02 Eye-Catcher
Olivers Blick wird von zwei Männern angezogen, die sich quer durch den Strom der zielstrebigen Passanten schieben und auf das Café zukommen. Der eine ist groß. Nicht so groß wie Oliver, aber niemand ist so groß wie Oliver. Dennoch ist er deutlich größer als sein Begleiter und es besteht kein Zweifel, dass er ebenfalls muskulös ist. Dazu strahlt er ein Selbstbewusstsein aus, das Oliver die Fußnägel hochrollen lässt. Er hat hellblondes, kurzes Haar in einer Undercut-Frisur. Sein Haar ist an den Seiten raspelkurz rasiert und steht auf dem Kopf länger und stachelig in alle Richtungen ab. Sein schmales Gesicht mit einer römischen Nase und einem leicht vorspringenden, spitzen Kinn, seine tiefliegenden, stahlblauen Augen unter geschwungenen Brauen, seine schmalen Lippen, sein edler Anzug, sein aufrechter Gang, alles an ihm schreit: Ich bin der Boss und du tust besser, was ich sage.
Oliver fokussiert sich mehr auf den Begleiter. Auch er ist nicht klein, vielleicht am unteren Ende einer Durchschnittsgröße für Männer, aber zierlicher, weicher und definitiv schwächer als sein Begleiter. Sucht man im Netz nach einem Bild über Täter und Opfer in einer Missbrauchsbeziehung, dann könnte es so aussehen, wie die beiden dort. Der sicher auch etwas jüngere Mann trägt eine peppige, glatte Kurzhaarfrisur mit einem Curtain Haircut, bei dem sich der deutlich längere Pony über dem Gesicht teilt und die mandelförmigen Augen eingerahmt, die unter zwei geraden, dünnen Augenbrauen liegen. Hohe Wangenknochen, eine Stupsnase und geschwungene Lippen, bei der die Unterlippe etwas praller ist als die obere, geben ihm ein unschuldiges, fast engelsgleiches Aussehen. Die hellbraunen Haare passen zu seiner Augenfarbe, bis er den Kopf Richtung Sonne dreht, welche seine Iriden grün und frech aufblitzen lässt.
Allerdings passen sein Auftreten und Verhalten nicht zu einem unglücklichen Opfer. Bei genauerem Hinsehen kann man unter der Jeans und dem T-Shirt sehen, dass er durchaus sportlich ist, drahtig. Er ordnet sich dem anderen bewusst unter, setzt sich erst, als der ihm den Platz zuweist, lässt ihn für sich bestellen und konzentriert sich auf alles, was Blondie sagt. Dabei wirkt er aber durchaus zufrieden und weder ängstlich noch unglücklich. Allerdings auch nicht wirklich glücklich.
Oliver nippt gedankenverloren an seinem fast schon kalten Kaffee und verzieht das Gesicht, bevor er die Tasse wegstellt. Es gibt Leute die haben alles und sind doch nicht glücklich weil sie immer nur auf das sehen, was sie nicht haben, anstatt sich klar zu machen, wie gut es ihnen geht. Ein Luxusproblem, das hier jedoch nicht zuzutreffen scheint und Blondie ist durchaus aufmerksam und hat nicht die Vibes eines Egomanen dem sein Partner egal ist. Trotzdem! Etwas fehlt, schießt es Oliver durch den Kopf. Seine Aufmerksamkeit wird jetzt von Blondie bemerkt, der ihn abschätzend ansieht, vermutlich um die Gefahr einzuschätzen, die von Oliver ausgeht. Der hebt eine Schulter leicht und langsam an, neigt seinen Kopf in diese Richtung und lächelt kurz, bevor er die Geste schnell wieder auflöst. Das bringt ihm ein verschmitztes Grinsen und ein angedeutetes Kopfnicken ein. Wunderbar, Blondie hat verstanden und akzeptiert das Friedensangebot.
Oliver winkt eine Kellnerin herbei, die schnell die Bestellung am Nachbartisch aufnimmt, bevor auch er einen neuen Kaffee und die Rechnung bestellen kann. Er hat heute noch einen Termin, aber zum Glück ist noch Zeit für einen frischen Kaffee. Wenn er ehrlich ist, will er das Paar auch noch nicht aus den Augen lassen.
Vom Nachbartisch treffen ihn nun die neugierigen Blicke von Hazeleye. Er zeigt keine Angst bei Olivers Anblick, sucht aber die Nähe seines Begleiters, was ein weiteres gutes Zeichen ist. Seine Augen funkeln voller Lebenslust und Humor. Olivers Lippen kräuseln sich zu einem unterdrückten Schmunzeln und er zwinkert dem Hübschen zu und siehe da, dieser flirtet ohne jede Angst zurück. Alles klar, die beiden brauchen seine Hilfe definitiv nicht. Wieso kann er dann seine Augen nicht von ihnen lassen? Immer wieder werden seine Blicke magisch von dem miteinander tuschelnden Paar angezogen, verzweifelt auf der Suche nach dem Puzzlestück, das fehlt und ohne das man das Bild nicht richtig erkennen kann.
Schließlich ist der Kaffee getrunken, die Rechnung bezahlt und der Zeitpunkt gekommen, sich aufzumachen - zum Gericht. Oliver beobachtet Leute nicht nur privat. Als studierter Sozialarbeiter ist er ganz bewusst ein Streetworker, wo er Leute beobachtet und seine Hilfe anbietet. Während sein Frühstück im Café eher der Freizeit dient, klappert er während seiner Arbeitszeit bekannte Plätze von Obdachlosen jeder Altersgruppe ab. Er geht als Berater in Kindergärten, Schulen und andere soziale Einrichtungen und hat auch sein eigenes Büro, in dem er Hilfesuchende berät und mit anderen Helfern zusammenbringt.
Vor einigen Jahren kam er außerdem durch seinen aktiven Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr mit der Polizei zusammen, die ihn seitdem gerne als Begleiter und Berater engagiert, wenn es darum geht, Opfer von meist häuslicher Gewalt aus ihrem missbräuchlichen Umfeld zu holen. Seine Fähigkeiten, brenzlige und schwierige Situationen allein durch sein Erscheinungsbild zu deeskalieren sowie das Vertrauen des Opfers in ihn, mit dem Peiniger fertig werden zu können, macht die Aufgabe für alle Beteiligten einfacher, außer natürlich für den Täter.
Diese Tätigkeit sorgt jedoch auch dafür, dass er hin und wieder über die Erlebnisse bei einem Einsatz und die Verhältnisse, die er dort vorgefunden hat, vor Gericht aussagen muss. Sei es in einem Scheidungsverfahren, bei der Entscheidung zur Unterbringung von Kindern oder auch bei anderen Verfahren über rechtswidriges Verhalten dieser Menschen. Seine Aussage vor Gericht hat stets einen hohen Stellenwert, denn auch hier ist er niemand, der irgendwen vorverurteilt. Oliver ist klar, dass nicht jeder Ausraster gleich ein Missbrauch ist und dass Täter oft auch nur eins benötigen, Hilfe. Seine Berichte sind daher immer sachdienlich und ohne eigenes Urteil. Oder fast immer, denn leider gibt es Personen - Menschen will er diese Leute nicht nennen - die nichts anderes als ein hartes Urteil verdient haben und Oliver redet auch nichts schön. Seine Art ist bei den Richtern bekannt und beliebt. Nicht selten ist es auch der Verteidiger, der nach seiner Meinung fragt, denn die ist oft unparteiischer als die von Freunden, Nachbarn oder Polizisten des Einsatzes.
Nach dem Termin geht Oliver in den Park. Hier gibt es vor allem eine Gruppe obdachloser Kinder, die er im Auge behält und denen er sich immer wieder in Erinnerung ruft. Wenn auch nur eins davon den Mut findet und seine Hilfe sucht, dann hat sich der Aufwand gelohnt, sie immer wieder daran zu erinnern, dass das Leben mehr zu bieten hat, als ein Leben auf der Straße. Selbst wenn Familie, Freunde und sogar das System sie schlecht behandelt haben. Die Parkbank, die er anschließend für zwei Stunden besetzt, steht nah am Wanderweg durch den Park und gibt ihm erneut die Möglichkeit, seinem Hobby nachzugehen. Überraschenderweise ertappt er sich dabei, wie seine Gedanken zu dem Paar von heute Morgen zurückwandern. Was ist es nur, was ihn so anzieht? Es ist ihm ein Bedürfnis anderen zu helfen, da gibt es für ihn keinen Zweifel, doch wieso schlägt sein besorgtes Gefühl bei den beiden Alarm? Nur weil sie nicht restlos glücklich wirkten?
Als er später ins Bett geht weiß er vor allem eins. Er wird die nächsten Tage Ausschau nach ihnen halten und sie weiter beobachten. Irgendwann wird er das Rätsel schon lösen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro