Chapitre 46
"Was ist los?", fragt Merlin und mustert mich argwöhnisch. "Wo ist Monsieur Morel?"
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir ist kotzübel.
"Alles in Ordnung?" Merlin lässt seine Zigarette fallen und tritt sie aus. "Du sieht aus, als wäre irgendwas vorgefallen."
"Nein", murmele ich und lasse meinen Blick über den Parkplatz schweifen, in der Hoffnung, Bernard doch noch zu entdecken. Vergeblich. Natürlich könnte ich meine Nase einsetzen, um ihn zu finden. Allerdings nur, wenn er auch gefunden werden will. Andernfalls habe ich wohl keine Chance, ihn aufzuspüren. Ich weiß auch gar nicht, ob ich das will. "Lass uns fahren", schiebe ich hinterher und umrunde den Wagen, einen silberfarbenen Mitsubishi Pajero.
Kurz nachdem ich mich auf den Beifahrersitz geschwungen habe, öffnet Merlin die Fahrertür. Dabei fällt mir auf, dass seine Fingernägel schwarz lackiert sind. Er riecht nach Tabak, Blumen und einem ganzen Kräutergarten. Schwerfällig lässt er sich auf den Fahrersitz plumpsen. "Hör mal ... wir können Monsieur Morel doch nicht einfach so zurücklassen."
"Er ist weg", presse ich heraus, während ich stur geradeaus starre. Das Licht der Sonne kommt mir seltsam vor. Die ganze Welt scheint Kopf zu stehen. Ich will mich nur irgendwo verkriechen.
"Weg?", fragt Merlin. "Was heißt weg?"
"Er ist weggegangen."
Es überrascht mich selbst, wie gelassen mir diese Worte über die Lippen kommen.
"Und wann kommt er wieder?", will Merlin wissen.
"Gar nicht", antworte ich. "Können wir jetzt einfach fahren?" Ich werfe Merlin einen flehenden Blick zu. "Bitte."
Merlin sieht mich lange an. Seine Mimik wechselt von misstrauisch über vorwurfsvoll zu mitleidig. "Na schön", seufzt er. "Aber auf deine Verantwortung."
Er zieht die Tür zu, steckt den Schlüssel ins Schloss und startet den Motor. Dann lenkt er den Wagen zurück auf die Autobahn.
Ich drücke mich tief in den Sitz und versuche, eine halbwegs bequeme Position zu finden. Der Schmerz ist zurück, aber ich schenke ihm keine Beachtung. Meine Gedanken flitzen umher wie glitschige Fische. Mir ist klar, dass ich etwas unternehmen muss. Nur was?
Zunächst einmal muss ich mit Henri sprechen und ihm sagen, was passiert ist. Alles andere wäre unfair. Aber ich habe Angst davor, wie er reagieren wird. Und ich habe fast noch mehr Angst vor dem, was ich ihm erzählen werde.
Fakt ist: Ich habe keine Ahnung, wie dieser Vorfall passieren konnte. Oder doch? Haben meine Hormone die Kontrolle übernommen oder habe ich mich bewusst dazu entschieden, mich von Bernard ficken zu lassen? Und woher soll ich das wissen?
Fakt ist aber auch, dass ich Henri liebe. Und ich will alles tun, damit er mir verzeiht.
Du gehörst mir.
Bernards Worte hallen durch meinen Kopf und prompt fühle ich wieder dieses Ziehen im Unterleib.
Ich rutsche tiefer in meinen Sitz. Mir wird glühend heiß im Gesicht. Ich schäme mich für meine Gedanken. Für das, was ich bin. Für das, was ich fühle.
"Hey ...", sagt Merlin. "Kopf hoch. Was auch immer passiert ist, das wird schon wieder."
"Ich glaube nicht", erwidere ich und wische mir eine Träne vom Kinn.
"Ach, natürlich." Merlin fasst nach dem Radio und dreht die Lautstärke auf. Es läuft ein englischsprachiger Popsong, den ich nicht kenne. "Mach dich mal wieder locker. Die Welt geht nicht unter. Nicht wegen einem Mann." Merlin trommelt im Takt der Musik aufs Lenkrad. "Du wirst sehen ... der taucht schon wieder auf."
"Du weißt nicht viel über Werwölfe, oder?"
"Mehr als die meisten Menschen, würd ich sagen."
"Aber du kennst Bernard nicht."
"Stimmt." Merlin schnalzt mit der Zunge. "Aber ich weiß ein bisschen was über Seelenverwandtschaft."
"Ach ja?", frage ich skeptisch.
"Aye."
"Und woher?"
"Von meinem Mate."
Meine Augenbrauen wandern aufwärts. "Menschen können keinen Mate haben."
"Nun ... ja." Merlin nickt widerstrebend. "Das ist wahr." Er fährt mit dem Zeigefinger durch die Luft. "Mit einer Ausnahme."
"Und die wäre?"
Merlin spitzt spöttisch die Lippen. Seine schmalen, tiefliegenden Augen sind von einer warmen, honigbraunen Farbe, die bei Sonneneinfall an Bernstein erinnert. "Dreimal darfst du raten."
Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Seelenbünde sind allein Wölfen vorbehalten. Das sagt schon unsere Schöpfungsgeschichte. Darin verliebt sich die Hexe Rouva in den Wolf Farleu und belegt ihn mit einem Zauber, der ihn in Vollmondnächten in einen Menschen verwandelt. Auf diese Weise will sie ihn an sich binden. Doch Farleus Wolfsgefährtin Vulpira kann ihn aufspüren und fordert die Hexe zu einem Wettkampf heraus. Sie besteht alle Prüfungen und überwindet alle Gefahren, um bei ihrem Gefährten zu sein. Doch die Hexe will ihren geliebten Farleu nicht aufgeben. Daraufhin fesselt Vulpira sich mit einem goldenen Rosshaar an ihren Gefährten und erklärt, dass sie nie wieder von seiner Seite weichen will. Die dadurch freigesetzte Magie ist so mächtig, dass Rouva ihre Niederlage einsehen muss und die beiden unbehelligt davonziehen lässt.
Auf diese Weise erklären sich manche Wölfe die Herkunft des Seelenbundes. Und diese Geschichte erklärt auch, warum die meisten Wölfe etwas sehr Positives darin sehen. Ob sie zu hundert Prozent der Wahrheit entspricht, sei mal dahingestellt.
"Mir ist gerade nicht nach Rätseln", erwidere ich.
"Na gut, dann verrate ich es dir. Ausnahmsweise." Merlin wirft mir einen verstohlenen Blick zu. "Aber nur unter der Bedingung, dass du nicht ausflippst."
"Ausflippst?", wiederhole ich mit einem müden Lächeln. Ich habe kaum noch die Energie, die Augen offenzuhalten. "Wohl kaum."
Merlin atmet tief durch. "Ich bin eine Hexe."
Die Musik im Radio wechselt. Charakteristische Drums kündigen einen Reggae-Song an.
"Eine Hexe ...?", flüstere ich und denke: Natürlich. Das auch noch.
Merlin nickt. "Ganz genau."
"Aber ..."
"Ich weiß. Die meisten Wölfe mögen keine Hexen." Merlin rollt mit den Augen. "Hauptsächlich wegen dieser dummen Geschichte." Er deutet mit dem Zeigefinger auf mich. "Die wir uns im Übrigen ganz anders erzählen."
"Anders? Und wie?"
"In unserer Version der Geschichte existiert der Seelenbund zunächst zwischen Hexe und Wolf", erklärt Merlin. "Weißt du, jede Hexe besitzt ein Seelentier, dessen einziger Zweck es ist, für die Hexe zu sterben, damit sie weiterleben kann. Doch Rouva verliebt sich in ihr Seelentier Farleu und als ihre Zeit gekommen ist, entlässt sie ihn aus ihrem Bund. Danach streift er ziellos umher. Immer auf der Suche nach einer Seelenpartnerin, um seinen ursprünglichen Zweck zu erfüllen. Aus diesem Grund seid ihr Wölfe so versessen auf diese Seelenpartner-Sache."
"Das klingt furchtbar", kommentiere ich.
"Es ist ja nur eine Legende", erwidert Merlin. "Aber ein Funken Wahrheit muss darin sein, denn ich bin eine Hexe und habe einen Seelenverwandten."
Ich verdränge den ersten Teil seines Satzes. Nach allem, was mir in den vergangenen Tagen passiert ist, kann ich mich nicht auch noch mit Hexen befassen. "Und wer ist dein Seelenverwandter?"
"Kannst du dir das nicht denken?"
"Wie soll ich-" Ich halte inne. Unter meinen Freunden gibt es nur einen, der einen Seelenpartner hat, den ich noch nicht kennengelernt habe. "Meinst du Florent?"
"Bingo!", triumphiert Merlin.
"Du bist Florents Mate?"
"So ist es."
All die Jahre hat Florent ein großes Geheimnis um die Identität seines Seelenverwandten gemacht und jetzt verstehe ich auch, warum. Sein Mate ist eine Hexe. Oder ein Hexer oder wie auch immer man das nennt.
"Dann war das Feuer also ein magisches Feuer."
"Genau genommen war es ein avernalischer Reinigungszauber", erklärt Merlin. "Nicht ganz einfach in der Handhabung, aber ziemlich effektiv."
Ich reibe mir mit den Händen das Gesicht. "Das ist doch verrückt ..."
"Mach dir deswegen jetzt keine Gedanken. Wenn wir erst in Poussant sind und wir dich wieder aufgepeppelt haben, sieht die Welt gleich ganz anders aus."
Ich hoffe, dass er Recht hat. Denn noch mehr Chaos, noch mehr Kämpfe und Verluste, könnte ich nicht ertragen.
"Hast du ein Handy?", will ich wissen.
"Klar." Merlin reicht mir ein altmodisches Prepaid-Handy. "Nur eine Vorsichtsmaßnahme", erklärt er mir, als er meinen misstrauischen Blick bemerkt, und ich frage mich, ob ich das Handy später mit einem Hammer zertrümmern und aus dem Fenster werfen muss.
Dessen ungeachtet, wähle ich Henris Nummer. Er nimmt jedoch nicht ab. Und natürlich wäre es besser, wenn ich ihm alles von Angesicht zu Angesicht erzählen würde, doch ich sehne mich danach, seine Stimme zu hören.
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, stattdessen meinen Vater oder Chalice anzurufen, verwerfe ihn jedoch schnell wieder. Chalice muss die Wahrheit von Bernard erfahren und mein Vater muss – wenn es nach mir ginge – überhaupt gar nichts erfahren. Er denkt vermutlich eh schon, dass er eine selbstgerechte Idiotin großgezogen hat, wenn in Wahrheit alles viel schlimmer ist. Ich bin nicht nur eine selbstgerechte Idiotin, sondern eine riesige selbstgerechte Idiotin. Was ist aus dem Mädchen geworden, das die männlichen Wölfe für ihr dominantes und besitzergreifendes Verhalten verachtet hat? Offenbar lässt sie sich auf einem Raststellen-Klo von ihrem Mate ficken, während er ihr "Du gehörst mir" ins Ohr knurrt. Vermutlich hätte ich mich sogar von Bernard beißen lassen. Was stimmt nicht mit mir?
Die Schmerzen werden wieder schlimmer. Ich rutsche auf dem Sitz herum, doch egal, wie ich mich positioniere, verspüre ich ein scharfes Stechen in der Rippengegend.
"Es ist nicht mehr weit", sagt Merlin, der mir die Schmerzen anzusehen scheint.
Ich nicke schwach und umklammere das Handy. Mein goldenes Rosshaar, das mich mit Henri verbindet. Jedenfalls unter normalen Umständen.
Im Radio spielt "Paradise" von Coldplay. Die Ironie könnte wohl nicht größer sein.
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