Chapitre 88
"Da!"
Florent deutet mit ausgestrecktem Arm zum Waldrand. Zwischen den Bäumen ist ein Schatten aufgetaucht, der sich dem Haus nähert.
Ich lehne mich aus dem Fenster und schnuppere, aber der Sturm beeinträchtigt meinen Geruchssinn. "Wer ist das? Ein Mensch?"
"Julien", antwortet Florent.
Kurz darauf kann ich es auch erkennen. Julien ist nackt und hat die Hände erhoben, wie zum Zeichen, dass er unbewaffnet ist. "Chloé! Florent!", brüllt er, um das Brausen des Sturms und das Donnern des Gewitters zu übertönen.
"Was ist?", rufe ich zurück.
"Ihr müsst von hier verschwinden! Sie kommen!"
Florent stützt sich auf dem Fensterrahmen ab. "Das wissen wir!"
"Ihr habt keine Ahnung!" Julien erreicht die Terrasse und verlangsamt seinen Lauf. Blitze zucken über den Himmel. "Das sind mehr als zwei Dutzend Kriegerwölfe. Dagegen habt ihr keine Chance."
"Was zur Hölle sind Kriegerwölfe?", will Florent wissen.
"Meine Mutter züchtet Wölfe für den Krieg."
"Was für ein Krieg?"
"Der Krieg um Paris." Julien bleibt schweratmend unter dem Fenster stehen. Einige seiner Wunden sind wieder aufgebrochen und bluten. "Und der Krieg gegen die Menschheit."
Florent runzelt die Stirn. "Hast du gesoffen?"
"Nein!" Julien funkelt ihn aus giftgrünen Augen böse an. "Aber darauf läuft es hinaus."
"Du willst uns bloß Angst machen", erwidere ich.
"Ihr solltet Angst haben!"
"Wenn es so gefährlich ist, wieso bist du dann nicht abgehauen?"
"Weil ich ohne Lilou nirgendwohin gehen werde!"
Florent schlägt mir schwach gegen den Oberarm, knapp unterhalb der Stelle, an der Julien mich gekratzt hat. "Sieh dir das an!"
"Was?"
Mein Blick zuckt zurück zum Waldrand. Dort sind Lichter aufgetaucht. Flackernde Lichter. Fackeln, ist mein erster Gedanke.
Die Lichter kommen näher und entpuppen sich als etwas, das deutlich größer ist als Fackeln.
Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Doch es hilft nichts. Ich habe keine Ahnung, was ich da sehe – und je länger ich darauf starre, desto schlimmer wird es. Wie eine von diesen Kippfiguren, auf denen man das Gesicht einer alten oder jungen Frau erkennen kann. Nur, dass ich keins von beidem erkenne. Ich sehe bloß Flammen und Schatten.
"Das darf doch nicht wahr sein", haucht Florent und richtet sich kerzengerade auf.
Ich wünschte, ich könnte sehen, was er sieht.
Nur ein oder zwei Sekunden später wünsche ich mir, ich könnte es nicht. Was da auf uns zu kommt, ist so ungeheuerlich, dass ich ernsthaft die Realität in Frage stelle. Ist das alles ein Traum? Habe ich einen Schlag auf den Kopf bekommen und liege im Koma?
Florent verschränkt die Hände im Nacken und schüttelt fassungslos den Kopf.
"Ich hab es euch ja gesagt!", ruft Julien, bevor er die Flucht antritt und sich ins Unterholz an der Westseite des Grundstücks schlägt.
Die Feuer kommen weiter auf uns zu. Inzwischen kann ich sehen, dass es sich um Wölfe handelt. Schwarze Wölfe. Viele von ihnen sind noch deutlich größer und muskulöser als die Exemplare, die Bernard und ich im Naturschutzgebiet gesehen haben.
Das eigentlich Erschreckende aber sind die Geschirre, die sie tragen. Die Gurte sind mit langen Metalldornen besetzt – und brennen lichterloh. Da sie eng an der Haut anliegen, hat bei einigen Wölfen auch das Fell Feuer gefangen. Nicht einmal der Regen kann diesen Brand löschen. Jedenfalls nicht so schnell, wie die Wölfe auf uns zugerannt kommen.
"Was soll das?", entweicht es mir. "Ihr Fell brennt! Was-?" Ich setze neu an. "Wieso-?"
Florent ächzt. "Der Schmerz muss sie rasend machen." Sein Kopfschütteln wird zu einem langsamen Nicken. "Zusätzlich zum Wolfskraut, nehme ich an."
"Aber wieso-?"
Ich halte inne, als mir klar wird, wie dumm meine Frage ist. Die schwarzen Wölfe sind offenbar wahnsinnig genug, um sich für etwas Extra-Adrenalin selbst in Brand zu stecken. Rasend vor Schmerz und aufgepumpt vom Wolfskraut werden sie kämpfen, bis sie tot umfallen. Wie kann die Madame das zulassen? Die Antwort lautet wohl: Es ist ihr völlig egal, wen sie auf dem Weg zum Letzten Königreich opfern muss. Aber warum ich? Wieso hat sie es auf mich abgesehen?
"Was für ein Spektakel", grollt Florent. "Das machen sie nur, um uns einzuschüchtern."
Da kann ich ihm nur zustimmen. Und es wirkt. Ich bin eingeschüchtert. Gleichzeitig denke ich, dass Bernard mit dieser Art Psychoterror mit Sicherheit nichts zu tun hat. Das ist nicht sein Stil. Ich kann es mir zumindest nicht vorstellen. Bernard ist eher kalt und effizient, ohne großes Drama. Aber das hier, das ist MacBeth mit Feuerwerk, Raketen und Orgelmusik von Hans Zimmer. Bestimmt hat die Madame sich das ausgedacht, um ihr Letztes Königreich zu promoten. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, wer dieses Theater inszeniert hat.
"Chloé! Florent!", ruft Pierre von unten. "Da draußen tut sich irgendwas."
"Ja, wir sehen es!"
"Nein, ich meine-"
Ein lauter Knall lässt mich zusammenfahren.
"Weg von den Fenstern!", befiehlt Gael.
Pierre flucht auf deutsch. "Tut mir leid, das war ich", kommt es anschließend kleinlaut von ihm.
"Ich hab doch gesagt, wir hätten ihn irgendwo einsperren sollen", grummelt Florent, aber ich höre es nur noch im Hinauslaufen. So schnell ich kann flitze ich über die Galerie zu meinem Beobachtungsposten auf der anderen Seite des Hauses.
Tatsächlich ist Bewegung in die Initiés gekommen. Sie haben ihre Autos verlassen und zwei Gruppen schwärmen zu den Seiten hin aus. Vermutlich wollen sie das Haus umstellen. Oder sie suchen eine bessere Schussposition. Sie können sich dem Haus zwar nicht weiter nähern, aber am oberen Ende der Böschung haben sie auf jeden Fall einen besseren Winkel, um auf die Fenster im Erdgeschoss zu schießen. Die hölzernen Fensterläden und die Glasscheiben werden einem andauernden Beschuss sicher nicht lange standhalten. Und dann sind da ja auch noch die brennenden Wölfe. Deren Inszenierung erinnert mich stark an das Theater, das Guy Durand vor vier Jahren in Poussant veranstaltet hat. Offenbar geht es der Madame vor allem um die Optik. Aber das heißt nicht, dass von den Wölfen keine Gefahr ausginge. Ganz im Gegenteil.
"Sie kommen!", höre ich Florent rufen. "Sie kommen jetzt!"
"Weg von den Fenstern", wiederholt Gael noch einmal.
Der Timer meiner Uhr gibt uns noch vierzehn Sekunden. Aber als Pierre und ich die Strecke abgerannt sind, hat unser Fell auch nicht in Flammen gestanden.
Unter mir poltert und kracht es.
Gleichzeitig nehmen die Initiés die Fenster im Obergeschoss unter Beschuss. Einem Instinkt folgend, der mich wie ein elektrischer Schlag durchzuckt, lasse ich mich fallen und robbe mit der Waffe in der Hand zur Tür. Glas splittert und Scherben prasseln um mich herum auf die Holzdielen.
"Chloé!"
Florent kommt zu mir gerannt, packt mich an den Armen und zerrt mich in den Flur hinaus. Ich rappele mich wieder auf und wir springen die Treppe hinunter. Durch die Lamellen fällt das flackernde, hellrote Licht der brennenden Wölfe herein, die sich wuchtig gegen die Fensterläden werfen. Das Holz wackelt und knarrt, aber es hält dem Ansturm stand.
Aus der Geburtsecke dringt das leise Maunzen und Fiepen von Welpen.
"Wie ist die Lage?", erkundige ich mich bei Zoé. Die Brille ist ihr weit über den Nasenrücken gerutscht, aber sie scheint es erst zu bemerken, als sie den Kopf dreht, um mich anzusehen. "Wir haben zwei Welpen", sagt sie und schiebt ihre Brille wieder zurück. "Aber beim Dritten gibt es ein Problem."
Das Herz in meiner Brust wird fest zusammengedrückt. Mein Blick fällt auf Gael, der neben Didi an der Wand lehnt, zwei winzige, noch feuchte Welpen auf dem Arm, und reichlich blass aussieht. Ich kann nicht beschreiben, wie viel Schmerz ich bei diesem Anblick empfinde.
Einer der Fensterläden bricht zur Seite weg.
Dahinter kommt die geifernde Fratze eines riesigen, schwarzen Wolfs zum Vorschein. Wut und Hitze steigen mir aus dem Bauch ins Gesicht. Ich sehne mich danach, Blut zu schmecken.
Florent muss es genauso ergehen. Er zieht seine Waffe aus dem Hosenbund, entsichert sie und schießt dem Wolf durch die Scheibe mitten in den Kopf.
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