Körperwahn
"Na, warst du wieder auf dem Crosstrainer?", fing mich meine Mutter auf dem Flur ab, als ich gerade komplett verschwitzt die Treppe herunterstolperte. Ich hatte es mal wieder etwas zu weit getrieben und meine Beine drohten wie so oft unter mir nachzugeben. Ich stützte mich unauffällig am Geländer ab, um etwas Halt zu gewinnen und wandte mich meiner Mutter zu. "Ja, ich hab heute 650 Kalorien in einer Stunde verbrannt!", strahlte ich. Sie zog die Augenbrauen hoch. "Nur? Gestern waren es doch 700, ich dachte du wolltest dich jetzt immer verbessern?" Beschämt schaute ich zu Boden, doch glühender Zorn schoss durch meine Adern. "Ich war noch so erschöpft von gestern, deswegen habe ich heute nicht so viel geschafft...", gab ich kleinlaut von mir. "Stehen kannst du ja offensichtlich noch. Du weißt doch, was dein Vater immer sagt." Ich nickte. "Solange du noch stehst oder nicht kotzt, kannst du auch noch weitermachen. Der Wille muss da sein", zitierte ich ihn. Ja, mit meinem Vater zusammen zu trainieren war ein Qual. Wenn wir laufen gingen, trieb er mich solange voran, bis ich alle meine Reserven aufgebraucht hatte und Zuhause zusammenbrach. Zitternd wischte ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Verdammt, ich war schon wieder unterzuckert.
"Na aber dein Bäuchlein geht ja langsam zurück. Das ist ja wenigstens etwas", sagte meine Mutter nun, während sie sich eine Zigarette anzündete und vor die Haustür ging. Sie drehte sich noch einmal um, piekte mir in meinen Bauch und fügte hinzu: "Aber da geht noch einiges." Wieder überkam mich eine Woge der Wut. Ich hasste es, wenn sie so mit mir redete. Ich riss mir den Arsch auf, um meinen Eltern zu gefallen und alles, was ich bekam, waren weitere Verbesserungsvorschläge. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Okay ganz ruhig. Tief durchatmen. Ich holte einmal tief Luft, um meine Wut zu bändigen, doch dies nahm meine Mutter zum Anlass für einen weiteren bissigen Kommentar. "Du schnaufst ja wie eine Dampflock, an deiner Kondition musst du aber noch arbeiten." "Das sagt die Richtige, so eine Bohnenstange wie du, die noch nie in ihrem Leben Sport machen musste", nuschelte ich, als ich mich umdrehte, um im Kühlschrank nach etwas Essbarem zu suchen. "Hast du etwas gesagt?", kam es von der Haustür. "Nein", knurrte ich. Ich öffnete den Kühlschrank. Er war prall gefüllt, aber ich hatte nach dem Training keine große Lust, mir noch lange etwas zu essen zu machen. Mein Magen knurrte schon seit Stunden, da ich zum letzten Mal heute Morgen in der Schule etwas gegessen hatte. Mittagessen war für mich ausgefallen, da ich mir etwas Süßes gekauft hatte und Kalorien einsparen musste. Deswegen hungerte ich seit acht Stunden vor mich hin. Ich griff mir also schnell das Glas mit den Bockwürstchen und einen Joghurt und verzog mich schnell nach oben, um Sherlock zu Ende zu sehen.
Ich zog meine Turnschuhe aus, machte es mir auf meinem Bett bequem und drückte auf Play. Nebenbei aß ich die Würstchen. Mein Blick schwiff zum Fenster. Draußen zog ein Gewitter auf und es begann just in diesem Moment an, wie aus Eimern zu regnen. Der Regen prasselte gegen das Glas und in der Ferne sah ich Blitze und hörte leises Donnergrollen. Na, das würde ja noch ein richtig schöner Abend werden. Als ich gerade bei dem Joghurt angekommen war, hörte ich Schritte auf der Treppe. Oh shit. Ich bekam Panik. Wenn meine Mutter sah, was ich gerade aß, durfte ich mir wieder etwas anhören. Verstecken konnte ich es aber auch nicht. Das Einzige, was ich tun konnte, war, zu beten, dass sie nicht in mein Zimmer wollte. Tja, Gott schien mich zu hassen. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht konnte ich nur die Tür beobachten, wie sie sich öffnete und das neugierige Gesicht meiner Mutter offenbarte. "Was machst du denn noch-", setzte sie an, doch dann sah sie den Joghurt in meiner Hand und den leeren Teller auf meinem Schoß. Missbilligung breitete sich wie eine Krankheit auf ihrem Gesicht aus. Der unbehagliche Moment wurde noch durch den prasselnden Regen und die sich einschleichende Dunkelheit in meinem Zimmer unterstrichen. "Isst du gar keinen Salat mehr?", fragte meine Mutter mich spitz. Okay, es war eigentlich egal was ich jetzt sagte, es konnte nur falsch sein. "Doch, aber es ist doch schon halb acht... und ich brauche immer eine halbe Stunde, um mir einen Salat zu machen... ich wollte nicht so spät essen", versuchte ich es zögerlich mit gesenktem Blick. "Ich habe noch nie gesehen, dass du eine halbe Stunde brauchst, um einen Salat zu machen." Warum glaubte diese blöde Kuh mir denn nicht? "Es ist aber wirklich so!" Das Donnergrollen wurde nun lauter und Blitze erhellten mein wuterfülltes Gesicht. "Nicht in dem Ton, ich hab dir doch gar nichts getan! Aber es ist dein Körper, mach doch was du willst...", antwortete sie mir. Ihre Stimme troff nur so vor Sarkasmus. Ja klar, sie darf sarkastisch sein, aber bei mir ist das dann gleich ein komischer Ton. Das ich nicht lache. Sie drehte sich abrupt um, schloss die Tür hinter sich und ich hörte, wie sie die Treppe wieder runterging. Nein, diesmal ließ ich das nicht auf mir sitzen.
Ich sprang auf, riss die Tür auf und spurtete nach unten. Meine Kräfte hatten sich mittlerweile wieder etwas regeneriert. Meine Mutter stand schon wieder in der Haustür und rauchte eine. War ja klar, kaum gab es Stress mit mir, musste man den ja gleich durch rauchen bewältigen. Ich war so wütend und je mehr ich daran dachte, wie sie mich behandelte, desto wütender wurde ich. Ich ging auf sie zu, schlug ihr die Zigarette aus der Hand und packte sie am Handgelenk. "Was fällt dir eigentlich ein?!", schrie sie mich an und versuchte ihre Hand zu befreien, doch ich schloss meine wie einen Schraubstock fester um sie. "Du tust mir weh! Hör sofort auf damit!" "Oh nein, du hörst auf!", schrie ich. Das Gewitter war nun direkt über uns und der aufkommende Sturm peitschte uns das Wasser ins Gesicht. "Ich hab das alles so satt! Euer dämlicher Schlankheitswahn macht mich krank! Ich halt das nicht mehr aus!" Sie wehrte sich immer noch und ich verdrehte ihre Hand, bis sie aufschrie. Tja, zu etwas war das Krafttraining ja doch gut gewesen. "Ich habe dir schon so oft gesagt, dass das dein Körper ist und du damit machen kannst, was du willst!", brüllte sie gegen das Gewitter an. "Ja genau und du hast es bestimmt auch so gemeint, hab ich recht? Deswegen auch immer deine dummen bissigen Kommentare, so wie eben!" Sie biss sich auf die Lippe schwieg aber. "Ich bin nicht wie ihr, okay?! Ich bin nicht von natur aus athletisch! Ich habe meine Schwächen! Und das könnt ihr nicht ändern! Ihr könnt mich noch zu so viel Sport zwingen wie ihr wollt, aber ich werde nie zu euch passen! Kapiert?!" Ich schrie mich völlig in Rage. Die Kontrolle hatte ich schon längst verloren.
"Du könntest dir ja mal ein Beispiel an deinem Bruder nehmen, der sieht doch auch nicht so aus wie du!", konterte meine dumme Kuh von Mutter. "Ich bin nicht dick, verdammt nochmal!" Ich stieß sie in den Hausflur, packte nun ihre beiden Handgelenke und donnerte sie gegen den Spiegel. Ein Scherbenregen ergoss sich über uns und ich merkte, wie sich die Scherben in mein Fleisch gruben. Den Schmerz spürte ich aber nicht. Wir beide atmeten heftig und sahen uns wutentbrannt in die Augen. Mittlerweile waren wir vom Regen vollkommen durchnässt worden. Meine Mutter sah mich so hasserfüllt an wie noch nie. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie mich wahrscheinlich verprügelt, nur leider hielten meine Hände sie wie Zwingen fest. "Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was ihr mir damit antut! Ich habe das Gefühl, dass ihr mich nie so lieben werdet wie ich bin!", verschaffte ich meinen Gefühlen Luft. Und in diesem Moment sah es aus, als ob in meiner Mutter etwas zerbrach. Aber nicht ihr Herz, sondern die Kette, mit der sie ihre Abscheu mir gegenüber immer zurückgehalten hatte. Ihre Augen trieften vor Hass und sie zischte: "Wir wollten immer einen Jungen. Die Frauenärztin hatte uns gesagt, dass du einer wirst und wir hatten uns so gefreut. Als sie uns dich im Krankenhaus in die Arme gelegt haben, waren wir schockiert, dass du ein Mädchen bist. Wir dachten, sie hätten dich vertauscht. Doch als uns klar wurde, dass du kein Irrtum bist, wurde uns auch bewusst, dass du nie das Kind sein würdest, dass wir wollten!" Das traf mich wie ein Pfeil ins Herz. Ich konnte nicht fassen, dass sie das ausgesprochen hatte, was ich all die Jahre gedacht, aber mich nie auszusprechen getraut hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie wirklich so empfanden. Glühender Zorn packte mich. Zorn darüber, dass meine Eltern mich hassten und darüber, dass ich niemals in einer glücklichen Familie würde leben können. Und in diesem Moment wurde mir alles egal. Ich ließ meine Erzeugerin los. Sie achtete nicht auf mich, da sie sich über die geschundenen Handgelenke rieb und sich nach ernsthaften Verletzungen untersuchte. Diese kurze Spanne an Unaufmerksamkeit ließ ich nicht ungenutzt. Blitzschnell schnappte ich mir eine Scherbe vom Boden und rammte sie dieser Hure in die Brust. Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, welches drohte, meine Trommelfelle zum Platzen zu bringen. Ich hörte ein Knistern und mir wurde schlagartig bewusst, dass ein Blitz eingeschlagen hatte. Meine Erzeugerin starrte auf das scharfe Stück Glas in ihrer Brust und keuchte entsetzt auf. Unsere Blicke trafen sich. In ihren Augen entdeckte ich Unglauben und ich strafte sie nur mit Hass. Sie sackte zusammen, die Hände um die Scherbe gekrallt, doch es war zu spät.
Ich spürte, wie Hitze um mich aufwalllte. Als ich zur Treppe schaute, die ins Obergeschoss führte, sah ich eine Flammenwand. Ich konnte eh nicht mehr zurück. Für mich war mein jetziges Leben hier vorbei. Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus in den Sturm. Peitschender Regen empfing mich und kühlte mein erhitztes Gesicht, doch ich blieb nicht stehen. Ich rannte weiter, weg von meinem ungeliebten, verhassten Leben. Für mich war dies das Ende einer Tortur und der Anfang von Mir. Als ich mich umdrehte, um einen letzten Blick auf dieses Zuhause zu werfen, welches ich nicht vermissen würde, sah ich die hellen Flammen, die sich bereits über das ganze Haus ausgebreitet hatten. In der Ferne wurden bereits Feuerwehrsirenen laut, doch ich starrte weiter rennend auf mein altes Leben, was vom Feuer verschluckt wurde. Zu spät nahm ich die Straße und das Auto wahr. Ich schrie auf als ich erfasst wurde. In hohem Bogen wurde ich durch die Luft geschleudert und landete mit einem lauten Krachen auf der Straße. Das Letzte, was ich wahrnahm, waren die Flammen, der Schmerz und die Sehnsucht nach dem erfüllten Leben, von dem ich jahrelang geträumt hatte und welches nun für immer verloren war.
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