Chapitre 84
"Denkst du wirklich, Bernard steckt dahinter?", fragt Florent, während wir beide die letzten Geburtsvorbereitungen beobachten.
Merlin will das Abschalten des Schutzzaubers so lange wie möglich hinauszögern, ohne die Welpen zu gefährden, aber selbst wenn die Geburt schnell und ohne Komplikationen über die Bühne gehen sollte, werden die schwarzen Wölfe wohl genug Zeit haben, um zum Rudelhaus durchzubrechen.
"Nein", antworte ich. "Aber es ist die einzige Erklärung, oder?"
"Vielleicht ist es auch bloß Zufall."
Ich schüttele gedankenverloren den Kopf. Wenn das ein Zufall ist, dann ist es ein gigantischer Zufall. Ein Zufall, den man vom Weltall aus sehen kann. Und an diese Art Zufall glaube ich nicht.
Während Louanne und Zoé der unruhigen Manon dabei helfen, einen guten Platz für die Geburt zu finden, kehrt Gael aus seinem Büro zu uns zurück.
"Und?", fragt Florent. "Hast du was erreicht?"
Gael knabbert nervös an seiner Unterlippe herum und schüttelt den Kopf. "Nein. Chapdelaine und sein Alpha, Monsieur Alami, haben genug eigene Probleme."
"Was soll das heißen?", platzt es aus mir heraus. Ich hatte gehofft, Chapdelaine und seine Wächter könnten uns noch einmal zu Hilfe kommen.
"Das heißt, dass auch sein Territorium attackiert wird."
Florent runzelt verwundert die Stirn. "Dann sind wir gar nicht das einzige Ziel?"
"Entweder das oder Ber..." Gael korrigiert sich rasch: "... die schwarzen Wölfe wollen verhindern, dass wir uns auf diese Weise Hilfe organisieren."
Von draußen ist ein dumpfes Bollern zu vernehmen.
Ich zucke innerlich zusammen. "Was ist das?"
"Julien, schätze ich."
Hinter meiner Stirn beginnt es zu rattern.
Ich lasse die Männer stehen und schleiche mich zur Terrassentür hinaus. Inzwischen dämmert es bereits. Die Sonne versinkt hinter den Hügeln, die Poussant einrahmen. Letzte, rotgoldene Strahlen brechen durch die Baumwipfel des Waldes und malen ein langgezogenes Streifenmuster auf die Wiese hinter dem Anwesen. Auf der anderen Seite der Stadt türmen sich tiefschwarze Gewitterwolken in den Himmel. Die Luft ist warm und stickig, aber der Wind trägt bereits einen kühlen Hauch mit sich, der von nahendem Regen kündet. Wie ein bitterer Nachgeschmack streift er meine Sinne.
"Chloé?" Florent läuft mir nach. "Was hast du vor?"
"Na, was wohl?", knurre ich. "Juliens Schonfrist ist vorbei. Wir brauchen ein paar Antworten." Ich werfe einen Blick über meine Schulter. "Oder hast du ihn dir schon vorgeknöpft?"
"Ich hab ihn nicht an einen Stuhl gefesselt und ihm die Fingernägel einzeln rausgerissen, falls du das meinst."
Meine ich das?
Ein bisschen vielleicht.
"Er hat gesagt, dass er nichts von den Plänen seiner Mutter weiß", ergänzt Florent.
"Und das glauben wir ihm?"
Florent lacht. "Würdest du Julien irgendwas erzählen?"
Gutes Argument, denke ich. Wenn die Madame nur halb so schlau ist, wie ich denke, hat sie ihren Sohn über alles im Unklaren gelassen. Doch was weiß ich schon? Blut ist ja bekanntlich dicker als Wasser und Julien hat sich schon einmal erfolgreich als Doppelagent bewährt.
"Und wie soll Julien seine Mutter kontaktiert haben?", fragt Florent weiter. "Weder er noch Lilou haben ein Handy und wir haben darauf geachtet, dass sie die Finger von unseren Sachen lassen."
"Bestimmt wäre den beiden was eingefallen, wenn sie wirklich gewollt hätten", entgegne ich, während ich zielstrebig den verriegelten Schuppen ansteuere. Jetzt ist das Bollern deutlich zu hören. Jemand tritt von innen gegen die Tür. Und dann vernehme ich Lilous Stimme. "Chloé? Chloé! Bitte! Wir müssen reden!"
Und wie wir das müssen, denke ich.
Florent scheint zu spüren, wie geladen ich bin. Aber wer könnte mir das verdenken? Meine Familie wurde überfallen, das Zuhause meiner Kindheit steht in Flammen und eine Armee schwarzer Wölfe steht kurz davor, mein Rudel zu vernichten.
"Warte, Chloé", sagt Florent, drängt sich an mir vorbei und verstellt mir den Weg. "Lass uns das mit klarem Kopf angehen, ja?"
Ich bleibe stehen und verschränke die Arme vor der Brust. "Okay."
Florent wirft mir einen zweifelnden Blick zu. "Okay?"
"Okay", bestätige ich.
Meine kurzangebundene Art scheint Florent nicht zu überzeugen, aber das ist mir egal. Florent muss nur eines tun: Die Tür zum Schuppen aufschließen.
Und das tut er.
Kaum ist das Hindernis aus dem Weg, stürze ich mich auf Julien. Er ist größer und stärker als ich, aber er rechnet nicht damit, dass ich ihn angreifen würde. Mit ganzer Kraft schubse ich ihn zurück. Er stolpert und stürzt gegen ein Regal mit Blumenerde und Gartengeräten.
Lilou gibt einen erstickten Schrei von sich. "Chloé! Was machst du?"
"Sag du mir lieber, was ihr hier macht."
Julien hockt am Boden, zwischen den Scherben eines zerbrochenen Blumentopfs, und sieht verwirrt zu mir hoch. "Na, was wohl? Wir wollen euch warnen."
"Ach ja? Reichlich spät, findest du nicht?"
Das Unverständnis steht Julien ins Gesicht geschrieben. Er hat keine Ahnung, wovon ich rede.
"Julien hat etwas gerochen", plappert Lilou los. "Jemanden aus seinem Rudel. Er muss ganz in der Nähe sein."
"Jemanden aus deinem Rudel?", wiederhole ich. "Und wie kann das sein? Der Schutzzauber ist noch aktiv."
Julien rappelt sich wieder auf. Dabei betastet er seinen Rücken, als hätte er sich beim Sturz gegen das Regal verletzt. Doch ich kann riechen, dass er höchstens eine Schramme hat. "Lilou sagt die Wahrheit. Ich habe jemanden gerochen." Er wirft mir einen verstohlenen Blick zu, als würde er versuchen, anhand meines Gesichtsausdrucks zu erraten, was ich gerade denke. "Allerdings keinen Wolf."
"Einen Initié?"
Julien seufzt leise. "Chloé ... das Rudel meiner Mutter ist nicht wie ein normales Rudel. Wir haben keine Initiés. Für meine Mutter sind Menschen bestenfalls ein kurzfristiger Zeitvertreib."
"Ich denke, das ist für die meisten Wölfe nicht anders", erwidere ich spöttisch.
"Nein, ich meine ..." Julien verdreht die Augen zur Decke, als wollte er die Mondgöttin um Beistand anflehen. "Na, wie auch immer", sagt er dann tonlos. "Es gibt da jemanden, der als eine Art Sprachrohr fungieren soll, sobals das Letzte Königreich errichtet worden ist."
"Redest du von diesem Personne?"
Julien runzelt die Stirn. "Du kennst ihn?"
"So kann man das sagen."
"Personne ist ein Psychopath", knurrt Julien. "Er hasst die Menschen fast noch mehr als meine Mutter."
"Und dieser Typ ist hier?"
"Ich habe ihn jedenfalls gerochen."
Florent verschränkt die Arme vor der Brust. "Merlin hat das Rudelhaus gestern noch mit einem Schutzzauber belegt, der Menschen fernhalten soll. Es gibt nur einen Menschen, der das Haus jetzt noch betreten kann."
Mir ist klar, dass er von Henri redet.
"Ihr müsst euch vor Personne in Acht nehmen", sagt Julien eindringlich. "Der ist echt verrückt. Vollkommen durchgedreht."
"Sonst würde er sich wohl auch kaum mit euch abgeben", kommentiert Florent trocken.
Ich piekse Julien mit dem Finger in die breite Brust. "Und das ist alles, was du uns sagen kannst?"
"Ich ... ich weiß nicht, worauf die hinauswillst", stottert Julien.
"Hast du deiner Mutter von unserem Schutzzauber erzählt – und davon, dass wir ihn heute abschalten müssen?"
"Ich ... nein!" Julien zieht eine Grimasse. "Chloé ... bei Vulpira! Natürlich nicht." Empörung färbt seine Augen giftgrün. "Meine Mutter ist auf der Jagd nach uns. Sie will uns umbringen. Wieso sollte ich ihr irgendwas verraten?"
Ich spitze spöttisch die Lippen und überlasse es ihm, die Antwort auf seine Frage selbst herauszufinden.
Julien fasst sich ungläubig an die Stirn. "Du denkst, wir hätten das alles inszeniert?"
"Wäre ja nicht das erste Mal."
"Aber hier ist nichts inszeniert!", protestiert Lilou. "Julien hat mich gerettet und wir sind zusammen abgehauen."
"Wenn die schwarzen Wölfe uns finden, werden sie uns ebenso in Stücke reißen wie euch!", ergänzt Julien heftig.
"Aber ich verstehe das nicht", meldet sich Florent zu Wort. "Wieso sollte deine Maman ihren kostbaren Thronfolger zerreißen lassen, nur, weil er sich ein Mädchen angelacht hat?"
"Weil ich mich damit gegen die Gesetze des Swarg gestellt habe!" Julien schreit beinahe. Seine Gesten werden immer ausgreifender und unkontrollierter. "Im Letzten Königreich gibt es keine Seelenverwandtschaft mehr. Keinen Alpha und keine Luna. Alle Fähen sind entweder Kriegerinnen oder Geburtsmaschinen. Es gibt nichts dazuwischen." Sein Blick wandert zu Lilou und wird ein bisschen weicher. "Ein solches Leben könnte ich Lilou niemals antun."
In Lilous Augen schimmern Tränen.
"Und für meine Mutter spielt es keine Rolle, dass ich ihr Sohn bin", nimmt Julien den Faden wieder auf. "Sie hat mich verstoßen." Er senkt drohend die Stimme. "Das sollte dir doch bekannt vorkommen, Chloé."
"Wag' es nicht, uns zu vergleichen", knurre ich. "Außerdem ... wer sagt mir, dass du dir diesen Plan nicht bloß ausgedacht hast, um die Gunst deiner Mutter zurückzugewinnen? Wird sie dich wieder bei ihrem dämlichen Psycho-Rudel aufnehmen, wenn du ihr unsere Köpfe bringst? Genau wie damals?"
Juliens Gesicht rötet sich vor Zorn. "Das ist nicht wahr." Er schüttelt vehement den Kopf. "So ist das nicht."
"Wie ist es dann?", entgegne ich. "Erzähl mir von den Plänen deiner Mutter. Was hat sie vor? Wieso ist sie hinter mir her und was will sie von Bernard?"
"Meine Mutter will das Letzte Königreich errichten. Mehr weiß ich nicht."
"Ganz sicher?"
"Ja!", faucht Julien. "Und mehr werde ich dir auch nicht sagen können, ganz egal, ob du mich hier anschreist oder folterst oder was auch immer du dir gedacht hast."
Ich spüre, wie sich in meinem Innern Türen zu Orten öffnen, von denen ich noch nicht einmal gewusst habe, dass sie existieren. Es geht hier um mein Rudel. Ich muss mein Rudel beschützen. Gael. Manon. Die Welpen. Und wenn Julien irgendetwas weiß, das mir dabei helfen könnte, dann muss ich diese Information aus ihm herausholen.
"Ich muss dich nicht anschreien oder foltern", erwidere ich, kralle meine Hand in Lilous Haare und ziehe sie zu mir. Lilou kreischt vor Schmerz oder Schreck. "Alles, was ich tun muss, ist Lilou jeden einzelnen Knochen zu brechen, bis du endlich auspackst!"
Julien reagiert rein instinktiv und schnellt vor, um mich zu packen.
Florent ist gerade noch rechtzeitig zur Stelle. Gemeinsam schaffen wir es, Julien abzuwehren. Eine seiner Krallen erwischt mich am Arm, aber ich bemerke es kaum. Glühend vor Zorn und berauscht vom kurzfristigen Gefühl von Macht schleife ich Lilou ins Freie hinaus und versetze ihr einen Stoß, der sie ins Gras plumpsen lässt. Hinter uns verriegelt Florent den Schuppen.
"Bist du eigentlich irre?", fährt er mich an, während Julien im Innern des Verschlags vor Wut zu toben scheint.
"Muss ich wohl", antworte ich schweratmend. "Wir hätten ihn uns schon vor Tagen vorknöpfen sollen."
"Er hat damit nichts zu tun", widerspricht Florent.
"Mag sein", gebe ich zu. "Aber wir können es uns nicht mehr leisten, nett zu sein." Ich deute mit ausgestrecktem Arm zurück zum Rudelhaus. "Die schwarzen Wölfe werden auch nicht nett sein, wenn sie uns hier finden."
"Du willst also, dass wir genauso werden wie sie?"
"Ich will, dass wir überleben!" Mir ist nicht ganz klar, wieso ausgerechnet ich Florent diese Ansprache halten muss, aber offenbar ist das jetzt Teil meines Jobs. "Überlass das Nettsein Gael und Pierre." Ich deute mit dem Finger erst auf Florent, dann auf mich. "Wir beide sind die Nicht-netten. Wir tun, was nötig ist."
So wie Bernard, hätte ich beinahe ergänzt, kann es mir aber gerade noch verkneifen.
Bebend vor mühsam unterdrückten Emotionen lasse ich Florent stehen, Lilou am Boden hocken und stapfe zurück zum Haus.
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