34. The End
Als Ethan mir zu Beginn unserer Beziehung sagte, was er für mich empfand, war dass das schönste Gefühl, was ich je verspürt habe. Mein Herz raste wie wild. Es fühlte sich an, als sei ich einen Marathon gelaufen. Als wäre ich von einem Mörder verfolgt worden. Doch weder spürte ich anstrengung, noch angst. Es war Liebe. Zum ersten Mal in meinem Leben, habe ich erkannt, wie sich Liebe anfühlt. Ich habe dieses Gefühl nie vergessen, auch wenn das Herzrasen mit der Zeit verschwand. Wenn ich mit Ethan auf der Couch saß, Pizza aß und einen unserer Lieblingsfilme guckte, konnte ich dieses Gefühl nicht mehr spüren, doch ich errinerte mich daran und deshalb ließ ich die Beziehung laufen.
Erst, als ich Alex begegnete, kam das Gefühl in mir zurück. Als ich an die Holztür mit seinem Namen darauf klopfte, die Tür sich öffnete und ich das erste Mal in seine blauen Augen sah, spürte ich wieder, wie mein Herz raste.
Es ist unglaublich, wieviele Gedanken und Errinnerungen in meinem Kopf umher schwirren, nur weil ich dieses Buch in meinem Händen halte. Das Buch, welches Ethan und Clair mir zum Anfang des Praktikums schenkten. In diesem Moment spürte ich das Herzrasen nicht. Doch nur einige Momente später, am Abend des Geschenkes, sah ich Alex. Ich sah ihn umschlungen mit einem anderen Mann im Club tanzen. Da spürte ich es.
Ich packe das Buch über die Wallstreet behutsam unter die Klamotten in meinem Koffer. Es ist der zweite Koffer, der fast vollkommen gepackt ist. Den ich gefüllt habe mit allem, was ich benötige, für den Neustart in ein völlig anderes Leben mit Alex.
Und mein Herz raßt.
"Charlie, Frühstück!" ruft meine Mutter. Ich habe vollkommen die Zeit vergessen. Die ganze Nacht über malte ich mir aus, wie mein Leben ab heute aussehen würde. Wie ich an den Straßen von Miami entlanglaufen werde. Der seichte Wind, der durch die Palmen weht und der Geruch von den Gewässern neben der Stadt. Und meine Hand fest umschlungen mit der von Alex.
Jetzt ist es schon morgen. Alex ist wahrscheinlich schon längst über alle Berge - er ist unserer gemeinsamen Zukunft bereits ganz nahe.
"Komme!" rufe ich meiner Mutter zu, die noch nicht weiß, das ich gerade meine Sachen packe. Ich erzählte ihr nichts von dem Gespräch mit meinem Chef - ich meine, meinem Freund.
Aber gleich werde ich es ihr sagen. Am Frühstückstisch wird sie erfahren, wie glücklich ich sein werde mit der Entscheidung, in eine andere Stadt zu gehen.
Ich werde sie sicher vermissen, und sie mich auch. Aber sie wird es verstehen. Sie wird verstehen, das ich sie wegen der Liebe verlassen muss. Und sie wird mich gehen lassen, da bin ich mir sicher.
Schnell schlüpfe ich aus den Sachen, die ich die Nacht über nicht ausgezogen habe und schlüpfe in eine Jogginghose und ein Shirt, reibe mir die Augen und zerstrubbele meine Haare damit es aussieht, als hätte ich geschlafen und nicht die ganze Nacht meine Wertsachen zusammen gepackt.
In der Küche steht sie und stellt Lebensmittel wie Wurst, Käse und Brot auf den bereits gedeckten Tisch. Meine Füße lassen die Treppenstufen knarzen, mit jedem Schritt den ich gehe und erwecke somit die Aufmerksamkeit meiner Mutter.
Meine Nervosität schlägt viel schneller ein, als ich es mir ausgemahlt habe, als sie mir einen raschen Blick zuwirft.
Und als sie sich dann zu mir umdreht und mich anlächelt, vergesse ich schlagartigen alle Sicherheiten, die ich noch eben im Bezug auf sie hatte.
Sie wird mich niemals gehen lassen. Nicht vollkommen allein mit einem für sie Fremden, in eine völlig fremde Stadt, viele Kilometer von ihr entfernt.
Shit.
"Möchtest du das Ei hart oder weich gekocht?" fragt sie mich.
"Ehm.." stottere ich, nicht in der Lage auch nur ansatzweise vernünftig zu sprechen. Mein Kopf ist auf einmal so verdammt leer und jeden klaren Gedanken, den ich vor Sekunden noch hätte fassen können, verpufft und mein Gehirn löst sich in dünnem Nebel auf.
"Hart bitte." sage ich, ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich wirklich möchte.
"Echt?" fragt sie mich.
"Sonst magst du's doch immer weich."
"Ja, ja ..Dann weich." korrigiere ich mich und nehme auf einem freien Stuhl platz. Das Wasser in dem Glas schütte ich ohne Luftzuholen in meinen Hals und stehe anschließend auf, um es neu aufzufüllen. Mein Mund ist so verdammt trocken. Ich sollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen.
"Mom-" fange ich an, als Claire hinunter kommt.
"Guten Morgen." begrüßt sie uns mit schweren Augen.
"Guten Morgen, Spatz. Möchtest du dein Ei auch weich?" fragt Mom sie.
"Ja bitte." setzen sich die zwei einem Gespräch aus, in dem es mir schwer fällt, dazwischen zu gehen und etwas zu sagen.
"Mom, gestern Abend-"
"Oh nein, jetzt ist mir das Salz runter gefallen!" beschwert sich Mom und schaut verzweifelt auf das kleine, weiße Häufchen, was sich vor ihr auf der Teke gebildet hat.
"Haben wir noch Milch, oder ist die alle?" fragt Claire, als sie den Kühlschrank inspiziert.
"Es müsste noch welche im Kammerschrank sein. Wärst du so lieb, und reichst mir das Kehrbleck? Ich glaube-"
"Ich werde nach Miami gehen!" unterbreche ich apruppt das hin und her auf eine Art und Weise, die meinen Fantasien - über welche ich mir die ganze Nacht Sorgen gemacht hatte, wie ich dieses Gespräch am besten führen sollte - überhaupt nicht ähnelt. Sofort wird es still und jeder hält in seiner Bewegung inne. Nun setzen die Kopfschmerzen ein.
"Was?" fragt meine Schwester, da meine Mutter kaum im Stande ist, ihren Mund zu öffnen.
"Ich habe meine Sachen gepackt und ein Flugticket bekommen. In einer Stunde fliege ich nach Miami, wo Alex und ich gemeinsam leben werden." bringe ich es so schnell wie möglich von den Lippen, um es endlich hinter mir zu haben. Und trotz des zweiten glases Wasser, ist mein Mund wieder trocken. Vielleicht wäre es angebrachter, statt des Wassers mein Glas mit Alkohol zu füllen.
"Ist das... dein Ernst?" fragt mich meine Schwester verblüfft und stämmt ihre Hände in die Hüften.
"In meinem neunzehn-jährigen Leben war mir etwas noch nie so ernst."
Keiner der beiden Frauen weiß sich zu helfen. Beide stehen nur da und gucken mich ungläubig an.
"Ich werde euch besuchen kommen, zu jedem Feiertag und wann auch immer ihr mich braucht. Und ich werde jeden zweiten Tag anrufen und-"
"Charles Timothy Dunn." spricht Mutter meinen vollen Namen aus. Ich bekomme sofort Gänsehaut und ein eiskalter Schauer legt sich über meinen Rücken. Es bedeutet immer etwas schlechtes, wenn sie meinen Namen sagt.
"Oh oh." wispert Claire, die in das wütende Gesicht von Mutter schaut, welches ich mich nicht traue, anzusehen.
"Ich hatte gestern viel Geduld mit dir und glaube mir - ich habe verstanden. Aber jetzt geht es zu weit." sagt Mutter und nun traue ich mich, aufzustehen und sie anzusehen. Adrenalien schießt durch meine Venen.
"Aber das ist es, wofür ich mich entschieden habe! Ich werde auf mich aufpassen, und das wird Alex auch. Wir werden das gemeinsam machen und dafür brauche ich deine Erlaubnis nicht!"
"Du hast nichtmal einen richtigen Abschluss, geschweige denn ein College in Aussicht und denkst, du kannst einfach in eine andere Stadt ziehen? Habt ihr überhaupt das Geld dafür? Weißt du, wo ihr schlafen werdet!?"
"Ich weiß, was ich tue!"
"Das beantwortet nicht meine Fragen, junger Mann!"
"Mom-" geht Claire auf der Stelle dazwischen. Mit ernster Miene schaut sie unsere Mutter an.
"Ich glaube ihm. Und ich glaube auch, das er dafür mehr als bereit ist."
Was? Ich meine ... Was? Nie im Leben hätte ich geglaubt, das gerade Claire - die von dieser ganzen Geschichte nur negativ betroffen war - mich verteidigen und zu mir stehen würde.
"All diese Monate, in denen er in dieser Firma arbeitete, haben auf den jetzigen Moment hingearbeitet. Jede Entscheidung, die Charlie getroffen hat, führt ihn nach Miami. Mit Alexander. Und siehst du nicht, wie glücklich er ist?"
Bei den Worten überkommt mich endlich wieder ein Gefühl der Wärme.
Mutter sieht mich misstrauisch an.
"Wieso glaubst du, sollte ich das zulassen?" fragt sie mich schließtlich. Die dünne Luft um mich herum, atme ich behutsam durch meine Nase ein, bevor ich ihr mit sanfter Stimme antworte.
"Weil ich diese Entscheidung schon getroffen habe, in dem Moment, als ich Alexander kennen lernte."
Mein Arm streift durch den weichen Stoff meines Mantels, als ich ihn überziehe. Beide Koffer stehen verschlossen neben der Tür und zum letzten Mal begutachtige ich mein Zimmer. Mental verabschiede ich mich von all meinen Besitztümern darin.
Dann nehme ich beide Koffer in die Hände und schreite durch die Tür die Treppenstufen hinunter.
Auf der Couch sitzen Mom und Claire. Beide beäugen jeden meiner Schritte. Beinahe fühle ich mich wie ein High-School-Mädchen, welches zu ihrem ersten Abschlussball geht und ihrer Familie elegant ihr Kleid präsentiert. Doch in den Augen meiner Familie sehe ich kein Stolz, sondern Trauer. Und ich fühle mich nicht wie ein junges Mädchen in einem hübschen Kleid. Jedoch trifft das mit dem Abschluss irgendwie zu.
Das hier ist das Ende - und so fühlt es sich auch an.
Unten angekommen, lächle ich. Ich lächle zum Abschied und warte auf eine Reaktion.
Meine Schwester erhebt sich von der Couch und kommt auf mich zu, um mich in eine feste Umarmung zu schließen, indem sie beide Arme um meinen Hals legt und mich an sich drückt.
"Du bist verrückt, Charlie." flüstert sie. Ich muss lächeln und erwiedere ihren festen Druck.
"Ich werde dich auch vermissen."
Als sie sich von mir löst, erkenne ich das sich Mom noch keinen Zentimeter zu mir bewegt hat. Es versetzt mir einen Stich in der Brust, doch ich kann nicht anders, als es zu akzeptieren. Irgendwann wird sie es verstehen, und sie wird mir verzeihen. Hoffe ich.
"Ich hab dich lieb, Mom." sage ich, lächle ihr ein letztes mal zu und drehe mich um. Als ich meine Hand auf die Türklinke lege, spüre ich jedoch eine Hand an meiner Schulter, die mich zu sich zieht. Mom ist endlich aufgestanden und drückt mich in eine noch festere Umarmung.
"Bau keine Scheiße." schlucht sie verzweifelt. Das tut sogar noch mehr weh, als ihre ignoranz.
"Versprochen." sage ich und genieße die lang anhaltende, letzte Umarmung meiner Mutter. Und dann schreite ich durch die Tür.
Der Wind ist kalt, als ich den Kieselweg entlang laufe. Kälter als sonst.
Ein letztes Mal drehe ich mich um, sehe sie mir zuwinken - und ich winke zurück. Nach einem Moment, der sich wie die Ewigkeit anfühlt und noch viel länger anhalten sollte, schließen sie die Tür.
Ich habe mich geirrt. Jetzt fühlt es sich wie das Ende an.
Mein Kopf schwebt frei herum, als ich die Straße der Nachbarschaft entlang laufe. Eine Träne kullert über meine Wange. Eine Träne der Freiheit, würde ich sie nennen.
Doch dann höre ich etwas poltern, und als ich mich umdrehe sehe ich, das mein Koffer aufgegangen ist und einige Sachen heraus gefallen sind.
Eilig beuge ich mich hinunter, um die verlorenen Sachen wieder aufzuheben und in den Koffer zurück zu stopfen, und obwohl ich schon in weniger als sechtzig Minuten am Flughafen sein muss, halte ich einen Moment inne, als ich das Buch in der Hand halte.
Das Wallstreet-Buch.
Turney Duff's 'The Buy Side'.
Meine Errinnerung an nicht nur Alex, sondern auch an Claire, an meine Mom und Ethan.
Menschen sagen, dass ganze Leben rast an einem vorbei, kurz bevor man stirbt. Dies hier, ist ein ähnlicher Moment. Als ich nämlich auf dem steinigen Gehweg hocke und auf die Buchstaben des Buchtitels starre, sehe ich mehr vor mir, als nur rote Schriftzeichen. Ich sehe Ethan's Tränen in den Augen. Wie in einer Blase aus Rauch und Wolken, erkenne ich die blauen Augen eines Mannes, dem ich das Herz gebrochen habe, welche seine Arme um seinen Körper schlingt und sich mit dem Rücken an die Wand schmiegt. Er bedauert alles, was passiert ist, in den letzten Wochen unserer Beziehung.
Seine Hand ist verwundet von dem Schlagaustausch den er hatte mit einem Mann, einem Anzugträger, der ihm seine Liebe stahl. Seine Hose ist beschmutzt und die Kaputze seiner Jacke verdeckt ihm die vor Schweiß triefende Stirn.
Ich schüttle meinen Kopf, um diese Vorstellung von dem Mann, für den einmal mein Herz schlug, zu verdrängen, doch sein Gesicht bahnt sich immer wieder vor meine Augen.
Die Grübchen, die sich bildeten, jedes Mal wenn er mich anlächelte. Diese Wärme, die seine Hände auf mich übertrugen, die ich viel zu schnell als selbstverständlich wahrgenommen habe. Und die blauen Augen. Die Augen, die mir mehr erzählten, als es seine stillen Worte je taten. Die es mir immer schwer gemacht haben, ihn loszulassen, egal wie unangenehm und grausam manch unserer Auseinandersetzungen waren. Die Augen, die so grau schienen in dem Moment als sie sahen, wie Alexander meine Hand berührte.
Und ich errinere mich daran, wie Ethan einmal meine Hand hielt.
Auf einmal wird mir klar, dass ich nicht der Held meiner eigenen Geschichte bin.
Ich habe die Bedürfnisse aller, die mir lieb sind, hinter meine Eigenen gestellt. Ich war egoistisch und gemein weil ich dachte, die Liebe sei das alles wert. Doch liebe bedeutet nicht, dafür alles andere in den Dreck zu werfen. Liebe bedeutet Angst, Untreue und Bereuhen und am Ende Vergeben.
Trotz der schlimmen Dinge, die ich Ethan angetan habe saß er verwundet vor meiner Tür, hörte sich an wie ich von der Liebe sprach und beschloss, mir dennoch zu vergeben.
Er hat mir vergeben.
Und mein Herz fängt an zu pochen.
"Ich kann das nicht tun."
Ich verschwende keinen weiteren Gedanken.
Ich lasse alles liegen und renne los. Renne zu unserem Haus.
Vor der Tür halte ich an. An der braunen Holztür, darauf ein Schild mit unserem Familiennamen.
Dunn.
Ich klopfe vorsichtig und sofort öffnet sich die Tür.
Mutter steht vor mir.
"Hi. Es tut mir leid."
Ende.
https://youtu.be/O6TzLvCpOQs
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