Wut
Sie drückt ihre Augen fester auf die Knie, damit ihre Jeans die Tränen aufsaugen. Ihre Fingernägel bohren sich in ihre Handflächen, so fest hat sie ihre Fäuste geschlossen, denn sie ist wütend. Wenn sie wütend ist, muss sie immer weinen. Dann schreit ihre Mutter sie immer an, dass sie keinen Grund hat zu heulen, aber sie weint ja nicht, weil es sie verletzt, was ihre Mutter sagt. Sie weint, weil sie wütend ist.
Und jetzt ist sie furchtbar wütend.
So wütend, dass sie etwas kaputt machen will, aber dann brüllt ihre Mutter sie wieder an und sie wird noch wütender. Das ist nicht gut. Deswegen braucht sie Schmerz, um ihre Wut zu übertönen. Ihre Fingernägel in der Handfläche, klar, das tut weh. Aber nicht genug.
Sie braucht was anderes.
Einmal hat sie sich die Arme aufgekratzt und als ihre Eltern es gesehen haben, hat sie irgendeine dumme Lüge mit stolpern und einer Mauer erzählt. Sie haben es geglaubt. Aber das geht nicht nochmal, sonst werden ihre Eltern misstrauisch.
Sie braucht was anderes.
Sie steht vom Klodeckel auf und tigert durch das Badezimmer, immer noch die Nägel in ihre Handflächen gebohrt. Immer wenn sie wütend ist, schließt sie sich im Bad ein. Ihr Zimmer hat keinen Schlüssel und sie muss alleine sein, wenn sie so ist wie jetzt, sonst tut sie jemandem weh. Das will sie nicht.
Sie setzt sich auf den Badewannenrand und kratzt jetzt doch am Arm. Am linken. Es ist Winter und sie trägt lange Ärmel, das wird schon niemand sehen. Und wenn ihre Eltern um sie sind, wird sie eben besonders vorsichtig sein. Aber die bekommen ja eh nie etwas mit! Sie kratzt und kratzt, es tut gut, ihre Wut an etwas auszulassen.
Während sie kratzt, denkt sie nach. Man kann gut denken beim Kratzen.
So wie jetzt ist sie manchmal, vielleicht alle zwei Monate, vielleicht auch öfter. Aber wütend ist sie oft. Sie hat nur gelernt, ihre Wut zu verbergen, sie hinunter zu schlucken. Sie knäuelt sich dann zusammen in ihrem Magen, zu einem großen Knäuel verschluckte Wut, und manchmal muss die eben raus. So wie heute. Dann reicht das kleinste bisschen, damit sie ausrastet. Und dann ist sie richtig wütend, so furchtbar, furchtbar wütend. Wütend aud ihre Mutter, wütend auf alle, wütend auf die Welt. Aber vor allem ist sie wütend auf sich selbst. Weil sie so oft wütend ist. Weil sie sich nicht kontrollieren kann. Weil sie offensichtlich sogar zu schlecht ist um Freunde zu finden. Wegen einfach allem. Sie hasst sich. Sie hasst sich! SIE HASST SICH!!!
Und dann, plötzlich, ist die Wut verschwunden.
Sie schaut hinunter auf ihre Arme und bemerkt, dass sie an beiden Armen aufgekratzt hat. Links zweimal und rechts einmal. Sie hat gar nicht mitbekommen, wie sie den Arm gewechselt hat, so wütend war sie.
Aber jetzt ist die Wut weg. Jetzt ist da nur noch Leere in ihr drin.
Und sie fängt wieder an zu weinen.
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