Chapitre 23
Totenstille senkt sich herab. Der hübsch illuminierte Garten verwandelt sich von einer Sekunde auf die andere in eine Krypta.
Ich versuche die unangenehm klebrigen Blicke der männlichen Wölfe abzuschütteln und das gehässige Grinsen der mehrheitlich weiblichen Wölfe zu ignorieren. Instinktiv sucht mein Blick den von Henri. Mein Freund wirkt nervös, aber er reißt sich zusammen und lächelt mir zu.
"Ich ... ich möchte mich auch im Namen meines Vaters bei Monsieur Lavigne für seine Einladung bedanken", beginne ich, zugegeben etwas holprig. "Und ich bedanke mich auch bei seiner Tochter Lilou dafür, dass sie mir diese Ehre erweist." Ich halte kurz inne und atme tief durch. "Zuerst habe ich nicht verstanden, wieso sie ausgerechnet mich ausgesucht hat. Schließlich sind wir keine Freundinnen. Um ehrlich zu sein, habe ich sie heute Abend zum ersten Mal gesehen. Aber dann ist mir alles klar geworden. Lilou hat mich ausgewählt, weil ich zu den Fähen gehöre, die wissen, wie es ist, nicht mit ihrem Seelenverwandten liiert zu sein."
An dieser Stelle hätte ich erstauntes Gemurmel, Entrüstung oder sogar Protest erwartet, doch offenbar ist es genau so, wie Bernard gesagt hat. Alle Anwesenden wissen, dass Baptiste nicht Lilous Loup du cœur ist. Jeder hier kann es sehen und riechen.
"Wie es sich inzwischen wohl herumgesprochen hat, ist Bernard Morel, der Beta meines Rudels, mein Seelenverwandter", fahre ich fort. "Und ich kann voller Stolz sagen, dass es keinen Mann gibt, dem ich mehr vertraue."
Bei diesen Worten sehe ich in Bernards Richtung. Unsere Blicke begegnen sich zwischen den flackernden Kerzenlichtern wie zwei gegenteilig gepolte Magnete. Unwillkürlich muss ich daran zurückdenken, wie er mich damals gegen Louis Richard verteidigt und aus der Felsspalte gelockt hat, in der ich mich versteckt hatte. Seine Worte klingen mir noch in den Ohren.
Also, höre auf deinen Instinkt und fürchte dich vor den Wölfen da draußen. Aber vertraue bitte auch auf mich und meinen Instinkt. Denn falls du das nicht tun solltest, werde ich wohl genau hier sterben. Zwischen dir und den Durands.
"Bernard ist für mich ein echter Freund. Nein, mehr als das", erkläre ich mit brüchiger Stimme. "Ich weiß, er würde für mich sterben. Und ich auch für ihn. Unsere Seelen werden für immer miteinander verbunden sein. Und das ..." Ein langer Seufzer quillt aus meiner Brust. "... ist ein sehr schönes Gefühl."
Chalice lächelt und legt eine Hand auf Bernards Arm. Sie versteht, wie viel es mir bedeutet, diese Worte endlich mal auszusprechen.
"Aber mein Herz ...", fahre ich fort. "... mein Herz gehört Henri Fournier. Er ist in den Augen der meisten Anwesenden nur ein Mensch, aber er hat mir gezeigt, was Liebe wirklich bedeutet. Ich liebe einfach alles an ihm und vor allem liebe ich es, dass er mich akzeptiert, wie ich bin, und immer für mich da ist, so wie ich immer für ihn da sein werde. Durch ihn habe ich die Kraft, das Leben zu führen, das ich immer führen wollte. Und auch wenn wir nicht seelenverwandt und erst recht nicht immer einer Meinung sind, habe ich das Gefühl, dass unsere Liebe mit jedem Kompromiss und mit jedem durchsegelten Sturm stärker wird."
Henris Gesicht bekommt rote Flecken, aber seine Augen leuchten vor Glück, als hätte ich ihm irgendeine seltene Erstausgabe geschenkt.
"Und das ist es, was ich jedem Wolf wünsche", füge ich hinzu und lasse meinen Blick über die Versammelten schweifen. Auf den Gesichtern meiner Zuhörer kann ich von Ekel bis Bewunderung alles lesen. "Egal, ob seelenverwandt oder nicht. Ich denke, niemand sollte mit einem Wolf oder einem Menschen zusammen sein müssen, den er oder sie nicht liebt. Oder ein Leben führen, dass er oder sie nicht will."
An dieser Stelle lege ich eine kurze Kunstpause ein und lausche auf das Zirpen der Zikaden und das leise Plätschern der Wasserspiele.
"Aber ich bin nicht naiv", fahre ich schließlich fort. "Mir ist klar, dass manchmal Opfer gebracht werden müssen. Darum verstehe ich auch, weshalb Monsieur Lavigne diese Marquage organisiert hat. Das Opfer ist seine Tochter Lilou. Sie soll durch ein archaisches und grausames Ritual an einen Wolf gefesselt werden, den sie nicht liebt und der auch nicht ihr Loup du cœur ist. Und das nur, um vor Ihnen allen noch einmal klarzustellen, dass wir Fähen in erster Linie das Eigentum unserer Mates sind." Mein Tonfall wird schärfer und ich rede schneller, weil ich spüren kann, dass Lavigne neben mir unruhig wird. "Damit nicht noch andere Mädchen auf die Idee kommen, die Seelenpartnerschaft und ihren geradezu lächerlich überhöhten Stellenwert anzuzweifeln. So wie ich. Wölfe wie Monsieur Lavigne wollen lieber, dass alles so bleibt, wie es ist. Wir Fähen werden unter dem Deckmantel eines Seelenbundes zu fügsamen Sklavinnen gemacht. Wir sollen uns beißen lassen, unseren Partnern gehorchen, ihre Welpen austragen und bitte niemals so etwas wie Ansprüche oder gar Ehrgeiz entwickeln. Denn das könnte ihr ganzes System zum Einsturz bringen, das nur darauf ausgerichtet ist, uns Fähen klein zu halten."
Ich bemerke eine Bewegung aus dem Augenwinkel, weiche Xavier Lavignes zupackender Hand aus, mache ein paar Schritte rückwärts und wende mich an Lilou, die meine Rede sichtlich aufgelöst verfolgt. "Ich hoffe wirklich, dass du in deinem Leben glücklich wirst, aber ich kann nicht zulassen, dass du dieses symbolische Opfer erbringst, während hier alle nur herumsitzen und so tun, als wüssten sie nicht, was vor ihren Augen passiert." In Richtung der Zuschauer schiebe ich hinterher: "Ich hoffe, Sie haben Spaß an diesem Schmierentheater auf Kosten von Lilous Zukunft."
"Ja, Chloé, fuck the system!", brüllt Louanne.
"Vive la révolution!", ergänzt ihre Schwester.
Ich suche die beiden in der Menge, doch noch bevor ich sie ausfindig machen kann, werde ich von Xavier Lavigne gepackt und von der Bühne geschubst. Dabei habe ich so viel Schwung, dass ich auf einem der Tisch lande. Der Aufprall erwischt mich hart. Als wäre ich gegen eine Wand gerannt. Es klirrt und scheppert. Nicht nur um mich herum, sondern auch in meinem Kopf. Benommen rolle ich mich auf die Seite und kann gerade noch erkennen, wie Baptiste Chastain zähnefletschend zum Sprung ansetzt.
Im nächsten Moment wird er von einem schlanken, schwarzen Wolf mit eisblauen Augen attackiert. Bernard. Er reißt Baptiste von den Pfoten. Knurrend und fauchend gehen die beiden aufeinander los, verbeißen sich ineinander und landen hinter der Bühne.
"Chloé!"
Ich rappele mich auf und rutsche vom Tisch. Da werde ich erneut von Xavier Lavigne gepackt. Er zerrt mich ganz nah zu sich heran. In seinen violett glühenden Augen ringen purer Hass und instinktgeleitetes Verlangen miteinander. Vermutlich denkt er darüber nach, mich zu ficken. So wie es spätestens in ein paar Tagen die meisten männlichen Wölfe in meiner Nähe tun werden. Doch dazu werde ich es nicht kommen lassen.
Ich packe seinen riesigen Kopf und presse ihm die Daumen fest in die weichen Augenhöhlen. Xavier gibt einen seltsamen Grunzlaut von sich, taumelt und wirft mich rücklings auf den Rasen. Diesmal ist der Aufprall nicht ganz so hart. Ich kann mich schnell wieder sammeln und strecke mich nach meinem inneren Wolf, um mich zu verwandeln. Eine gewaltige Dosis körpereigener Opioide später schlüpfe ich aus meinem Kleid und befreie mich von meiner Unterwäsche. Dabei muss ich den BH-Bügel mit meinen Eckzähnen durchknapsen.
Anschließend husche ich unter den Tischen entlang. Xavier ist mir dicht auf den Fersen. Am anderen Ende des Gartens holt er mich ein. Allerdings kriegt er mich nicht zu fassen, bevor Mathéo heran ist und ihn unter Knurren und Zähnefletschen zu einem Zweikampf zwingt.
Diese Gelegenheit nutze ich und flüchte ins Haus.
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