Teil 30 | Tante Maria
"Setzt euch doch", sagte Oma Charlotte in einem so nüchternen Tonfall, als sei nie etwas vorgefallen.
Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob sie das wirklich ernst meinte, oder ob das irgendein Trick war.
Dieser plötzliche Stimmungswechsel überforderte mich zugegebenermaßen, vor allem, weil sich die Wahrnehmung meines Gehirns noch nicht wieder normalisiert hatte.
Ich blickte auf meine porenübersäte Oma herab und und versuchte die Mitesser im Regal zu ignorieren.
"Danke, aber ich bleibe lieber stehen", antwortete ich kalt. Nach dem, was ich eben erlebt hatte, traute ich meiner Oma nicht mehr. Dieser alten gebrechlichen Frau war durchaus zuzutrauen, dass sie in einem unaufmerksamen Moment das Fleischmesser nahm, um Mama oder mich abzustechen.
"Ich auch. Wir wollen uns schließlich keine Erkältung holen", erklärte Mama überflüssigerweise.
Oma Charlotte lachte stumpf.
"Na gut. Seht es mir nach, wenn ich sitzen bleibe. Die Knochen einer alten Dame sind nicht dafür ausgelegt, längere Zeit stehend zu verbringen. Und der enorme Blutverlust macht es auch nicht gerade besser."
Was sollte das? Wollte sie mit ihren unnötigen Ausführungen etwa Zeit schinden? Möglicherweise plante sie ja tatsächlich irgendetwas. Ich musste wachsam bleiben und sofort eingreifen, falls ich etwas Verdächtiges bemerken sollte.
"Komm zur Sache, Oma. Wir haben nicht ewig Zeit."
Ich erntete einen missbilligenden Blick von der alten Frau, die es offensichtlich nicht gewohnt war, dass auf so eine Art mit ihr gesprochen wurde.
Ihre Aufmerksamkeit fokussierte sich auf meine Mama, die in diesem Moment wesentlich nervöser zu sein schien, als ich.
"Meine liebe Rosalie... Wann hast du das letzte Mal etwas von Maria gehört?"
Maria war der Name meiner Tante, die in Amerika lebte. Sie war Mamas Schwester, doch sie sprach nicht sehr oft über sie. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass die Beiden jemals miteinander telefoniert hätten.
Bewusst konnte ich mich nur an zwei Tage erinnern, an denen ich Maria begegnet war. Einmal während der Hochzeit meiner Eltern und das andere Mal war sie angereist, um Opa Gunnar im Krankenhaus zu besuchen.
Damals war unklar gewesen, ob er den Herzinfarkt überleben würde oder nicht.
"Da fragst du mich was. Das muss schon Jahre her sein", antwortete Mama grübelnd. Wahrscheinlich versuchte sie gerade krampfhaft, sich an das letzte Gespräch mit ihrer Schwester zu erinnern.
"Du meine Güte, da blutet mir wirklich das Herz. Ihr beide wart früher unzertrennlich. Ihr habt alles zusammen gemacht. Euch immer alles erzählt. Ich war so glücklich darüber, zwei so tolle Mädchen zur Welt gebracht zu haben. Und jetzt? Was ist nur aus eurer liebevollen Beziehung geworden...?"
Mit einem Mal begannen Omas Augen in einem Schleier aus Wasser zu ertrinken. Ihre Mundwinkel bebten.
Vermutlich würde sie am liebsten in Tränen ausbrechen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, doch sie musste ja ihre Seriosität vor uns bewahren.
"Natürlich ist es traurig, dass wir kaum noch Kontakt haben. Aber so ist das eben. Sie hat ihr Leben, ich habe meins. Das ist nunmal der Lauf der Dinge."
"Unsinn! Weißt du, wann sie sich das letzte Mal bei mir gemeldet hat? Letztes Weihnachten! Nie erkundigt sie sich danach, wie es Gunnar und mir ergeht. Maria ist für mich schon lange kein Familienmitglied mehr..."
Noch immer strengte Oma sich an, ihre Tränen zurückzuhalten, doch man konnte an ihrer Stimme hören, wie sehr dieses Thema sie mitnahm.
"Das ist schon traurig und ich kann verstehen, dass du wütend bist. Aber was hat das mit uns, diesem Buch und den Mitessern zu tun?", fragte ich, um das ursprüngliche Thema wieder aufzugreifen.
Oma Charlottes Augen weiteten sich und eine kaum merkliche Träne lief ihr über die faltige Wange.
"Was das mit euch zu tun hat? Ist das nicht offensichtlich? Ich wollte verhindern, dass ich die gleiche Entfremdung mit euch durchleben muss. Ich wollte nicht, dass ihr euch jemals von mir abwendet, so wie Maria es getan hat. Also habe ich dafür gesorgt, dass das nicht passiert."
"Wie...?", war das einzige, was ich zu diesem Zeitpunkt herausbrachte.
Mama stand wie angewurzelt neben mir und schwitzte vor Nervosität.
Omas Blick schwenkte von traurig zu erwartungsvoll um.
"Denkt mal nach. Immer wenn ihr zum Essen kommt, um meine Kochkünste zu genießen, gibt es eine Sache, die niemals fehlen darf. Welche ist das?"
Mama und ich sahen uns mit großen Augen an.
"Das spezielle Gewürz!", stellten wir beinahe zeitgleich fest.
Auf Omas Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus.
Sie wirkte fast stolz, dass wir ihre Frage so schnell beantworten konnten.
"Ganz recht."
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