9.
Eine Hand, die sie nun ziemlich gut kannte, hielt ihr ein Haargummi unter die Nase: "Hier. Das ist doch deiner oder?"
Eigentlich hatte Hae vorgehabt für die anstehende Biologieklausur zu lernen, aber wenn Leon da war, konnte sie es gleich lassen. Sie nahm den Haargummi entgegen, nutzte gleich die Chance, um kurz seine Hand zu drücken. Sie spürte Shawns wachsamen Blick in ihrem Rücken und Leonards erwartungsvolles Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf: "Hallo"
So erwartungsvoll sah er nun auch wieder nicht aus. Er zog seine Augenbrauen hoch und lächelte sie breit an. Dieses verdammte Lächeln. Würde dieser Idiot nicht so grinsen, würde sie...würde sie was?
"Hallo", antwortete sie und klappte das Biobuch zu. Es war beinahe ein Wunder, dass sie die ersten Seiten im Buch verstanden hatte, wo sie letzter Zeit im Unterricht grundsätzlich nicht gelernt hatte oder es in ihrer Freizeit nachgeholt hatte. Einfach die Motivation für Biologie war weg - auch für alle anderen Fächer und vermutlich sollte sie sich vor so einer wichtigen Prüfung nicht ablenken lassen, aber es war Leonard.
Der süße Leonard, mit dem sie gestern auf Teufel-komm-raus getanzt hatte. Nicht zu vergessen den Film und dann noch diesed verdammte Lächeln. Je mehr sie darüber nachdachte, desto länger wurde die Liste. Wäre Leonard auch nicht so hartnäckig gewesen, den Kuss abzulehnen, hätten sie es hinter sich. Sie müssten jetzt nicht mehr auf nett tun und sonst jede Scheiße abziehen...
"Ich wollte dich etwas fragen" Leonard ließ sich ganz casual neben ihr auf den Stuhl nieder, als würde er nicht die brennenden Blicke der anderen spüren. Vielleicht war er auch so naiv zu glauben, sie würden ihn nicht anstarren. Süß. Hae packte ihr Biologiebuch ein und wartete geduldig darauf, dass er ihr seine Frage präsentierte.
Sie saßen nun so nah, sodass sich ihre Knie berührten und er streckte die langen Beine unter ihrem Stuhl aus: "Was machst du dieses Wochenende"
Hae hätte sich beinahe an ihrer Spucke verschluckt. Was?
"Lernen-nehme ich mal an"
"So wie du immer lernst?"
Er sah sie schief an und seine Augen wirkten in diesem Licht wie ein schmutziges blau, wie der Himmel kurz vor einem Gewitter. Ein schmutziges frühlingsgewitterblau.
"Nein" Also ja-doch...sie hätte vermutlich nicht viel gelernt. Wozu auch? Egal wie sehr sie sich diese Formeln in ihren Heftern und die Listen von Stilmitteln sah, schien ihr Gehirn, wie ein bockiges Pferd einfach kehrt zu machen. Lieber saß sie lange an ihrem Schreibtisch und malte sich ihre Zukunft aus, wie sie nie sein würde.
Sie kränkte es ein wenig, dass er gleich annahm sie würde nicht lernen. Leonard senkte kurz seinen Blick, anscheinend hatte er ihre Verstimmheit nicht aus ihrer Stimme gehört. Unsensible Jungen.
"Mein Bruder hat Geburtstag - wir könnten etwas anderes unternehmen, etwas weniger spontanes", fügte er mit einem Lächeln hinzu. Hae musterte ihn, sein pickeliges, jungenhaftes Gesicht, die langen, ungekämmten blondbraunen Haare und seine lockere Haltung. Gut, er war nicht besonders attraktiv auf dem ersten Blick, die Pickel und die zu breiten Kiefer, aber er war auch nicht vollkommen missgestaltet. Einfach ein normaler Jugendlicher in seiner endpubertären Phase.
"Du hast einen Bruder?", fragte sie stattdessen, als sie endlich ihren Blick von ihm abwand.
Er grinste süffisant: "Nee, ich behaupte das nur, um dich mit nach hause nehmen und dann deine Eltern um Geld erpressen zu können"
"Meine Mum", korrigierte sie ihn. Er sah sie kurz an, aus seinen blauen Augen, dann verschränkte er die Arme vor der Brust: "Tristan hat Geburtstag. Percy wird dafür endlich mal nach hause kommen. Und Rob wird Bella sicher anschleppen"
"Ach - also ist Percy dein älterer Bruder"
"Mh-mm" Leon sah wehmütig drein. Hae hatte sich immer Geschwister gewünscht. Am besten einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Als Einzelkind war es manchmal zu Hause sehr einsam, wenn die Mutter ständig auf Arbeit war. Irgendwann hatte sie sich endlich damit abgefunden, aber sie musste gestehen - sie war interessiert in Leons Verwandschaft. Ob es alles große, blonde Jungen mit langen Haaren waren?
"Ich komme. Lernen kann schließlich warten"
Leonard stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf und stützte sich auf dem Tisch ab, um sich mit einem Lächeln zu ihr zu beugen: "Freut mich. Freunde lernen sich mehr kennen, bevor sie es werden."
Was sollte das denn für eine Andeutung sein? Natürlich lernten sich Freunde mehr kennen, bevor sie sich als Freunde bezeichneten. Sie hatte ihn weder als normalen Freund als sonst etwas bezeichnet, also...also hatte er sie gefriendzoned. Das hatte ihr gefehlt. Gerade noch ausgrechnet das...er hielt sie für Freunde. Hae setzte ihr liebreizendstes Lächeln auf, obwohl ihr so war, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen.
"Natürlich", sagte sie und sah über der Kante ihres Buchs zu, wie Leonard mit wenigen Schritten zu Rob aufschloss, der mit einer unbehelligten Miene zu ihr sah. Also hatte er sie beobachtet. Auf Haes Gesicht stahl sich ein schmales Grinsen. Sollten die Jungs geplant haben, sie ordentlich reinzulegen, würden sie ein blaues Wunder erfahren. Und was für eines.
-
Bella quatschte sie seit Minuten an, was genau an dem Abend nach der Party passiert war. Wie hätte sie es nicht, sie war frisch verliebt, glücklich und sie hatte mit dem Jungen ihrer Träume -ihren Angaben nach - berauschenden Sex gehabt. Sollte sie sich freuen. Hae war ein wenig verdrossen drauf und dafür konnte ihre Freundin nun einmal nichts.
"...und dann haben wir uns geküsst...Rob ist einfach nur..." Bellas Augen leuchteten, wie LEDs und ihr Gesicht war von einem seligen Glanz der Zufriedenheit überzogen.
"Gut im Bett", ergänzte Hae um den Monolog ihrer Freundin zu unterbrechen,"wenigstens etwas"
"Hae!", empörte sie sich und stemmte ihre Hände in die Hüfte, "du hast gesagt, du hörst auf über Rob diese Kommentare..."
"Es tut mir ja Leid..." aber heute war Tristans Geburtstag. Sie wusste nicht was Jungs mit 16 toll fanden. Also hatte sie diesen Assistenten im Warenhaus gefragt und hatte ihm einen Basketball gekauft. Ganz unkreativ, aber laut Leon war sein kleiner Bruder ein großer Fan von diesem Spiel - genauso wie er selbst. Eigentlich hätte sie ja eingeschnappt sein sollen, dass Leon ihr zu traute, dass sie nicht lernte. Er hatte ja recht, sie lernte nicht, aber dennoch breitete sich immer ein bitterer Geschmack in ihrem Mund aus, wenn die zurückdachte.
"Bist du etwa aufgeregt?", wollte Bella wissen und ihr Gesicht schob sich urplötzlich in Haes Blickfeld. Sie sah ihre Freundin mit dem hast-du-sie-noch-alle-Blick an und Bella hob ihre Handflächen in die Höhe: "Tut mir Leid, wenn ich so nachbohre, aber dieser Lennard..."
"Leonard", korrigierte Hae ihre Freundin grummelnd und Bella hob die Augenbrauen: "Leonard, sorry, mein Gefühl ist, dass du ihn ziemlich gern hast"
"Ziemlich gern?", erwiderte Hae und musterte sie schief. Der ungläubige Ton in ihrer Stimme bemerkte Bella zwar, aber das Gesicht ihrer Freundin war von einem seligen Lächeln geziert: "Ja"
"Nee" Hae hob ihre Arme und dehnte ihre verspannten Schultern, um sich wieder auf dem Boden nierzulassen und eines von Bellas Büchern aufzunehmen.
Es war das Einzige in den vollgestopften Regalen, wo es nicht um dramatische (genau genommen melodramatische) Liebesgeschichten ging.
Junge trifft Mädchen. Oh nein! Er hat eine schreckliche Kindheit. Oder einen schrecklichen Vater. Oder er hat einfach einen Dachschaden und ist geistig zurückgeblieben und checkt einfach nicht, dass Frauen kein Gut sind. Kein verdammtes Ding, dass man besaß.
Aber das Mädchen ist natürlich kernbehindert und fragt gar nicht, widerspricht nicht und ist halt...einfach nur komisch. Oberflächlich. Naiv. Oder sogar dumm. Aber in diesem Buch ging es sogar. Es ging. Es war eine edgy-dark-romance Geschichte über Werwölfe. Klischees, die zum größten Teil sogar widerlegt worden.
Widerlegte Werwolfklischees! Das war so ein krasser Widerspruch zu all den langweiligen, 0815-Protagonisten. Und eine gute Weise um sich ordentlich von dem bevorstehenden Chaos und der ganzen Peinlichkeit zu retten. Hae seufzte und schlug das Buch zu - in diesem Zustand würde sie kein Wort mehr lesen können.
Naja, genau genommen las sie eigentlich sehr ungern, aber Bella machte es glücklich ihr ein Buch ausborgen zu können und ihre Mutter sah es auch gerne. Es war nicht schwer gewesen sie davon zu überzeugen, dass es auf eine Geburtstagsparty von einem zwei Jahre jüngeren Bruder eines Mitschülers ging. Vermutlich hatte sie nicht einmal ordentlich zugehört, als Hae ihr es eilige erklärt hatte, Mums neuer Freund war zuhause gewesen. Sie waren beide über diese Entscheidung glücklich. Hae biss sich auf die Unterlippe und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Bella machte sich noch ein wenig Wimpertusche auf ihre dünnen, langen, dunkelbraunen Wimpern, während sie Hae einen Blick durch den Spiegel zu warf.
"Also. Leonard wird schon nicht davon laufen, nicht wenn er uns so sieht"
"Du redest von Rob", kommentierte Hae nur und sah zu ihrer Freundin, die mit einem halben Umdrehung ihr Kleid betrachtete, das ihr beneidend gut stand. Seit sie mit Rob zusammen war, war sie nicht nur weniger ihrer Stimmung geliefert, sondern auch selbstbewusst genug, um Kleider anzuziehen, früher hatte sie immer gemeint-"nee...und ach Gott...all die anderen Klassenkameraden...". Wenigstens etwas, wofür dieser Junge nützte.
Okay, Hae musste einräumen, sie konnte Rob gut leiden. Er war selbstbewusst, aber nicht arrogant. Selbstständig, vielleicht manchmal ein jammender Lappen von schlechtgelaunten Miesmachern, aber auf süßer Weise so naiv und unschuldig. Natürlich war er nicht ganz so unschuldig, wie er es tat, aber unschuldig genug, um von Mädchen als süßer kleiner Bruder abgetan zu werden. Ja, er stellte sich gerne als taff und um zehn Zentimeter größer da, aber eigentlich ein ganz Netter.
Und er war ein guter Freund von Leon. Also war eine gute Beziehung zu dem Freund ihrer Freundin nicht schlecht. Es würde sich irgendwann hoffentlich auszahlen.
"Aber Leonard schert dich schließlich etwas. Sonst würdest du nicht zugesagt haben"
"Ich gehe wegen Rob und dir hin"
"Lügnerin"
"Bella!", rief Hae empört aus.
Die Rothaarige musterte sie mit gleichgültiger Miene: "Du hast mir erzählt, dass er deinen Kuss abgelehnt hat"
"Na und?"
"Und du bist noch immer so hartnäckig und gehst auf eine Geburtstagsparty, auf die du nicht einmal gehen musst"
"Das nennt man Freundschaft"
Bella bedrohte sie mit ihrer Bürste: "Freundschaft? Und darum bist du den ganzen Tag über schon so hibbelig und freust dich darauf?"
"Ich freue mich nicht auf...", empörte sich Hae. So weit war es schon gekommen. Als ob, sie, Hae Warley, sich in einen Jungen verliebt hätte oder ihm anderweitig zugeneigt wäre.
Es klingelte heftig an der Tür der Woodrows und Bella stürmte die Treppen runter, um ihren Freund mit einer Umarmung zu begrüßen.
Sie begegnete Robs Blick und Hae zupfte an ihrem Pulloverärmel. Mal sehen, wie sehr es in einer Blamage enden wird.
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