Teil 28 | Blutbad
Im Augenwinkel sah ich, wie Mama sich vor Entsetzen die Hände vor den Mund schlug. Gleichzeitig trat sie einen großen Schritt zurück, als könnte sie dadurch der Tatsache entkommen, dass Oma Charlotte im Begriff war, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Seltsamerweise beeindruckte mich dieser Gedanke kein bisschen. Auf mich wirkte diese ganze Aktion irgendwie gestellt. Oma war einfach nicht der Typ dafür, sich selbst zu verstümmeln.
Andererseits hatte ich ja bereits festgestellt, dass ich sie wohl doch nicht so gut kannte.
Trotzdem sagte mir mein Instinkt, dass die Aktion mit dem Messer bloß eine Show war, um uns dazu zu drängen, ihr das Buch zurück zu geben.
"Beruhig dich, Oma. Du hast keinen Grund dafür, uns zu drohen. Wir geben dir das Buch, wenn du uns die Wahrheit gesagt hast. So war die Abmachung", sagte ich so ruhig wie es mir möglich war.
Sofort erntete ich einen fassungslosen Blick von Mama.
"Sag mal, siehst du nicht, was hier gerade passiert? Oma spielt mit dem Gedanken, sich umzubringen! Vergiss die Abmachung. Ihr Leben ist wichtiger, als die Wahrheit."
Mit jedem Wort wurde ihre Stimme weinerlicher, bis sie zum Schluss komplett in Tränen ausbrach.
Ich konnte zwar verstehen, dass meine Mama Angst um ihre Mutter hatte, aber dennoch machte es mich wütend, wie leicht sie sich aus der Bahn werfen ließ.
Offensichtlich erkannte sie nicht, dass Oma Charlotte genau diese Reaktion provozieren wollte.
Vielleicht hätte ich Oma lieber ohne sie zur Rede stellen sollen.
Meine Augen fokussierten sich nun auf die scharfe Klinge, die an Omas Arm lag. Sie führte eine kaum merkliche schnittbewegung aus, die eine minimale Wunde erschuf.
Omas Gesicht wurde von einem psychotischen Lächeln geschmückt.
Wahrscheinlich fühlte sie sich unheimlich sicher in ihrer Position.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und grub meine Fingernägel in die Haut, um meine Wut ein wenig zu regulieren.
"Gebt mir das Buch, dann lege ich das Messer weg und wir tun so, als sei nie etwas passiert", forderte Oma Charlotte mit bohrendem Blick.
"Erst, wenn du uns die Wahrheit gesagt hast!"
Natürlich schaltete Mama sich direkt wieder dazwischen.
"Ich hab doch eben gesagt, dass wir auf die Wahrheit verzichten! Gib Oma schon das Buch, na los!"
Bestimmt bereute sie es, mir den alten Schinken in die Hand gedrückt zu haben.
"Hör auf deine Mama, Liebes", hauchte Oma Charlotte, während sie die Wunde langsam tiefer werden ließ.
Ein einzelner Bluttropfen wanderte nun ihren alten, faltigen Arm herunter.
"Annelie!"
Mama brüllte meinen Namen, als würde ihr eigenes Leben am seidenen Faden hängen. Ihr tränenüberströmtes, rotes Gesicht schaute mich wütend und gleichzeitig mit großer Verzweiflung in den Augen an.
"Die Wahrheit! Jetzt!", bellte ich Oma an. Das Buch hatte ich fest an meine Brust gepresst.
Oma Charlotte schien die Situation zu amüsieren, denn sie begann angeheitert zu kichern.
Erneut bohrte sie das Messer tiefer in ihr Fleisch, was einen Schwall austretenden Blutes zur Folge hatte.
Anschließend wandte sie sich mir zu und setzte dabei einen mitleidigen Blick auf.
"Annelie, Liebes... Du bist noch so jung. Es wäre doch jammerschade, wenn du den Rest deiner Tage mit der schrecklichen Gewissheit leben müsstest, für den Tod deiner Oma verantwortlich zu sein."
Ich ging nicht auf sie ein.
Das da vor mir war schon längst nicht mehr meine Oma. Diese Person war eine Psychophatin, wie sie im Buche stand. Sie hatte kein Mitleid verdient.
Und Schuldgefühle hatte ich ihr gegenüber schon gar nicht.
Sie war es, die mein Leben zerstört hatte. Nicht andersherum.
"Jetzt gib ihr schon das Buch, Annelie! Sie verblutet!"
Mamas starke negative Emotionen verzerrten ihre Stimme so sehr, dass ich sie nur zur Hälfte verstand.
Wieder lachte die Psychophatin, als sie das Messer erneut in ihren Arm rammte. Dieses Mal mit voller Wucht.
"Nein!"
Das Blut tropfte nun unaufhörlich auf den Boden, wodurch ein gleichmäßiges Geräusch erzeugt wurde.
Ihr Arm wurde mit jedem verlorenen Tropfen blasser.
Das Grinsen war ihr offenbar ins Gesicht gemeißelt worden.
Sie musste unsagbare Schmerzen haben, doch sie konnte einfach nicht aufhören, uns auszulachen.
Wieso fühlte sie sich so überlegen?
Ich war schließlich diejenige, die im Besitz des Buches war - zumindest bis zu diesem Moment.
Mama hielt dem psychischen Druck scheinbar nicht mehr stand.
Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass Oma Charlotte sich endgültig das Leben nahm.
Schreiend rannte sie auf mich zu, schlug mir mit der Faust ins Gesicht und riss mir das Buch aus den Händen.
Ich ging zu Boden und konnte gerade noch erkennen, wie sie der Psychophatin das Buch überreichte, bevor sich die Schwärze vor meinen Augen ausbreitete.
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