19. Kapitel - Ich mein' das als Metapher
Ich spiele mich selbst in einem fremden Stück
Ich ziele auf meinen Kopf und zieh dann doch zurück
Ich spiele, als wüsste ich noch was zu sagen
und könnte mich selbst auch dann noch ertragen
Wenn ich glaube zu wissen ohne sicher zu sein
Wenn ich glaube zu müssen, dabei habe ich kein
Bisschen Ahnung von dem, was um mich rum passiert
Ich tu nur so, weiß ja, dass es ohnehin funktioniert
Ich spiele mich selbst und du sagst, ich bin darin gut
Dabei hab ich gar keine Ahnung, was ich hier eigentlich tu
Samstag
06. Oktober
19:20 Uhr
Ich sehe Mo den ganzen Freitagnachmittag nicht mehr. Gegen achtzehn Uhr höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen und als ich ein paar Sekunde später aus meinem Zimmer luge, ist das von Mo leer. Auch später kommt er nicht zurück, nur eine kurze Textnachricht zeugt davon, dass es ihm gut geht. Penn bei Dorie, erreicht mich um kurz nach null Uhr und ich bin mir sicher, dass ich vor ein paar Tagen statt einer Antwort nur einen sehr anzüglich dreinblickenden Emoji zurück geschickt hätte. Es fühlt sich komisch an, dass ich vor ein paar Tagen noch der felsenfesten Überzeugung war, dass Mo auf Männer steht und Dorie nicht nur ein Freund ist. Irgendwie habe ich mich da wohl sehr geirrt.
Ich versuche mich den Abend lang und auch den Samstagvormittag mit Uni-Zeug abzulenken und widme mich dem Stoff, von dem Nicolas mich gestern noch so erfolgreich abgehalten hat, doch meine Gedanken driften immer wieder ab. Zu Mo und seiner erstarrten Miene, als er oben bei Nicolas im Türrahmen stand, zu Mo und seinem enttäuschten Blick, zu Mo und wie er von mir weg gerutscht ist, als ich mich neben ihm gesetzt habe, zu Mo und wie er mich gebeten hat, ihn alleine zu lassen, alleine mit seinen Gedanken. Und zu Nicolas wandern meine Gedanken, jedes Mal, wenn ich versuche mich zu konzentrieren. Zu Nicolas und der Wut in seinem Blick, weil ich ihm keinen Glauben geschenkt habe, zu Nicolas und seinen harten Worten, zu Nicolas, wie sein Blick weicher wurde, zu Nicolas wie er seinen Satz nicht beendet hat, obwohl ich das Ende gerne gehört hätte. Und ganz zufällig habe ich ein ganz kleines Bisschen Ahnung davon, wie es sich verdammt nochmals anfühlt in dich...
Ich lächle vor mich hin und wieder gleitet mein Blick von den Buchstaben, Wörtern und Sätzen, die sich vor mir auf dünnen Schulbuchseiten reihen, ab, so als fehle ihm der Halt. Und mir auch.
Und so lande ich irgendwann am frühen Abend unten im Haus, bei Ella im Kiosk, auf deren Pausbacken sich ein breites Lächeln bildet, als ich zur Hintertür hereinkomme. Ich seufze: Wenigstens eine, die sich freut mich zu sehen. Nicolas hat mir nicht mehr geschrieben, genauso wenig wie Mo und ich fühle mich bei Letzterem nicht in der Position, auf ihn zuzugehen und womöglich eine Grenze zu überschreiten und auf Nicolas bin ich noch viel zu wütend, als dass ich nachgeben und die erste sein würde, die textet.
„Ach, dat ist ja schön, dass du mal wieder vorbei siehst." Ella kommt um den Ladentisch herum auf mich zu und breitet ihre Arme aus, die wie am Tag meiner Ankunft in einem braunen Pauli-Shirt stecken. Es ist ruhig im Kiosk, bis auf das leise Surren des Getränkeschranks neben dem Eingang, nur ein einziger Kunde – ein untersetzter, kleiner Mann mit Schnauzer – türmt Monster-Energy Dosen in der linken Hand aufeinander. „Samstachs um die Zeit komm' ja nu nur noch seltsame Gestalten zu mir in den Kiosk, nich' wahr?", lacht sie und der Kopf des Mannes mit des Getränkedosen zuckt, doch das scheint Ella gar nicht zu stören. Sie schließt mich in die Arme und in dem Moment, in dem sich ihre weichen, großen Hände um meine Schultern legen, fällt alles von mir ab.
Ich fange bitterlich an zu weinen und Ella lässt von mir ab. „Na, was ist denn dir für eine Laus über die Leber gelaufen?", fragt sie und echte Sorge liegt in ihrem Gesicht, während dicke Tränen über meine Wangen rinnen. „Hat's was mit dem Jung' zu tun?" Sie nimmt mein Kinn in die Hand und dreht es zu beiden Seiten, sieht mich forschend an. „Und ich hab Mo ja nu doch immer für so nen anständigen Kerl gehalten!", beschwert sie sich, verzieht äußerst unzufrieden den Mund zu einer Schnute und eilig schüttle ich den Kopf. „Nein", beeile ich mich zu sagen, aber meine Stimme zittert. „Nein, nein, Mo hat gar nichts falsch gemacht." Ich blicke zu Boden und lasse mich von einem Schluchzer schütteln, der durch meinen Körper zuckt und meine Schultern vibrieren lässt. Dass der untersetzte Mann am Kühlregal komisch guckt, ist mir herzlich egal. „Sondern ich", gestehe ich leise und Ellas Gesichtsausdruck wird wieder weicher. „Nu setz dich erstmal, Mädchen." Sie nimmt mich bei den Schultern und schiebt mich in Richtung eines kleinen Hockers, der auf ihrer Seite der Theke steht. „Und dann erzähl der alten Ella was du auf dem Herzen hast."
Vorsichtig setze ich mich und nehme dankbar nickend eine Packung Taschentücher entgegen, die sie mir fürsorglich hinhält. „Danke", schniefe ich und sie nickt. Ich schnäuze mich kurz, doch die Tränen lassen nicht nach, kullern weiter und weiter meine Wangen hinab. „Ich...", setze ich dann, doch dann zögere ich. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll", gestehe ich und Ella besieht mich mit einem mütterlichen Blick. „Am Anfang, Herzchen, wie wärs damit?" Wieder nicke ich schniefend. „Ich... ich hab ganz großen Mist gebaut. Dabei ist Mo doch mein bester Freund! Mein allerbester seit immer, weißt du? Ich wusste das und ich dachte, alle wüssten das, aber irgendwie wussten alle, was ich nicht wusste und jetzt ist Nicolas sauer und Mo erst recht und ich hab Mist gebaut", versuche ich zu erklären, doch ich weiß, wie wirr ich klinge. Ellas Blick aber bleibt gutmütig. „Alles zu seiner Zeit", meint sie geduldig und wendet sich dann forsch an den Kunden, der noch immer Energy-Dosen türmt. „Sach mal, haste vor heute noch was zu kaufen? Hamburger Dom zum Dosenstapeln ist erst wieder im Winter", lässt sie ihn wissen und der Herr läuft rot an, schlurft zur Theke und bezahlt eilig den Turm an Dosen in seinen Armen. „So, Mädchen, jetzt aber mal ganz von vorn", fordert sie mich auf.
Und dann erzähle ich. Ganz von vorn. Von meinem ersten Abend in der neuen Wohnung, die gleich mit Mos Geburtstag und einer folgenschweren Nacht begann. „Ich hatte das nicht geplant, ich weiß auch nicht, wie das passiert ist, auf einmal waren Nicolas und ich bei ihm und nicht mehr bei den anderen und-", stammle ich, um zu verhindern, dass Ella denkt, ich hätte es gleich in meine ersten Nacht auf einen One Night Stand mit dem Nächstbesten angelegt, doch die alte Kioskbesitzerin, die Kaugummipackungen im kleinen Regal auf dem Tresen auffüllt, während ich erzähle, dreht sich um und unterbricht mich. „Kein Grund zur Scham, Fräulein, wir waren ja nu alle mal jung, nich? Sogar die alte Ella!" Sie lacht herzlich und streicht sich dabei liebevoll über den breiten Bauch. „Aber nur, sach doch mal, wo ist denn nu das Problem?"
Und ich erzähle weiter. Davon, wie das mit Nicolas irgendwie doch nicht nur eine Nacht ging und wie ich den passenden Moment Mo davon zu erzählen, untätig habe verstreichen lassen. Wie Mo mich zwei Mal explizit danach gefragt und ich beide Male verneint habe. Wie Nicolas Vermutung, Mo könnte mehr von mir wollen als reine Freundschaft erst zu einem Streitpunkt zwischen ersterem und mir wurde und sich schließlich als die Wahrheit herausstellte. Als ich bei der Stelle ankomme, wo Mo uns in einer ziemlich offensichtlichen Lage auf der Kücheninsel erwischt, schlägt Ella die Hände über dem Kopf zusammen. „Himmel, Arsch und Zwirn, na dat ist ja vielleicht was!"
Ein älterer Herr mit Glatze betritt den Kiosk und steuert direkt auf den Tresen zu, doch das scheint Ella nicht davon abzuhalten, weiter zu fluchen. „Ach du gute Güte, Herzchen, ja nu kann ich verstehen, dass du aussiehst, wie drei Tage Regenwetter!", lässt sie mich wissen. „Aber ich sach' dir jetzt mal was. Nimm's als gut gemeinten Rat von der alten Ella." Sie dreht sich zu mir um und würdigt den Glatzentyp, der eine Packung Kaugummi und eine Ausgabe des Abendblatts auf den Tresen gelegt hat und darauf wartet, abkassiert zu werden, keines Blickes. „Die beiden Jung' in allen Ehren, dat kannste mir glauben, aber die Männers, die haben ja nu einfach keine Ahnung von uns Frauen, nich'?" Sie nickt, wie um sich selbst zubestätigen. „Zu nichts taugen sie. Und nimm's von jemandem der glücklicherweise nie verheiratet war: Das Leben geht auch ohne. Überwertet sind sie, die Männers."
Jetzt dreht sie sich doch zu dem Kunden um, der einen Zehner aus seiner Hosentasche gekramt und neben die Kaugummipackung gelegt hat. „Überwertet, sach' ich immer. Männer, allesamt. Ja, auch Sie!", lässt sie den Kunden wissen, der so verwirrt über die plötzliche Einbindung in unser Gespräch zu sein scheint, dass er nur höflich nickt, nach Kaugummipackung und Zeitung greift und dann hastig durch die Tür verschwindet.
„He, Sie bekommen noch Wechselgeld, he, Sie!", ruft Ella ihm noch hinterher, doch der Glatzentyp ist bereits auf der gegenüberliegenden Straßenseite angelangt. Schuldbewusst zuckt Ella mit den Schultern und grinst dann. „Na, der hat sich aber verjacht", gluckst sie, dann wird sie wieder ernst. „Also mein Herzchen, lass dich nicht ärgern, der Mo, der kriegt sich schon wieder ein", verspricht sie mir und ich nicke, dankbar für ihre Worte. Ich schnäuze noch einmal in mein Taschentuch, aber die Tränen sind bereits versiegt. „Und was den anderen Jung' angeht..." Sie beginnt zu lächeln. „Dem bin ich erst neulich auf'm Hausflur gesehen, gestern war's am Mittag so rum. Blutende Hände so wie immer, aber gegrinst hat der, vor sich hin und über beide Ohren, dat sach' ich dir aber." Sie blickt mich eindrücklich an und sieht nichtmal hin während sie eine Horde junger Männer ihre Bierkästen bezahlen lässt. „Sowas kommt nicht von ungefähr, Mädchen, nicht bei Jungens wie Nicolas", verspricht sie mir und auf einmal wird mir ein bisschen leichter ums Herz. Gegrinst? Bis über beide Ohren? Vor sich hin? Ich beschließe, das als gutes Zeichen zu werten.
„Ach, nu' sie man einer an. Wenn man vom Teufel spricht!" Ella nickt in Richtung Tür, wo die jungen Männer im Begriff sind, den Kiosk zu verlassen, von einem sehr rüden Nicolas aber zur Seite gedrängt werden. „Hey Mann, pass' doch auf!", ruft einer, doch Nicolas scheint ihn gar nicht zu bemerken. Mit grimmigem Gesicht und geradewegs steuert er durch den Laden auf die Hintertür zu. Mich scheint er gar nicht zu bemerken.
„Hi", versuche ich es, unterstützt durch das leichte Gefühl, dass sich gerade in meiner Brust ausgebreitet hat. „Nicolas, schön, dass du nu' auch mal wieder vorbeischaust", begrüßt Ella ihn und kurz sieht Nicolas auf, nickt Ella zu und dann fällt sein Blick doch auf mich. Seine Miene ist versteinert, fast ein bisschen trotzig. Die Leichtigkeit, die ich eben noch gefühlt habe, weicht augenblicklich. „Nicolas", nicke ich ihm zu und versuche einen mindestens ebenso grimmigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, wie er. „Leah." Er zieht die Brauen hoch zu etwas, das wohl ein höflicher Gesichtsausdruck sein soll.
Neben mir schüttelt Ella den Kopf. „Kinners, nu' kriegt euch aber mal wieder ein. Ihr benehmt euch ja wie ein altes Ehepaar!" Nicolas schnaubt. „Ehepaar, ja klar. Eheleute halten meistens zueinander", meint er zu Ella, doch ich weiß, dass seine Worte an mich gerichtet sind. Vorwurfsvoll verschränke ich die Arme. „Was soll das denn jetzt, Nicolas? Ich halte doch zu dir!" Er lacht. Es ist in hässliches, bitteres Lachen. „Natürlich. Deswegen hast du Mo auch verheimlicht, dass du dich von mir ficken lässt."
Ich springe auf. „Nicolas, das ist nicht fair und das weißt du!" Er hebt die Arme, als müsse er sich verteidigen. „Fair? Du sprichst von Fairness, Leah? Dein bester Freund wusste nichtmal, dass du dich regelmäßig von mir durchnehmen lässt. Warum, he? Warum wusste er das nicht?" Er kommt näher, zurück an den Tresen ran, auf dessen anderer Seite ich mit noch immer verschränkten Armen stehe. „Nu' macht aber mal halblang, ihr zwei..." versucht Ella zu unterbrechen, doch da spricht er bereits weiter: „Weil ich dir unangenehm bin? Weil ich dein Image kaputt mache? Weil ich mehr aus dir raushole, als die kleine langweilige Leah für die dich hier alle halten?" Er lehnt sich über die Ablage und seine Stimme wird mit jedem Wort lauter, wütender und ich spüre, wie ich langsam, aber sicher ebenfalls sauer werde. „Das war nicht der Grund, weshalb ich ihm nix erzählt hab!" Ich ringe die Hände über dem Tresen, wir stehen einander direkt gegenüber. „Und das weißt du genau!"
Nicolas Gesichtszüge verändern sich und ein Grinsen erscheint auf seinen Lippen. „Ich hatte recht", flüstert er in mein Gesicht. „Mo will wirklich was von dir." Ich sinke zurück auf meine Fersen, auf einmal ist mir wieder unwohl. „Komm sag es, Leah, nur einmal. Sag, dass ich recht hatte", provoziert er mich, doch das Amüsement in seinen Augen ist echt. Ich knete meine Finger. „Ja, hattest du", gebe ich zu und Nicolas grinst, langt nach vorne und um mein Kinn und drückt mir einen Kuss auf den Mund. „Ich mag's, wenn du tust, was ich sage", wispert er gegen meine Lippen, gerade so laut, dass ich es hören kann.
oOo
Es ist ein lautes Atmen, das mich weckt. Zunächst weiß ich nicht, wo ich bin, doch die schwarzen Laken von Nicolas großem Bett kenne ich mittlerweile doch gut genug, um nur ein paar Sekunden zu brauchen, bis ich wieder weiß, wie ich hierher gekommen bin.
Nach dem kurzen, auf meine Lippen gedrückten Kuss ist Nicolas im Treppenhaus verschwunden, mich sehr perplex und Ella kopfschüttelnd zurückgelassen.
Ich habe mich herzlich bei ihr für ihr offenes Ohr bedankt, was Ella bloß abgewunken hat und ehrlicherweise glaube ich, dass sie eigentlich ganz froh über eine Ablenkung gewesen ist. Ich habe mich hochbegeben und zurück in die Wohnung, wo von Mo noch immer keine Spur war und eine Weile hin und her überlegt, was ich mit dem angebrochenen Abend noch anfangen soll. Und gerade als ich mich für ein paar gute Stunden Selfcare entschieden und die beigefarbene Heilerde-Maske aufgetragen hatte, vibrierte mein Handy im Eintreten einer Nachricht. Film?, lautete sie und sie kam – natürlich – von Nicolas.
Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Maske wieder abzuwaschen, sondern stattdessen eine zweite eingepackt, die im Laufe des Abends mit einiger Überredungskunst wirklich in Nicolas Gesicht landete, ein Anblick, den ich fotografisch festhalten musste. Ich hätte viel dafür gegeben, dieses Foto ohne einen zweiten Gedanken an Mo zu senden, aber das kam mir unangebracht vor.
Wir haben Harry Potter gesehen, den fünften, weil sich herausstellte, dass Nicolas die Reihe nur bis zum vierten kannte, doch vom Ende haben wir aus verschiedenen Gründen nicht mehr viel mitbekommen. Zum einen, weil Nicolas der Meinung war, dass Sirius Tod „gar nicht so schlimm und Sirius selbst voll overrated ist" und zum anderen, weil ich daraufhin ein bisschen weinen musste, weil Sirius nach meiner Draco-Phase in der Achten mein eigentliches Highlight der Reihe ist. Zum anderen blieben wir vom Ende verschont, weil mir die Maske, die nach den Stunden schon ausgehärtet war, durch meine Tränen wieder flüssig wurde, über meine Wangen lief und als ich mein Shirt auszog, damit es keine Flecken bekam, war Nicolas der Meinung, dass wir am besten alles auszieht sollten, um Flecken ja zu vermeiden. Und dass man ja ins Schlafzimmer umziehen könnte, nur der Bequemlichkeit halber.
Jetzt aber bin ich in genau diesem Schlafzimmer allein. Die Betthälfte neben mir ist leer, das Kissen zerknautscht und das Atmen, das heftige Atmen, das mich geweckt hat, anhaltend und immer unkontrollierter. Ich bin sofort hellwach. „Nicolas?", murmle ich, meine Stimme rau vom Schlaf. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. 05:18, zeigt es, doch ich denke gar nicht daran wieder schlafen zu gehen. „Nicolas?" Diesmal ist meine Stimme lauter. Ich tapse barfuß und nur in Slip in den großen Raum des Lofts. Die Balkontür ist halb aufgeschoben, kühle, nein, kalte Nachtluft weht herein und da unten, auf dem Boden vor der Balustrade kauert eine Gestalt, schwer atmend, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ich erkenne Nicolas beinahe nicht wieder, so gekrümmt, so klein, kniet er da. Ich stolpere zu ihm, hinaus in die kalte Oktoberluft, die sich augenblicklich in jede Faser meines Körpers frisst. „Nicolas, hey, was...", beginne ich, doch kaum bin ich bei ihm angekommen, weiß ich schon, was los ist.
Die Panik, die in seinen Zügen liegt, kenne ich nur allzu gut und das schwere, unkontrollierte Heben und Senken der Brust, das Zucken des Kopfes bin ich von mir selbst gewohnt.
Nicolas ballt die Hände zu Fäusten, doch ich sehe, wie seine Hände zittern. „Ich... ich wollte nur", beginnt er mit zittriger Stimme, doch sie bricht, bevor er den Satz vollenden kann. „Ich brauchte nur frische Luft, nur..." Er stößt Luft aus, saugt noch mehr wieder ein. Sein Atem pfeift. „...nur frische Luft." Ich knie mich zu ihm und bin ganz vorsichtig, als ich ihm eine Hand auf die Brust lege, ja nicht zu viel Berührung, ich kenne das von mir selbst, doch Nicolas fällt in meine Arme, mit dem Kopf voran und zuckt an meinen Oberkörper. Tränen rinnen über seine Wangen und er presst sich an mich, zieht die Knie an seine Brust, während er sein Ohr an meine legt. Seine Hände zittern und ich spüre, wie sein Atem schneller wird, immer schneller.
„Es ist okay, Nicolas", flüstere ich ihm zu. „Alles ist okay. Ich bin hier." Ich lege die Arme um seinen pulsierenden, vibrierenden Körper, während er sich fest an mich drückt. Wieder stößt er lautstark Luft ein, atmet pfeifend wieder aus. Und seine Stimme ist ganz sachte, beinahe wie zerbrechlich, als er murmelt: „Du bist hier. Du bist hier. Du bist hier." Immer mehr Tränen bahnen sich den Weg über sein Gesicht und tropfen auf meine nackten Brüste, auf die er sich immer sein Ohr gelegt hat. „Dein Herz schlägt, dein Herz schlägt, es... es... es schlägt immer noch." Ein Schluchzer überrollt ihn und Schweiß rinnt auf seiner Stirn. Ich halte ihn fester. „Mein Herz schlägt, Nicolas", versuche ich ihn in seinen Worten zu bekräftigen. „Mein Herz schlägt immer noch." Langsam aber stetig wird das Heben und Senken seiner Brust weniger und gleichmäßiger. Nicolas schnieft. „Dein Herz schlägt", murmelt er, völlig außer Atem und sinkt tief in meine Arme, als die Panikattacke abebbt. Kurz verweilen wir so, dann erhebt er sich und ich helfe seinem noch immer zitternden Körper auf einen der Stühle, die hier draußen auf der Balustrade stehen.
Ich setze Teewasser auf und als ich mit zwei vollen Tassen in denen zwei Kamillenteebeutel hängen zurück komme, steht er am Geländer. Seine Tränen sind getrocknet, seine Haltung aufrecht – keine Spur der Panik, die eben noch so unverkennbar in seinen Zügen lag. Jetzt ist sein Blick in die Ferne gerichtet, auf die Lichter der Stadt und die, die das dunkle Wasser der Alster säumen. Wieder einmal bin ich überrascht, wie lebendig Hamburg auch um diese Zeit schon oder noch ist und ich frage mich, ob Nicolas diese Überraschung nach einem Jahr auch noch spürt. Ob er auch an die Lichter der Stadt denkt, wenn er hier oben steht und in die Ferne schaut, oder ob seine Gedanken gerade vielleicht doch ganz woanders sind.
Es ist ein seltsames Bild wie er da steht. Ohne Hose und untenrum nackt, dann das fast etwas enge Werbeshirt irgendeines Marathons, das seien Schultern umspannt, die zerwuschelten Haare, der ernste Blick.
„Du solltest mich nicht so anschauen." Ich zucke zusammen und verschütte beinahe den Tee, als ich mit einem Mal seine Stimme vernehme, ich habe nicht einmal bemerkt, dass er bereits Notiz von mir genommen hat. Ich erröte kurz, dann schließe ich zu ihm auf, stelle die beiden Tassen auf dem breiten Geländer ab und sehe ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
„Ach ja? Wie schau ich dich denn an?" Sein Blick ist noch immer auf einen Punkt irgendwo unter uns gerichtet, doch seine Mimik denunziert ihn, als sie sich erhärtet, fester wird. Sein Kiefermuskel spannt sich an. „Mitleidig. Als würde ich dir leid tun." Ich lege die Stirn in Falten und greife nach meiner Tasse, weil ich nicht weiß, was ich mit den Händen machen soll. „Das tust du auch. Panikattacken sind... nicht angenehm?" Andere Worte fallen mir nicht ein. Generell habe ich wenig Beschreibung dafür, was Panikattacken sind oder wie sie sich anfühlen. Ich weiß nur, was sie nicht sind. Und angenehm gehört definitiv dazu.
Nicolas schnaubt, doch es klingt mehr nach einem Lachen. Er sieht mich von der Seite an und legt den Kopf schief. „Nein, das sind sie wohl nicht." Kurz schweigt er. Er scheint zu zögern, nach den richtigen Worten zu suchen. Ich möchte an meiner Tasse nippen, um die seltsame Stille zu überblicken, aber allein die Keramik verbrennt mir schon die Finger, also lasse ich es. Erwartungsvoll sehe ich ihn an.
„Aber dein Mitleid will ich trotzdem nicht", fügt er dann kurz angebunden hinzu. „Wer bekommt schon gerne Mitleid?" Er greift nach der Tasse, die ich vor ihm abgestellt habe und setzt sie an seine Lippen. „Nicht", versuche ich es und hebe die Hand nach der Tasse, um ihn vom Trinken abzuhalten. „Der ist noch viel zu heiß." Doch Nicolas zwinkert nur. „Keine Sorge, ich bin Hitze gewöhnt", meint er und nimmt einen Schluck des Getränks - einen Schluck, den er augenblicklich zurück in die Tasse spuckt, kaum hat er seine Zunge berührt. Er zuckt zusammen und stellt die Tasse schnell wieder auf der Balustrade ab. „Verdammt!" Er öffnet seinen Mund in die kühle Nachtluft. „Zunge verbrannt." Ich besehe ihn tadelnd und verdrehe die Augen. „Sag ich doch."
Seine Finger umschließen die Tasse. „Wer weiß, vielleicht bist du ja resilienter als ich?" Verwirrt ziehe ich die Brauen zusammen. „Wie meinst du...?" Doch da hat er bereits seinen Zeigefinger in seinem Tee versenkt und die nasse Fingerkuppe an meine Lippen gelehnt. Der Kamillentee perlt über seine Haut und wie unwillentlich legt sich meine Oberlippe um seine Kuppe und ich sauge an seinem Finger, heiße ihn mit meiner Zunge in meinem Mund willkommen. Ich sehe Nicolas an und in seinem Blick, dass das etwas mit ihm macht und ich weiß, dass wir uns beide vorstellen, es handele sich gerade nicht um seinen Zeigefinger, den ich mit meinen Lippen liebkose, ein Stück freilasse und dann wieder leckend in mich aufnehme. „Jetzt trinkbar?", fragt er mich und die Lust färbt seine Stimme dunkler. Ich sehe zu ihm hoch, devot und willentlich und nicke. Sein rechter Mundwinkel hebt sich zu einem zufriedenen Grinsen. „Gut."
Dann schlingt er die Arme um mich und lässt sein Gesicht über meinem schweben, nur Millimeter über meinem. Wir verharren so, kurz, sehen einander in die Augen.
„Danke, Leah", wispert er und sein Blick ist ernst.
„Wofür?" Ich will ihn küssen, aber halte mich zurück.
„Für den Kamillentee natürlich", erwidert Nicolas und küsst mich endlich, während wir beide wissen, dass Kamillentee in der letzten Zeit eine Metapher für so vieles geworden ist.
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