Chapitre 63
In den nächsten Minuten liefern Louanne und Pierre sich ein Wettfahren. Als sie sich zu sehr hineinsteigern, spreche ich ein Machtwort und bin überrascht, dass die beiden tatsächlich auf mich hören und ihr Tempo auf das geltende Limit drosseln.
Trotzdem dauert es nicht mehr lange, bis wir die Ausläufer von Sermont erreichen. Eingebettet in eine wunderschöne Berglandschaft mit dichten Wäldern und ruhenden Vulkanen liegt die ländlich geprägte Stadt am Eingang einer Talsenke.
Der IKEA befindet sich jedoch in einem weniger malerischen Teil Sermonts – in einem Industriegebiet am Stadtrand. Flankiert von Reifenfabrikanten, Verpackungsunternehmen und diversen Großhändlern. Das Gebäude ist der typische blaue Kasten mit dem gelben IKEA-Schriftzug.
Daheim in Paris haben wir nie bei IKEA eingekauft. Die meisten unserer Möbel sind antik und ausgesprochen hochwertig. Früher hat mein Vater auch selbst geschreinert, aber nach einem Unfall mit der Kreissäge hat er Maman zuliebe aufgehört.
"Ich liebe IKEA", bemerkt Zoé und klatscht aufgeregt in die Hände.
"Du magst nur die Hotdogs", erwidert Louanne schnippisch.
"Ich hab gehört, dass man hier schönen Krimskrams findet", bemerke ich, um etwas Positives zu sagen. Und es stimmt. Meine menschlichen Freundinnen sind nicht nur ganz begeistert von Billy-Regalen, sondern auch von IKEA-Tischlampen, Vasen, Tassen, Bilderrahmen, Aufbewahrungskörben und Mini-Kakteen.
"Deswegen sind wir hier." Louanne rollt mit den Augen. "Und weil jeder andere Einrichtungsladen, der den Namen verdient hat, am anderen Ende Frankreichs liegt."
Wir parken auf dem großen, von gepflegten Grünflächen eingerahmten Betonfeld vor dem IKEA. Pierre hält direkt neben uns.
Die Luft ist sommerlich warm, der Himmel beinahe türkisblau und vollkommen wolkenlos. Vom benachbarten Grundstück weht der leicht schwefelige Geruch in der Hitze bratender Gummireifen herüber.
"Ich kann nicht fassen, dass Gael uns hängen gelassen hat", murrt Louanne beim Aussteigen. Ihr trägerloses Sommerkleid bläht sich in einem schwachen Windzug ballonförmig auf.
"Er hat uns nicht hängen lassen", widerspricht Zoé, die eine geblümte Shorts und ein weites STARWARS-T-Shirt trägt. "Du kannst nicht erwarten, dass er Manon alleine lässt, wenn es ihr nicht gut geht."
"Didi hat gesagt, dass sie bloß Vorwehen hat", erwidert Louanne.
"Trotzdem ist es besser, wenn er Zuhause bleibt. Nur für den Fall, dass es ..." Zoé zuckt mit den Schultern. "... losgeht."
Ich will mir gar nicht vorstellen, dass es losgeht, während wir im IKEA herumstehen und Möbel aussuchen. Mir ist klar, dass ich bei einer Geburt vollkommen nutzlos wäre, aber ich wäre trotzdem gerne dabei – oder zumindest in der Nähe. Immerhin ist Manon meine beste Freundin.
"Beeilen wir uns", sage ich und will über die Betonfläche davonmarschieren, doch dann erinnere ich mich an meine neue Position als Beta.
Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick über die Umgebung wandern. Wir befinden uns im Perdue. Sermont und das umliegende Land wurden noch von keinem Alpha beansprucht. Und das wird vermutlich auch nicht passieren. In der Werwolf-Gesellschaft ist es gang und gäbe, zwischen den Revieren der einzelnen Alphas neutrale Zonen und Korridore einzurichten. Unter normalen Umständen wäre Sermont ein sicherer Ort, aber seit dem Angriff der schwarzen Wölfe gelten die alten Regeln nicht mehr. Das bedeutet, wir müssen jederzeit mit einer Bedrohung rechnen. Und es ist meine Aufgabe, diese Bedrohung von meinen Begleitern fernzuhalten.
Dabei könnte ich es sein, die ihre Freunde überhaupt erst in Gefahr bringt. Immerhin scheinen es die schwarzen Wölfe – mal wieder – auf mich abgesehen zu haben.
Doch im Moment wirkt alles friedlich.
Der Parkplatz ist bereits gut gefüllt und Kunden strömen an uns vorbei zum Eingang des Möbelhauses. Darunter viele Familien mit Kindern. Alles Menschen. Ich kann keine anderen Wölfe wahrnehmen.
Jemand schlägt mir mit der flachen Hand auf den Rücken. "Da nimmt jemand seinen Job aber ziemlich ernst!", verkündet Pierre lachend.
"Einer von uns muss seinen Job ja ernst nehmen", grolle ich und halte mir die Rippen, die von Pierres Schlag in schmerzhafte Vibration versetzt worden sind.
"Du bist sowieso nur dabei, um die schweren Sachen zu schleppen", sagt Louanne.
Pierre presst sich beide Hände auf die linke Brustseite, als hätte sie ihn mit ihren Worten mitten ins Herz getroffen.
"Kommt, beeilen wir uns", drängt Zoé, die es offenbar gar nicht mehr erwarten kann, sich mit Hotdogs und Köttbullar vollzustopfen.
Wir setzen uns in Bewegung, überqueren den Parkplatz und betreten die verglaste Vorhalle. Dort fahren wir die Rolltreppe hinauf und tauchen in einen labyrinthischen Rundgang aus offenen Räumen und hübsch dekorierten Ausstellungsflächen ein. Die vielen verschiedenen Gerüche, die sich im Innern des Gebäudes konzentrieren, überfordern meine Nase und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf meine anderen Sinne zu konzentrieren.
Normalerweise liebe ich es, mir Gedanken um die Einrichtung meines Zuhauses zu machen. Henris und meine Wohnung in Marseille habe ich mit großer Sorgfalt eingerichtet. Ich weiß noch, wie wundervoll es war, mit Henri durch die Möbelläden und über die Flohmärkte der Stadt zu streifen und all die altmodischen Möbel und kleinen Dekorationselemente auszusuchen. Ich weiß noch, wie erwachsen ich mir vorkam. Wie sehr ich mich als Frau gefühlt habe. Als Mensch.
Jetzt ist es anders. Ich komme mir nicht vor, als würde ich ein Zuhause einrichten. Eher als würde ich Möbel für ein Büro aussuchen. Stoisch arbeite ich meine Liste ab, während Louanne herumläuft und billigen Kleinkram zusammensammelt.
Nach einer Weile habe ich alle Entscheidungen getroffen und bin bereit, von der Ausstellung ins Lager zu wechseln, um die Möbel zu holen.
Ich sehe mich nach meinen Begleitern um und muss feststellen, dass ich alleine bin. Offenbar haben meine Freunde sich im ganzen Laden verstreut.
Zoé ist vermutlich zum Restaurant vorgelaufen, Louanne habe ich wohl bei den Kissenbezügen verloren und Pierre ... ich habe keine Ahnung, wo Pierre ist.
Verärgert dränge ich mich durch den Kundenstrom, der durch die Ausstellungsräume flaniert, und halte nach meinem Gamma Ausschau. Zum Glück ist er groß und kräftig und sticht aus der Menge heraus. Daher habe ich ihn schnell bei den Bilderrahmen und Kunstdrucken entdeckt.
Doch gerade als ich zu ihm gehen will, steigt mir ein bekannter Geruch in die Nase.
Ich verharre auf der Stelle. Jemand rempelt mich an, aber ich ignoriere es.
Zimt.
Das kann nicht sein, denke ich. Trotzdem drehe ich mich im Kreis und suche nach Henri.
Und dann kann ich ihn zwischen den anderen Menschen ausmachen. Er steht etwas verdeckt bei den Regalen mit den Küchenutensilien.
Ganz automatisch gehe ich auf ihn zu. Dann halte ich wieder inne.
Henri ist nicht alleine. Bei ihm ist eine junge Frau. Eine junge, hübsche Frau mit kinnlangen, blonden Haaren, die ihm an den Lippen zu kleben scheint, während er allem Anschein nach über Schneidebretter fachsimpelt.
Mir wird glühend heiß. Drei Tage und Henri sucht schon mit einer anderen Frau Möbel aus?
Als könnte er meine Aufmerksamkeit spüren, dreht Henri den Kopf und sieht in meine Richtung. Doch noch ehe er mich entdeckt, schiebt Pierre sich zwischen uns.
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