III
Ich zockte den ganzen Tag und als es draußen dämmerte, hatte ich Kopfschmerzen von den Zigaretten und war angenehm benebelt vom Bier. Ich hatte keine Lust mehr auf das Spiel und schaltete den Computer aus. Aus irgendeinem Grund hielt mein betrunkenes Gehirn es für eine gute Idee, Mo anzurufen. Ich glaubte ihm immer noch nicht, war aber neugierig auf seine Erklärung. Und dann kam noch etwas anderes dazu, ein Gedanke, der mir so peinlich war, dass ich ihn niemals laut ausgesprochen hätte: Was, wenn er sich wirklich verwählt hatte und es Schicksal war? Was, wenn Nobby mir ein Zeichen schicken wollte?
Das war so esoterisch und bescheuert, dass ich mir selbst lächerlich vorkam, aber ich musste es herausfinden.
Mo hob nach wenigen Sekunden ab und ich hielt mich nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf.
"Warum hast du dich verwählt?", schoss ich los. "Kein Mensch verwählt sich heutzutage mehr! Man hat Nummern eingespeichert und drückt auf den Namen, dabei kann man eigentlich nichts falsch machen!"
"Oh, hallo Jasmin", sagte er. Er klang fröhlich, was mich irgendwie ärgerte.
"Beantworte meine Frage!"
Er räusperte sich. "Ich hatte die Nummer nicht in meinem Handy gespeichert, sondern sie von einer Broschüre abgelesen und eingesprochen. Nachdem du gestern aufgelegt hattest, habe ich herausgefunden, dass mein Telefon die zwei für eine drei gehalten hat. Deswegen."
"Wenn ich also die gleiche Nummer wähle und statt der drei die zwei eingebe ..."
"Dann kommst du bei Margarete Dillinger raus, beim BFW Frankfurt."
Ich war noch nicht überzeugt.
"BFW Frankfurt?"
"Berufsförderungswerk."
Ich hatte keine Ahnung, was das war.
"Aha", sagte ich deswegen nur und wusste nicht, was ich sonst noch sagen soll.
"Das Berufsförderungswerk unterstützt Menschen mit Behinderungen", erzählte er. "Ich habe meinen Job verloren, es ist ... es ist eine lange Geschichte." Er seufzte. "Und sie ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich etwas Neues brauche, mir fällt jetzt schon die Decke auf den Kopf. Und, falls es dich interessiert, ich habe sie gestern noch erreicht und sie wird mir helfen. Das ist was Gutes!"
Ich hätte alles Mögliche antworten können; ich hätte mich für ihn freuen können, ihm gratulieren, mich entschuldigen, mich erklären oder einfach das Thema wechseln.
Mein besoffenes Gehirn brachte aber nur einen Halbsatz zustande: "Menschen mit Behinderungen?"
"Ich bin blind", sagte er, in einem Tonfall, als würde er mit mir über das Wetter plaudern. "Deswegen nutze ich auch die Sprachfunktion. Und deswegen hat mein Handy mich wohl falsch verstanden."
"Deswegen hast du ZG3 sofort erkannt!"
Er lachte und ein warmes Gefühl strömte durch meinen Bauch. Verdammt, ich mochte diesen Klang wirklich. "Stimmt. Und, dass du ziemlich viel rauchst. Und trinkst. Da du gestern ein bisschen gelallt hast, gehe ich davon aus, dass es kein Wasser war. Bevor du wieder auflegst, das war kein Vorwurf! Nur eine Feststellung!"
Ich seufzte. "Ziemlich gut, das muss man dir lassen."
"Irgendwas muss ich ja auch können. Magst du mir erzählen, wer Kat ist?"
Mein Magen verkrampfte sich und schnell trank ich einen Schluck. War ja jetzt auch egal, dass er es hören konnte. Wenn er die Wahrheit sagte, lebte er in Frankfurt, Hunderte von Kilometern weit weg. Jetzt wo er es sagte, erkannte ich auch den leichten Dialekt. Eigentlich war er der perfekte Gesprächspartner. Er kannte mich nicht, auch nicht Nobby oder Kat.
"Kat ist ... war meine beste Freundin", sagte ich deswegen. "Wir hatten aber ziemlich viel Stress in letzter Zeit, deswegen haben wir gerade keinen Kontakt. Ich habe ... ich dachte gestern, sie hätte dich auf mich angesetzt, um auf mich aufzupassen. Wäre nicht das erste Mal."
"Dir geht es derzeit nicht besonders gut, oder?", fragte er. "Sonst würde sie nicht denken, dass du einen Aufpasser brauchst."
"Ich ... Nein. Ehrlich gesagt, nicht wirklich."
Eine Weile lang sagte niemand etwas. Dann die zögerliche Frage vom anderen Ende der Leitung: "Möchtest du vielleicht darüber reden?"
Es kam so leise, dass ich ihn fast nicht verstanden hätte, und dennoch krampfte sich in meinem Magen alles zusammen. Meine Hand schloss sich um die Bierflasche, klammerte sich daran fest, als könne sie mich vor dem Ertrinken retten.
"Nein", presste ich hervor. "Nein, eigentlich nicht."
Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob das die Wahrheit war. War es nicht genau das, was ich allen anderen die ganze Zeit über ankreidete, dass sie nicht darüber reden wollten? Nun wäre vielleicht der richtige Zeitpunkt. Doch ich fühlte mich nicht danach. Wieder eine lange Pause, dann verstrich der Moment, als Mo sagte: "Okay."
Wir schwiegen uns durch das Telefon an, was wirklich seltsam war. Hätte ich ihn nicht ab und an atmen hören, wäre ich mir sicher gewesen, er hätte längst aufgelegt. Fieberhaft überlegte ich, was ich nun sagen sollte, doch mein Hirn war wie leergefegt. Nach einer Weile ergriff er schließlich wieder das Wort.
"Hey, ich hab gestern ein ziemlich gutes Buch gelesen, willst du mal hören?"
Irritiert über den abrupten Themenwechsel und die Tatsache, dass er "lesen" gesagt hatte, blieben mir die Worte erstmal im Hals stecken, doch er redete direkt weiter. "Na ja, ich weiß, die meisten finden es etwas komisch, aber ich lese echt total gern und viel. Auch als Blinder kann man lesen."
"Mit ... äh, wie heißt das? Braille oder so?"
"Nein, mit einem Sprachassistenten. Warte, ich zeig es dir."
Ich hörte ein kurzes Rascheln, einen dumpfen Schlag und einen leisen, unflätigen Fluch, der mich erneut ein wenig lächeln ließ. Ich fuhr mit den Fingern über die ungewohnten Grübchen, die sich in meiner Wange gebildet hatten. Im nächsten Augenblick ertönte eine etwas abgehackte Computerstimme aus meinem Lautsprecher, die irgendeinen episch klingenden Klappentext eines Fantasyromans vorlas. Bereits nach der Hälfte schaltete mein Hirn ab; das war nun wirklich nicht mein Geschmack.
Die Stimme erstarb, es raschelte erneut und Mo war wieder am Hörer. Seine Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung. "Und? Klingt das nicht megacool? Das Buch ist der Wahnsinn, ich kann es dir echt empfehlen."
"Klingt ein bisschen wie einer dieser Groschenromane vom Norma-Ramschtisch", entgegnete ich wahrheitsgemäß. "Irgendwas mit Trollen und Orks und einer Schlacht und ... puh. Nicht meins, sorry."
Die Empörung, die mir daraufhin aus dem Telefon entgegenschlug, war fast greifbar.
"Das ist Markus Heitz!", entrüstete er sich, ungläubig lachend. "Das ist ein moderner Klassiker! Wie kannst du das nicht cool finden? Da geht es um Zwerge, und um den Kampf gegen das Böse, das Buch ist so vielschichtig, witzig und intelligent, da gibt es so viel Gesellschaftskritisches und ..."
"Mag ja sein, aber meins ist es nicht. Wenn Markus Heitz möchte, dass ich seine Bücher lese, sollte er vielleicht etwas schreiben, das irgendwie ... ich weiß auch nicht, realistischer ist. Ich steh nicht so auf diesen ausgedachten Quatsch."
"Fantasy ist ein stark unterschätztes Genre", klugscheißerte er. "Eine Geschichte muss nicht realistisch sein, um wichtige Werte zu vermitteln und Missstände aufzuzeigen."
"Und ich finde Zwerge unsympathisch."
"Unsympathisch? Wie kann man denn Tungdil unsympathisch finden, er ist ein Held!"
"Tungdil heißt der Typ? Das klingt wie eine Waschmittelmarke."
"Ich fass es einfach nicht!", rief Mo, aber er lachte dabei. "Kein Fantasy? Also, echt! Du gehst morgen in die nächste Buchhandlung und besorgst dir dieses Buch, ich rede erst wieder mit dir, wenn du es gelesen hast."
Dieses Mal musste ich lachen. Es klang kratzig und vollkommen falsch, aber trotzdem war es da und ich konnte es nicht zurückhalten. Und vielleicht wollte ich das auch gar nicht.
"Keine Chance, nie im Leben lese ich das. Da hole ich mir eher noch Shades of Grey."
"Was, auf solche Bücher stehst du? Okay, war schön, dich gekannt zu haben, mach's gut."
"Alles ist besser als eine Zwerg-Ork-Waschpulver-Schlacht in Mittelerde."
"Mittelerde ist Tolkien."
"Und wenn schon. Ist doch alles das gleiche."
"Ich bin entsetzt, Jasmin. Einfach entsetzt. Mir fehlen die Worte."
"Und ich kann nicht glauben, dass du so einen Quatsch liest. Weißt du, was ein gutes Buch ist? Die Schachnovelle. Ernsthaft, es ist der Hammer! Ich hab sogar geweint, als ich es gelesen habe, nicht, weil es so traurig war, obwohl es das war, sondern weil mich die Geschichte so geflasht hat. Und das kommt ganz ohne Gnome aus."
"Zwerge."
"Genau."
"Ich kenne mich mit Schach nicht aus."
"Das musst du nicht, das Buch kann man auch ohne Schachkenntnisse lesen und verstehen. Es geht um einen Wissenschaftler, der im zweiten Weltkrieg in Gefangenschaft gerät und daraufhin den Verstand verliert, ernsthaft, es ist so gut geschrieben, es hat mich wirklich beeindruckt."
"Also liest du auch gern. Das ist cool!"
"Ich ..." Nun geriet ich ins Straucheln, denn ich wusste nicht, wann ich zum letzten Mal ein Buch gelesen hatte. Es war nicht gelogen, ich hatte die Schachnovelle geliebt, doch gelesen hatte sie während meiner Schulzeit und das war nun schon einige Jahre her. "Ich habe schon lange nichts mehr gelesen", gab ich schließlich zu. "Aber eigentlich mag ich es ganz gern, ja."
"Warum tust du es dann nicht öfter? Dinge, die man mag, sollte man möglichst oft tun."
"Keine Ahnung. Keine Zeit."
"Niemand hat Zeit. Man nimmt sich Zeit für die Dinge, die einem wichtig sind. Oder die Dinge, die man mag. Zumindest sollte man das tun. Ich mach dir einen Vorschlag: Ich besorge mir die Schachnovelle und lese sie, und du liest die Zwerge, und dann telefonieren wir wieder und reden darüber. Wie ein Buchclub, sozusagen."
"Ich werde die Zwerge nicht lesen. Aber die Schachnovelle solltest du unbedingt lesen, es ist ein gutes Buch."
Mo seufzte. "Du bist ziemlich stur, weißt du das? Okay, ich muss jetzt leider los. Ich besorge mir das Buch und dann reden wir drüber!"
Wir verabschiedeten uns und nachdem ich aufgelegt hatte, schwirrten mir einige Fragen im Kopf herum. Warum fühlte es sich so gut an, mit Mo zu reden, obwohl wir nicht über Nobby redeten? Warum bereute ich es plötzlich, ihm nicht mehr erzählt zu haben? Und was zur Hölle fand er nur an Kobolden?
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