Chapitre 25
Ich verrenke mir den Hals, um besser sehen zu können, doch aufgrund der ungünstigen Lichtverhältnisse kann ich nur die Umrisse der Wölfin erkennen. Lange, seidenglatte Haare fallen ihr fast bis zur Hüfte. Ansonsten ist sie nackt, also hat sie sich vermutlich eben erst verwandelt. Bestimmt ist sie der Alpha, den ich knurren gehört habe.
Doch das kann gar nicht sein! Frauen sind keine Alphas. Schon gar keine geborenen Alphas. Sie besitzen nicht die dafür nötige Ausstrahlung und können keinen Alpharuf hervorbringen.
Und dennoch ... sie riecht wie ein Alpha. Sie fühlt sich an wie ein Alpha.
Die anderen Wölfe können es ebenfalls riechen und spüren. Sie werden ganz still.
"Jetzt habe ich wohl eure Aufmerksamkeit", bemerkt die Alpha-Frau. Ihre Stimme hat einen dunklen, raspelnden Klang.
"Wer sind Sie?", fragt einer der Männer.
"Welche Rolle spielt das? Ihr müsst nur wissen, was ich bin." Die Frau hebt das Kinn. "Und jetzt lasst das Mädchen los und verschwindet, bevor ich euch die Kehlen rausreiße."
Die Männer lassen von mir ab, sodass ich mich befreien und von der Tischplatte rutschen kann. Die erlittene Demütigung brennt in meinen Adern, heißer als die Spuren auf meiner Haut. Tränen laufen mir über die Wangen und Blut quillt warm und zähflüssig aus meiner Nase.
Ich kauere mich hinter dem Tisch zusammen und versuche, wieder Herrin meines Körpers und meiner Gefühle zu werden. Mein Herz pocht wie eine wild gewordene Abrissbirne in meiner Brust. Ich zittere am ganzen Leib und kann nicht klar denken.
Die Alpha-Frau kommt ins Zimmer. Ich kann das Rascheln des Teppichs unter ihren nackten Füßen vernehmen. "Steh' auf, Chloé."
Ich will ihr gehorchen, aber meine Beine sind zu schwach.
Beim Versuch, mich an der Tischkante hochzuziehen, knicke ich ein und falle wieder zu Boden. Meine Nase pocht und das Blut rauscht mir in den Ohren.
"Armer, kleiner Louveteau", säuselt die Alpha-Frau.
In diesem Moment erscheint noch jemand auf der Bildfläche. Ein schlanker, schwarz-grauer Wolf, dessen Augen im Halbdunkeln hellblau zu glühen scheinen. Geduckt kommt er über die Schwelle. Die Alpha-Frau knurrt ihn an. Leise und drohend. Bernard verharrt auf der Stelle. Unschlüssig. Sein Körper ist gespannt wie ein Bogen kurz vor dem Schuss. Doch dann ringt sein Beschützerinstinkt seinen instinktiven Gehorsam nieder und er setzt seinen Weg fort.
Geschmeidig gleitet er unter dem Tisch hindurch und drängt sich an mich. Sein Fell ist rau und drahtig. Er beschnuppert meinen Körper und leckt mir das Blut aus dem Gesicht. Die Wolfsspucke legt sich wie ein beruhigender Film über meine Haut. Trotzdem winsele ich vor Schmerz.
Durch den Nebel meines Bewusstseins kann ich erneut die Stimme der Alpha-Frau wahrnehmen. "Wir sehen uns wieder, Chloé Lasimonne"
Ein Geräusch von draußen lässt mich erschrocken zusammenfahren. Das Heulen eines Alphas. Antoine Lavigne. Er ruft sein Rudel zum Angriff. Angriff auf wen?
Bernard stupst mich an. Er will, dass ich mich verwandele. Irgendetwas ist los. Von draußen dringen lautes Gepolter und angsterfüllte Schreie herein.
Ich gebe Bernards Drängen nach und schlüpfe erneut in Wolfsgestalt. Dann folge ich ihm zur Tür. Dabei lasse ich den Körperkontakt nicht abreißen. Seine Nähe ist in diesem Moment das Einzige, das mir Halt gibt. Bernard scheint meine Bedürftigkeit zu spüren, denn er passt sich meinem humpelnden Gang an und macht keine Anstalten, alleine vorauszulaufen.
Nebeneinander schlüpfen wir in den Flur hinaus und huschen durch die Dunkelheit, bis wir ein spiralförmiges Treppenhaus erreichen. Ein bunt verglastes Oberlicht lässt blasses Mondlicht herein. In einer silbrigen Kaskade fließt es über die Marmorstufen. Der Lärm und die Schreie werden lauter. Und jetzt kann ich auch den Geruch von Panik, Blut und Schmerz wahrnehmen, der durch die Türen und Fenster hereinsickert und sich im Innern des Anwesens ausbreitet.
Ich stupse Bernard an, um ihm zu sagen, dass ich nicht nach draußen gehen will. Er gibt einen beruhigenden Laut von sich. Das Werwolf-Äquivalent von Sh-sh.
Gemeinsam huschen wir die Treppe hinunter. Die Gerüche intensivieren sich. Ich kann eine Frau schrill aufschreien hören. Dann wird die Tür am Fuß der Treppe aufgerissen und zwei Menschen stürzen hindurch. Sie sind blutverschmiert und stinken nach Angst und Schmerz. Ihnen folgt ein riesiger, pechschwarzer Wolf mit rot glühenden Augen. Ein Swarg-Mutant.
Meine Erinnerungen an die Ereignisse vor vier Jahren brechen wie ein Sturzbach über mich herein. Nicht in Form von Bildern, wie es in meiner Menschengestalt passiert wäre, sondern als eine Flut von Gerüchen. Ich merke erst, dass ich mich auf der Flucht befinde, als ich schon wieder oben am Treppenabsatz angekommen bin. Nur zwei Sprünge später hat Bernard mich eingeholt. Er schneidet mir den Weg ab. Ich will mich an ihm vorbeidrängen, aber er weicht keinen Millimeter zurück. Stattdessen vergräbt er die Schnauze in meinem Fell und hält mich fest, so wie Eltern es manchmal mit ihren Welpen machen. Es ist kein Biss, eher ein Ins-Maul-nehmen und warten, bis ich mich wieder beruhigt habe. Tatsächlich wirkt es ganz gut. Mein Fluchtinstinkt wird schwächer. Mein Herzschlag verlangsamt sich.
Schließlich lässt Bernard mich los, reibt seinen Kopf an meiner Flanke, um mir Mut zu machen, und schiebt mich zurück zur Treppe. Wir starten einen zweiten Versuch.
Ich halte mich einen halben Schritt hinter Bernard und folge ihm ins Freie hinaus. Die Luft riecht nach Angst und Blut, Feuer und Tod. Aber da wir uns vor dem Haus befinden, kann ich nicht sehen, was im Garten passiert, und als Wolf liegt es mir fern, mir Horrorszenarien auszumalen. Ich reagiere bloß auf die Reize, die auf mich einströmen.
Geduckt schleichen Bernard und ich am Haus entlang. Dabei achten wir darauf, uns in den Schatten zu halten und dem Wind keine Informationen über uns preiszugeben. Immer wieder können wir Gestalten durch die Dunkelheit huschen sehen. Wenn sie sich dem Haus nähern, aktivieren sie die Flutlichtanlage. Grelles Licht flammt auf und alarmiert die schwarzen Wölfe. Wie Haie, die im seichten Wasser auf Beute lauern, kommen sie angerannt und stürzen sich auf die anderen Wölfe. Überall entbrennen kleinere oder größere Kämpfe zwischen zwei oder mehr Beteiligten. Ihr Knurren und Fauchen fährt mir bis unter das Fell.
Bernard drängt mich zur Eile. Wir hasten über einen der Kieswege und entfernen uns vom Lavigne-Anwesen in Richtung eines dunklen Waldrands.
Doch kurz bevor wir in die Schatten eintauchen können, nimmt ein schwarzer Wolf unsere Witterung auf. Mit einem dumpfen Bellen fordert Bernard mich zum Rennen auf. Ich gehorche und sprinte los, während er zurückbleibt, um den schwarzen Wolf in einen Kampf zu verwickeln.
Nach einem kurzen Sprint nehmen die Bäume des Waldes mich in Empfang. Sie riechen beruhigend, erdig, holzig, nach Moos und Schatten und kleinen Tieren. Doch dann kann ich noch etwas Anderes wahrnehmen: Den Geruch von Beton, Metall und Abgasen.
Kurz darauf erreiche ich einen Asphaltplatz, auf dem ein paar Dutzend Autos abgestellt sind.
Ich verlangsame meinen Sprint und halte mich zwischen den Bäumen, während ich meine Umgebung erkunde. Schon bald wird mir klar, dass ich es mit einem Parkplatz zu tun habe. Anscheinend sind hier unsere Autos geparkt worden.
Ein leises Grollen macht mich auf Bernard aufmerksam, der etwas weiter links von mir aus dem Gestrüpp bricht und auf den Parkplatz hinaushetzt.
Ich folge ihm. Wir nähern uns einem kleinen, hell erleuchteten Häuschen, vor dem ein Mann wartet und zum Anwesen hinübersieht, dessen Umrisse durch das Unterholz schimmern. Bernard rennt von hinten auf ihn zu, verwandelt sich in der Bewegung – ein Kunststück, das ich nur sehr selten fertig bringe – und schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht, sodass er rücklings gegen die Außenwand des Häuschens knallt und bewusstlos daran zu Boden geht. Anschließend steigt Bernard über hinweg, öffnet die Tür und verschwindet in dem dahinterliegenden Raum. Ich höre ihn kramen und rumoren, dann kehrt er zu mir zurück und präsentiert mir unseren Autoschlüssel. Bei diesem Anblick wird mir bewusst, was er vorhat. Und noch ein Gedanke schießt durch mein instinktgeleitetes Wolfshirn: Wo sind Henri, Chalice und Mathéo?
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