Chapitre 93
Ich erkenne eine Gelegenheit, wenn ich sie sehe, und schlüpfe in meine Wolfgestalt. Meine Augen und meine Ohren mögen beeinträchtigt sein, aber meine Nase ist es nicht.
Während sich der Rauch immer weiter ausbreitet, sprinte ich los.
Meine Raubtierinstinkte laufen regelrecht Amok.
Ich breche durch die schwarzen Schwaden und stürze mich auf den Mann, der Manon die Welpen abgenommen hat. Meine Kiefer schließen sich um seinen Unterarm. Ich zerre ihn herum und reiße ihn zu Boden. Sein Knochen knacken wie trockene Nudeln. Er kreischt vor Schmerz, aber ich empfinde keinerlei Mitgefühl. Genüsslich zermalme ich seinen Arm und lasse nur von ihm ab, weil ich weiß, dass ich Personne finden muss.
Mit zwei Sätzen bin ich auch schon wieder im Dunst verschwunden.
Ich rieche Personne. Seine Arroganz. Seinen Schmerz. Seine Furcht.
Nur ein Mensch. Nur ein verschissener Mensch.
Und dann taucht er vor mir aus den Schwaden auf. Er krabbelt auf allen Vieren, Blut tropft aus einer oberflächlichen Wunde an seinem Bauch auf den Asphalt.
Als Personne mich entdeckt, lässt er die Welpen fallen, rappelt sich auf und stürzt zu seinem Wagen. Ich setze ihm nach und verbeiße mich in seinem Bein. Er will mich abschütteln, aber dadurch verhaken sich meine Zähne nur noch fester in seinem Fleisch. Sein Blut schmeckt genau so, wie ich es mir vorgestellt habe: nach gar nichts. Das hält mich aber nicht davon ab, bis auf den Knochen zuzubeißen und ihn wie ein Beutetier zu schütteln.
Personne holt mit dem anderen Bein aus und tritt mir gegen den Kopf. Beim dritten Tritt erwischt er mich am Auge und ich muss loslassen. Diese Gelegenheit nutzt er, um sich auf den Fahrersitz zu ziehen und eine Pistole zu zücken. Er drückt jedoch nicht ab und ich habe in Wolfsgestalt keinerlei Respekt vor Feuerwaffen.
Rasend vor Zorn schnelle ich vor und schnappe nach seinen Füßen. Meine Zähne bohren sich durch seine Lederschuhe, bis hinunter zur Sohle. Ich beiße ihm mehrere Zehen ab, bevor er mich mit einem schmerzerfüllten Aufschrei abermals abschütteln kann. Strampelnd, keuchend und fluchend schafft er es, die Fahrertür hinter sich zuzuziehen. Ich bin jedoch noch nicht fertig mit ihm, stelle mich auf die Hinterbeine und kratze an der Scheibe.
Personne gibt Gas, der Motor heult auf und der Wagen schießt los. Ich will die Verfolgung aufnehmen, doch dann kann ich das Winseln und Fiepen der Welpen hören und mein Zorn kühlt ab. Ich sehe dem Jaguar noch ein oder zwei Sekunden nach, dann tapse ich zurück in den Rauch, zu der Stelle, an der ich die Welpen zuletzt gesehen habe.
Mich erwartet einer der Männer. Er ist verletzt, liegt auf dem Boden und hat eine Pistole in der Hand. Aber er bedroht damit nicht mich, sondern die Babys.
Ich werde ihn zerreißen.
Dazu kommt es jedoch nicht. Ein Mann mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf, einem Gewehr im Anschlag und dem angenehmen Duft nach Zimt und rechtschaffenem Zorn, der ihn umweht, tritt aus dem Rauch. Als der Verletze die Waffe hebt, um auf ihn zu zielen, drückt der Zimt-Mann ab und trifft seinen Angreifer in den Kopf. Dieser kippt nach hinten um und bleibt reglos liegen.
Henri lässt sein Gewehr sinken.
Ich verwandele mich zurück. Die Opioide rauschen durch meine Adern und spülen für einige Sekunden alle Empfindungen davon. Mein eigener Herzschlag dröhnt in meinen Ohren und der Geschmack von Personnes Blut liegt wie ein Bleimantel auf meiner Zunge. Ich spucke zur Seite hin aus und kämpfe gegen die Übelkeit, die in mir aufsteigt.
Als ich mich wieder gefangen habe, wende ich mich an Henri: "Was machst du denn hier?"
"Würde es mir eine längere Diskussion ersparen, wenn ich sage, dass ich zufällig vorbeigekommen bin?", erwidert Henri mit einem schiefen Lächeln.
Neben seinem Indiana-Jones-Hut trägt er noch eine schusssichere Weste und einen Allzweckgürtel, an dem ein Messer und weitere Rauchbomben befestigt sind. Nie im Leben ist er zufällig vorbeigekommen.
Ich reibe mir die Stirn. "Henri ..."
Henri scheint sich für eine Standpauke zu wappnen. "Ja?"
"Danke."
Mehr kann ich nicht sagen. Henri hat uns gerettet. Ich habe keine Ahnung, wo Manon und die Welpen jetzt wären, wenn er nicht gewesen wäre.
Henris Lächeln wird breiter. Er streckt die Hand aus und boxt mich sanft gegen die Schulter. "Ich war cool, nicht wahr?"
Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, auch wenn ich es nicht bestreiten kann. Henri war ziemlich cool. Aber das sage ich ihm nicht. Stattdessen bücke ich mich nach den Welpen, die hilflos auf dem Asphalt liegen und nach ihrer Maman rufen. Langsam sammele ich sie auf. Erst Elena, dann Camilo. An meine nackte Haut gepresst, werden sie sofort etwas ruhiger, aber natürlich wissen sie, dass ich nicht ihre Mutter bin.
"Hier ..." Ich reiche Henri die Welpen. Wenn wir uns aufteilen, kann Personne uns zumindest nicht mehr alle erwischen. "Bring die zwei hier weg. Ich hole Manon. Wir treffen uns hinter der Grenze."
Henris Lächeln verblasst. Vorsichtig nimmt er die Welpen und steckt sie in die Taschen seiner Weste, sodass nur noch ihre Köpfe herauslugen. "War nicht die Rede von drei Welpen?"
"Der Dritte hat es leider nicht geschafft", flüstere ich und strecke mich Henri entgegen.
Er beugt sich vor und küsst mich flüchtig auf den Mund. Für mehr ist keine Zeit. Es reicht jedoch, um das Blut der Menschen von meinen Lippen auf Henris Lippen zu übertragen. Es glänzt feucht im Licht der Scheinwerfer. Henri scheint sich jedoch nicht daran zu stören.
"Pass gut auf die Welpen auf", sage ich zum Abschied.
"Ich beschütze sie mit meinem Leben", antwortet Henri und ich weiß, dass er es ernst meint.
Dann wendet er sich ab und verschwindet mit den Welpen im Unterholz.
Ich mache mich auf die Suche nach Manon. Es dauert etwas, bis ich sie inmitten der Rauchschwaden entdeckt habe. Blut läuft ihr aus der Nase, sie wirkt benommen und zittert am ganzen Körper. "Manon?", frage ich.
"Chloé?", schluchzt sie.
"Manon ..." Ich gehe neben ihr in die Hocke. Mein Blick fällt auf den Mann mit dem zermalmten Arm, der nur einen halben Meter entfernt liegt und sich nicht mehr rührt. Vielleicht hat er durch den Blutverlust einen Schock erlitten oder Henri hat ihn erschossen. Ich mache mir nicht die Mühe, es herauszufinden, sondern ziehe Manon auf die Beine.
"Wo sind die Welpen?", will Manon wissen.
"In Sicherheit", antworte ich. "Komm, lass uns gehen."
"Aber wo ...?" Sie sieht sich irritiert um. "Wo sind sie? Was sind das für Menschen? Wieso jagen die uns?"
"Deine Welpen sind bei Henri. Er bringt sie zur Grenze. Alles Andere erkläre ich dir später." Ich schiebe Manon zum Jaguar, der ein paar Dellen abgekriegt hat, aber noch fahrtüchtig zu sein scheint. Vorsichtig bugsiere ich sie auf den Beifahrersitz. Anschließend schwinge ich mich erneut hinter das Steuer und lenke den Wagen zurück auf die Straße.
"Henri", höre ich Manon flüstern. "Er passt auf die Babys auf, nicht wahr?"
"Ja, natürlich, Manon."
"Er ist ein guter Mann, Chloé."
Ich weiß, denke ich. Der Beste.
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