Kapitel 44
Es ist komisch.
Man kann eine Person nicht leiden. Hasst sie womöglich aus tiefstem Herzen und wünscht sich nichts Sehnlicheres als sie nie wieder sehen zu müssen. Doch wenn es hart auf hart kommt und diese Person um ihr Leben kämpft, ist man gewillt zu helfen. Oder ist traurig, falls diese Person doch noch sterben sollte. Warum ist das so? Was genau erwacht da eigentlich in uns in Momenten wie diesen?
,,Mira!". Emma kam angerannte und zog mich sogleich in eine feste Umarmung. Geistig abwesend, legte ich nur automatisch meine Arme um ihren kleinen Körper.
Liegt es vielleicht daran, dass wir Menschen Angst vor dem Tod haben? Angst vor der Ungewissheit? Der Dunkelheit, in welche man viel, wenn man starb?
Der Security-Mann, dem ich vorher gefolgt war, sah kurz zu uns beiden rüber und drehte seinen Kopf wieder von uns weg. Ließ uns Zeit.
Während Emma schon angefangen hat aus vollem Halse zu weinen, starrte ich nur emotionslos vor mich in den Flur.
Womöglich aber ist es auch einfach nur unser menschlicher Instinkt, welcher in solchen Situationen zum Vorschein tritt. Der Kopf schaltet sich aus, die Gefühle für diese Person werden für kurze Zeit in eine Schublade gesperrt und nur der Körper versucht mit allen Mitteln dieser Person zu helfen. Ein Reflex.
Aus der Ecke sah ich, wie ein weiterer Security-Mann mit einem zerstreuten, fast schon erschrockenen Blick angerannt kam. Als er Emma bemerkte, atmete er hörbar aus und verlangsamte seinen Schritt. Er hatte sie wohl für eine kurze Zeit aus den Augen verloren oder sie ist ihm entflohen.
Ich erwachte erst aus meiner Starre, als Emma ihre Heulattake so langsam wieder in den Griff bekam und die Security-Männer uns aufforderten weiter zu gehen. Sofort ergriff Emma alarmierend meine Hand, um zu signalisieren, dass sie von mir nicht getrennt werden wollte. Die Security-Männer sagten nichts dazu. Somit liefen ich und Emma Hand in Hand den beiden in schwarze Uniform gekleideten Männern hinterher.
Es war still im Schloss. Es war wie ausgestorben.
,,Ausgestorben", ein Wort, welches wir oft und ohne Bedenken verwenden. Es ist nur eine Metapher für die Leere oder die Stille. Eigentlich harmlos, sollte man es nicht wörtlich nehmen.
Keine Menschenseele begegnete uns, als wir durch die Flure liefen. Es gab nur noch uns beiden. Mich und Emma. Alle anderen waren schon weg.
'Ob sie noch leben?'. Ich biss mir bei diesem Gedanken auf die Innenseite meiner Wange. Verbot mir so zu denken.
'Sie leben und ich werde nicht zu spät kommen. Ich werde es rechtzeitig schaffen. Ich muss.'
Einzig und allein unsere lauten Schritte brachten etwas Leben ins Schloss, begleitet von Emmas leisen Schniefen.
Wir wurden in mein Zimmer geführt. Die Türe hinter uns fiel daraufhin nicht nur ins Schloss, sondern wurde auch noch zugesperrt. Ein 'Klick' und es hallten erneut die schweren Schritte der beiden Security-Männer durch den Flur. Sie entfernten sich.
Sogleich fing Emma erneut lauthals an zu weinen und fiel auf die Knie. ,,Ich will nicht sterben", nuschelte sie in ihre Hände, mit welchen sie ihr Gesicht bedeckte.
,,Beruhig dich Emma", sagte ich abwesend und sah nicht mal zu ihr runter. Die Sonne, welche ich durch die Balkontüre beobachten konnte, stand hoch am wolkenlosen Himmel. Sie kündigte uns einen warmen und sonnigen Tag an.
,,Emma, das reicht". Ich setzte mich direkt vor ihr auf die Hocke, als mir ihr Geheule nach einiger Zeit auf die Nerven ging. ,,Das hilft uns nicht weiter. Reiß dich zusammen".
Emma dachte jedoch gar nicht daran, aufzuhören. Stattdessen wurde ihr Schluchzen immer abgehakter. Sie steigerte sich immer mehr hinein und ich hatte die Sorge, sie würde zusammenbrechen, sollte es so weiter gehen.
,,Emma!", sagte ich nun lauter und packte sie an den Schultern, um sie etwas durchzuschütteln. Ihr Verhalten machte mir Angst, zumal ich überhaupt nicht wusste, was ich zu tun hatte, sollte sie plötzlich aufgrund Hyperventilation ihr Bewusstsein verlieren.
Sie stockte für einen kurzen Moment unerwartet und hob den Kopf, sodass sie direkt in meine Augen sah.
,,Es war ihr Rat", flüsterte sie und verzog daraufhin ihr Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. ,,Eigentlich hätte sie ihn befolgen müssen. SIE! SIE hätte überleben sollen!", schrie Emma letzteres und bedeckte wieder ihr Gesicht mit den Händen. Ich verstand nur Bahnhof.
,,Wovon redest du?".
,,Vergiss die Gier", schnief sie und hob ihren Kopf. ,,Ich stand in der Ecke und immer mehr Bodenfläche verschwand in der Tiefe". Emma schüttelte ihren Kopf und heule wieder los. ,,Ich verfiel in Panik. Ich wollte das nicht...'', schluchzte sie. ,,Ich habe mich an den Rat erinnert, den Ariana von ihrem Stylisten bekommen hat und es hat klick gemacht. Ariana war entschlossen eine der Rosen zu nehmen und ich habe sie nicht aufgehalten".
Ich setzte mich neben sie auf den Boden und zog sie in den Arm. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken. ,,Es ist nicht deine Schuld".
'Wie bin ich da nur nicht drauf gekommen?'
,,Doch! Ich hätte es ihr sagen müssen!", widersprach sie mir.
,,Du kannst nichts für den menschlichen Instinkt der Selbsterhaltung. In solchen Momenten denkt man eher daran, wie man zu aller erst seinen eigenen Arsch rettet. Das ist normal".
Sie sagte nichts mehr. Schluchzte nur weiterhin in meinen Armen. Ich kam zu dem Entschluss, dass es mich gerettet hat, nicht zu wissen, was der Rat zu bedeuten hatte. Schließlich wollte ich verlieren. Außerdem habe ich nicht damit gerechnet, dass der Verlierer sterben würde. Hätte ich mich an den Rat erinnert und ihn richtig interpretiert, so wie Emma es getan hat, wäre ich jetzt tot. Nicht Baley.
Wir blieben noch eine ganze Weile lang stumm zusammen auf dem Boden sitzen. Jeder in seinen eigenen Gedanken. Irgendwann legte Emma ihren Kopf auf meine Beine.
,,Wann denkst du kommen die uns holen?", fragte sie mit kraftloser und leicht kratziger Stimme.
,,Ich weiß es nicht", meinte ich nur.
,,Ich hab Angst", flüsterte sie nach ein paar Minuten und ich spürte ihre Tränen auf meinem Oberschenkel aufkommen. Sie weinte schon wieder. Diesmal zu meiner Erleichterung jedoch stumm.
,,Ich auch", gab ich leise zu.
Ich hätte Emma alles erzählen können. Wir hatten Zeit der Welt. Keiner kam. Ich schloss draus, dass man uns entweder in der Nacht oder am Morgen holen würde. Ich hätte ihr von Kayl, von Brandon, von Nolen und dem Experiment erzählen können. Womöglich hätte ich ihr etwas Hoffnung auf Rettung machen können, wenn ich ihr von Dexter erzählt hätte. Aber ich tat es nicht. Stattdessen ließ ich sie weiterhin im Dunkeln. Ich saß einfach nur da und brachte kein einziges Wort aus mir heraus. Irgendetwas hielt mich davon ab, ihr alles zu erzählen. Wie eine Blockade, welche stand und nicht brechen wollte.
Es wurde immer später, sodass uns die Dunkelheit immer mehr umhüllte. Emma war mittlerweile eingeschlafen. So langsam aber sicher schliefen meine Beine und mein Hintern von der unbequemen Position auf dem Boden ein.
,,Hey". Ich beugte meinen Kopf zu Emma hinunter und weckte sie, indem ich ihr leicht über die Wange strich. Sie öffnete augenblicklich ihre Augen und sah sich noch schlaftrunken im Zimmer um.
,,Müssen wir schon los?", fragte sie mich beunruhigt.
,,Nein, noch nicht. Du kannst noch etwas schlafen. Komm, leg dich ins Bett", sagte ich fürsorglich und stand vom Boden auf. Dann reichte ich ihr meine Hand und zog sie auch auf die Beine. Nachdem Emma es sich in mein Bett gemütlich gemacht hat, deckte ich sie zu und verschwand im Bad. Ich wollte allein sein. Mit dem Rücken drückte ich die Badezimmertür zu und blieb angelehnt an ihr stehen.
'Gewinnen wird nur eine. Nur eine von uns kommt in den zweiten Teil', rief ich mir in Gedanken auf.
Ich war mir fast sicher, dass es für die andere mit dem Tod enden würde. Eine Träne entfloh meinem Auge. Leidend hob ich meinen Kopf zur Decke und weinte los. Fest umklammerte ich meinen Mund mit den Händen, um Emma nicht zu wecken und rutschte langsam die Tür hinunter, bis ich auf den kalten Fliesen saß. In dem Moment wurde mir klar, dass ich gewinnen musste. Ich hatte den Peilsender an mir. Dexter konnte die anderen nur dann finden, wenn ich zu ihnen gelangen würde. Nur so konnte ich den Wahnsinn hier beenden. Genau das war auch der Grund, warum ich Emma zuvor nichts erzählt habe. Mir nicht einmal die Mühe machte ihr alles zu erklären, denn sie würde sowieso sterben. Der Gedanke zerriss mich innerlich. Dass jemand geopfert werden musste, nur um viele zu retten, hörte sich falsch an, aber gleichzeitig auch so richtig und vernünftig, dass ich in Zwiespalt geriet. Was genau ist den jetzt richtig? Was ist falsch? Gibt es überhaupt ein Falsch und ein Richtig oder ist es etwas was jeder selbst für sich entscheiden muss?
Es war grausam. Grausam, unfair und nicht gerechtfertigt, dass man mit uns so umging. Dass man uns dazu zwang, sich gegenseitig umzubringen. Wir wurden behandelt wie Tiere. Wie Labormäuse.
Ich trocknete meine Tränen und stand auf, um mein Gesicht zu waschen. Genug geweint. Ich musste mich zusammenreißen. Einen klaren Kopf bewahren.
Vorsichtig öffnete ich die Badezimmertür und schaute zu Emma rüber, um sicherzugehen, dass sie noch schlief. Dann begab ich mich ins Ankleidezimmer. Leise drückte ich die Tür hinter mir zu und fing an, durch die Regale zu stöbern. Ich wollte mir etwas bequemeres anziehen. Gegebenenfalls auch etwas worin ich mich gut bewegen konnte und nicht fror, falls was sein sollte. Eine einfache schwarze Jeans und ein genauso schwarzer Kragenpullover fiel mir dabei ins Auge. Dazu zog ich noch flache Sportschuhe in Weiß an. Jogginghosen fand ich keine, womit ich eigentlich auch gerechnet habe. Vor dem Spiegel machte ich mir noch einen hohen Pferdeschwanz und warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr.
22.43 Uhr
Ich wollte nicht schlafen. Ich wusste, ich könnte nicht, auch wenn ich müde gewesen wäre, weswegen ich mich entschied auf den Balkon zu gehen. Leise schlich ich durchs Zimmer und zog an der Balkontür. Sie öffnete sich nicht. Mit gerunzelter Stirn musterte ich den Griff, welcher sich nicht heben ließ. Ich versuchte es nochmals, doch es geschah nichts. Die Balkontür war verriegelt. Verwirrt blickte ich mich um.
'Haben die etwa Angst, wir würden fliehen?'
Ich versuchte daraufhin das Badezimmerfenster, durch welches Kayl immer geklettert ist zu öffnen. Ebenso erfolglos.
'Auch wenn wir aus dem Zimmer gekommen wären, hätten wir doch noch nicht einmal eine minimale Chance zu fliehen. Überall befinden sich Security-Männer', überlegte ich und sah durch das Fenster nach unten, wo ich schon als Bestätigung einen der Männer seine Runden drehen sah.
Es ergab keinen Sinn.
Als ich mich nach einigen Minuten grübeln von dem Fenster wieder abwandte, erblickte ich aus dem Augenwinkel eine Kamera. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, es gab nie eine im Badezimmer. Direkt gegenüber entdeckte ich eine Zweite. Ein leises Summen ertönte und ließ mich panisch das Badezimmer mit den Augen nach der Quelle von diesem Geräusch durchsuchen.
'Was ist das?'
Das Geräusch verstummte. Eine der Schubläden unter dem Waschbecken stand nun offen. Schluckend nährte ich mich ihr.
Die Schublade war vollkommen leer. Nur ein einziger Gegenstand lag drin. Ein Messer. Um genau zu sein, ein Fleischmesser. Langsam griff ich nach ihm und drehte ihn in meiner Hand, nicht wissend, was ich nun mit ihm machen sollte.
,,Mira ich wollte in der Kommode nach Kopfschmerztabletten suchen und fand stattdessen das hier. Wozu brauchst du ein...", sie stockte in der Bewegung und verstummte augenblicklich, als sie mich im Badezimmer mit einem Fleischmesser stehen sah.
Mein Blick schweifte zu dem gefundenen Gegenstand in ihrer Hand. Es war ein silbernes Buttermesser.
Noch bevor ich was sagen konnte, ertönte ein Gong und daraufhin die uns schon bekannte weibliche Roboterstimme.
,,In den für euch zugängigen Räumen wurden die verschiedensten Waffen für euch versteckt. Ihr könnt selbst entscheiden, welche davon ihr verwenden wollt. Das Ziel ist, dass bis Sonnenaufgang nur noch eine von euch am Leben ist. Die Zeit läuft ab jetzt".
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