehen wird, wenn das Letzte Königreich errichtet wurde."
"Jetzt sag nicht, dass du an diesen Blödsinn glaubst."
"Es spielt keine Rolle, was ich glaube."
"Natürlich tut es das."
"Die schwarzen Wölfe glauben es und nichts ist schwieriger, als gegen einen Mythos anzukämpfen."
"Voltaire", erkennt Henri.
Bernards Blick zuckt zu ihm. Offenbar hat er nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Henri dieses Zitat erkennen würde.
"Aber Voltaire hat auch gesagt: Wer dich dazu bringt, Absurditäten zu glauben, bringt dich auch dazu, Ungerechtigkeiten zu tun", ergänzt Henri.
"Ist es denn absurd, zu glauben, dass jemand vom Tod auferstehen könnte?", erwidert Bernard. Sein Blick wandert wieder zu mir. "In einer Welt voller Wölfe und Hexen?"
"Vermutlich nicht", gebe ich widerstrebend zu.
"Nicht, dass es eine Rolle spielen würde." Bernard seufzt. "Die Madame, Personne und die schwarzen Wölfe werden dieses Letzte Königreich errichten."
"Ein Königreich, in dem die Gesetze des Swarg gelten", ergänze ich scharf.
Bernard nickt.
"Aber die Gesetze des Swarg sind grausam." Ich knalle mein Glas auf den Tisch. "Swarg-Wölfe lehnen ihre wahre Gestalt ab, Fähen sind Geburtsmaschinen und Menschen dienen höchstens als Sklaven."
"Swarg-Wölfe ehren ihre wahre Gestalt", hält Bernard dagegen. "Fähen können wählen, was sie sein wollen, und Menschen nehmen ihren rechtmäßigen Platz in der Nahrungskette ein. Diese Art zu leben ist viel natürlicher als diese aufgezwungene Ordnung aus Alpha, Beta und Gamma."
"Und was ist mit den Omegas?"
"Es gibt keine Omegas", widerspricht Bernard.
Ich schnaube. "Das habe ich anders gehört."
"Die Swarg-Gesellschaft ist sehr ausgeglichen. Natürlich gibt es, wie überall, Gewinner und Verlierer, aber wir geben dem keinen Namen und schließen niemanden aus." Bernard zieht eine Braue hoch. "Ganz anders als die derzeitige Werwolf-Gesellschaft, in der Wölfe ohne Rudel verstoßen, verjagt und sich selbst überlassen werden."
"Na schön", lenke ich ein. "Aber auch bei den Swarg-Wölfen gibt es einen König, oder? Was ist der Unterschied zu einem Alpha?"
"Fragst du mich das wirklich?", erwidert Bernard mit ausdrucksloser Miene.
Ich weiß nicht, worauf er hinauswill.
"Wie viele weibliche Alphas kennst du?"
Keine, erklingt es in meinem Kopf.
Oder doch. Eine.
"Aber ... das ist doch kein Argument", stammele ich.
"Ist es das nicht?" Bernard schnalzt mit der Zunge. "Neulich klang das aber noch ganz anders."
Ich falte die Arme vor dem Körper. Mir ist kalt. Bilde ich mir das bloß ein oder hat sich irgendwo eine Tür oder ein Fenster geöffnet?
"Auf der Marquage wolltest du noch die Welt verändern und verhindern, dass Fähen unter dem Vorwand des Seelenbundes in eine ungewollte Beziehung gezwungen werden."
"Du verdrehst mir die Worte im Mund."
Bernard legt den Kopf schief. "Wenn man etwas verändern will, muss man Kompromisse schließen. Und das Letzte Königreich könnte ein Anfang sein."
"Von was? Von einem großen Krieg? Von Leid und Zerstörung?" Meine Stimme wird mit jedem Wort kräftiger. "Du denkst doch nicht wirklich, dass ich einen Kompromiss unterstützen werde, der die Menschen verletzt, die ich liebe?" Am liebsten würde ich es Bernard ins Gesicht schreien: Wie kannst du den Wölfen, die dich lieben, das antun? "Also wenn die Madame möchte, dass ich ihre Nachfolgerin werde, dann sag ihr, dass-"
"Sie würde dich zur Königin des Letzten Königreichs machen", fällt Bernard mir ins Wort.
Ich schlucke den Rest meines Satzes herunter.
"Dir muss doch klar sein, dass das eine gewaltige Chance ist", schiebt Bernard hinterher.
"Aber wieso sollte sie das tun?"
Bernard räkelt sich auf dem Sofa und streicht mit den Fingern über den Saum seines Jacketts. "Ganz einfach. Es heißt, jedes Rudel wäre stabiler, wenn es von einem Alpha und einer Luna angeführt wird, die seelenverwandt sind."
"Die schwarzen Wölfe glauben doch nicht an Seelenverwandtschaft."
"Nein. Man muss aber auch nicht an etwas glauben, um dessen Nützlichkeit anzuerkennen. Auch Ungläubige berufen sich auf Allah, wenn es ihren Zwecken dient. Und gerade in einer Phase des Umbruchs und des Übergangs können solche Überlegungen relevant sein."
Ich schaudere leicht. "Dann will die Madame, dass ich ihre Nachfolgerin werde, weil ..."
"Weil sie selbst ihren Seelenverwandten bereits verloren hat."
"Sie hat ihn getötet", fällt es mir wieder ein. Julien hat davon gesprochen. Vielleicht sind Bernard und ich doch nicht die ersten Seelenverwandten, die sich gegenseitig töten.
"Das ist ... so nicht ganz richtig."
"Wie war es dann?"
"Das ist jetzt nicht von Belang."
Ich kann meinen Ärger nicht länger verbergen. "Und was ist dann von Belang?"
"Wir beide könnten unsere Spezies in ein neues Zeitalter führen."
Ich schüttele den Kopf. "Wieso wir? Wieso ich? Wieso nicht irgendein anderes Seelenverwandten-Paar?"
Bernard schweigt.
"Will sie sich an mir rächen? Für die Sache in Poussant?"
"Vielleicht war sie auch einfach nur von deinem Auftritt auf der Marquage beeindruckt", entgegnet Bernard. "Du willst etwas verändern?" Er zuckt mit der linken Schulter. "Bitteschön. Du hast die Wahl. Das Letzte Königreich wird kommen. So oder so. Entweder du setzt dich an die Spitze oder du wirst mit den Anderen darunter zermalmt." Er beugt sich vor und senkt die Stimme. "Das ist deine Gelegenheit, wirklich etwas zu verändern." Sein Blick wandert zu Henri. "Du willst, dass er überlebt? Von mir aus, mir ist es einerlei. Aber wenn du ihn retten willst, solltest du das Angebot der Madame annehmen. Andernfalls wird er ganz sicher sterben. Genau wie der Rest deiner Familie und dein Rudel. Da solltest du dir keine Illusionen machen."
Mein Hals schnürt sich zusammen. "Das ist Erpressung".
"Das ist die Realität", kontert Bernard und mustert mich, als wollte er in meiner Miene lesen. "Du hältst mich für grausam?"
Ich blinzele angestrengt in das Stroboskop-Gewitter, das sich über uns ergießt. "Ich weiß gar nicht mehr, was ich von dir halten soll."
Im Flackerlicht sind von Bernard nur die blau glühenden Augen zu erkennen. "Ich habe mich nicht verändert."
Mir entweicht ein kurzes, unechtes Lachen. "Der alte Bernard hätte niemals sein Rudel verraten."
"Der alte Bernard hatte zumindest ein Rudel."
"Papa würde dich bestimmt wieder aufnehmen, wenn du ihm Maman zurückbringst."
"Vielleicht bin ich es leid, ein Beta zu sein. Hast du daran mal gedacht, Chloé?"
"Und was ist mit Chalice? Bedeutet sie dir gar nichts?"
"Chalice ist dir in vielerlei Hinsicht voraus, Chloé."
Ich runzele die Stirn. "Wie meinst du das?"
"Sie weiß, wer ich bin, und deshalb versucht sie auch nicht, mich aufzuhalten."
"Ich dachte, ich wüsste, wer du bist."
"Du weißt ja nicht einmal, wer du selbst bist."
"Ich muss ein ziemliches Arschloch sein, wenn du mein Seelenverwandter bist."
Jetzt kann ich Bernard sogar durch das Flackerlicht lächeln sehen. "Es ist ein Arrangement, Chloé, keine Liebeshochzeit. Ich erwarte von dir nicht mehr Engagement als auf dem Ratststättenklo."
Mein Inneres verkrampft sich und meine Finger krallen sich wie von selbst um den Griff der Clutch, bis das Zierwerk in meine Haut schneidet. "Du bist ein Scheißkerl."
Bernard erhebt sich vom Sofa und knöpft sein Jackett zu. "Schon immer gewesen, Chloé. Wie gesagt, ich habe mich nicht verändert."
"Was hast du vor?"
"Wir müssen gehen."
"Gehen? Wohin?"
"Weg."
"Weg?"
Noch während ich das frage, wird mir bewusst, dass Henri nicht mehr hinter mir steht.
Ich fahre herum und entdecke ihn an der Treppe. Er hat seine Waffe gezogen und richtet sie in die Dunkelheit.
"Was ist denn los?"
"Wir kriegen Besuch." Bernard misst mich mit einem tadelnden Blick. "Jetzt sag nicht, du hast es nicht bemerkt ..."
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