Prolog
Nothing But Thieves - Neon Brother
***
Sonntag, 6. März 2016
Zufrieden lächelnd und eingewickelt in eine Wolldecke beobachtete sie den See, auf dem sich die aufgehende Sonne spiegelte. Es war ein Schauspiel, das man nicht nur einmal in seinem Leben gesehen haben sollte. Bei ihr waren es sicherlich bereits über ein Dutzend Sonnenaufgänge, und jeder war schöner als der vorige.
Während sie die Wärme der Lichtstrahlen, die auf ihre helle Haut trafen, genoss, stand er argwöhnisch dahinter, angelehnt an seinen alten roten VW, und fragte sich wie jedes Mal, was daran so toll war. Er fand daran nichts romantisch oder faszinierend, eher im Gegenteil.
Es war ein Sonntagmorgen im März, die Temperaturen schienen nicht steigen zu wollen. Heute Nacht im Auto war es arschkalt gewesen. Nur gut, dass sie sich sowieso die ganze Zeit gegenseitig gewärmt hatten.
Sie hatte gehofft, dass niemand in dem angrenzenden Wald gezeltet hatte, während es ihn noch mehr erregt hatte, zu wissen, dass jemand vielleicht dem Gequietsche und Gestöhne, das von dem Auto gekommen war, gelauscht hatte.
Sie wollte das eigentlich gar nicht, nicht die ganze Nacht wie zwei Kaninchen leben, aber das war seine Bedingung gewesen: ein bisschen Spaß haben und dafür im Gegenzug den Sonnenaufgang beobachten.
»Ben! Ben, schau doch nur!«, rief sie und drehte sich dabei um, so dass ihr die schwarzen Strähnen um den Kopf flogen. Es war die Haarfarbe ihrer Mutter, die vor einiger Zeit aus Griechenland hergekommen war, um dann hier einen Deutschen zu heiraten. Doch hätte sie das nur nie gemacht, denn schließlich hatten dieses Land und dieser Mann sie letztendlich zerstört - und damit die Tochter auch.
»Ja, ja. Ich seh's doch, ist schließlich schwer zu übersehen. Hast du's dann?« Er verdrehte die Augen und dachte nach, was er machen könnte, um diesem langweiligen Film zu entkommen.
»Warte, gleich. Nur noch ein paar Minuten.«
Er starrte auf seine Schuhspitzen und trommelte mit den Fingerspitzen auf das Blech seiner Motorhaube. Schließlich rieb er sich im Nacken, und in dem Moment kam ihm die Idee der Erlösung: das Reserve-Kokain, das er im Handschuhfach aufbewahrte, um Situationen wie diese erträglicher zu machen.
Zielsicher lief er um das Auto und öffnete die zerbeulte Beifahrertür. Irgendein Arschloch war ihm da mal auf dem Aldi-Parkplatz rein gefahren und hatte dann Fahrerflucht begangen. Die Reparatur konnte er sich nicht leisten, da das meiste des Geldes, das er in einer Bar verdiente, für die Schleimhaut zerstörende Droge drauf gingen.
Er schmiss den Rock und den B-Cup-BH nach hinten auf ihr provisorisches Bett - sie hatten die Rücksitze nach vorn geklappt, so dass der Kofferraum erweitert wurde - und riss das Handschuhfach auf. Ein paar CDs flogen in den Fußraum, doch dann hatte er das kleine Tütchen mit dem weißen Pulver gefunden.
Währenddessen betrachtete sie weiterhin den See und überlegte, ob sie es wagen sollte, einen Fuß ins Wasser zu hängen. Sicherlich war es noch total kalt, vielleicht nur kurz über dem Gefrierpunkt. Sie entschloss sich dagegen, da er sie darauf bestimmt ins Wasser geschubst hätte. Und dabei hätte sie sich nur eine Lungenentzündung eingefangen.
Plötzlich durchfuhr ein kalter Wind ihren Körper und bereitete ihr eine Gänsehaut auf dem gesamten Körper; ihr strähniges Haar wehte gen Westen. Sie wickelte die Decke fester um sich.
»Scheiße!«
Erschrocken über das laute Fluchen hinter sich drehte sie sich um und erkannte ihn, wie er auf seinem T-Shirt als Unterlage etwas machte; sie vermutete, was, und schlagartig wurde ihr mulmig. Wenn er Koks schnupfte, war er danach immer total aufgebracht und aggressiv. Die kleinsten Dinge regten ihn auf, und es war ihm dann auch bereits ein paar Mal »die Hand ausgerutscht«.
Doch sie liebte ihn zu sehr, um dann nachtragend zu sein.
Wenn sie Glück hatte, hatte der Windstoß gerade alles weg gepustet, allerdings wurde sie wenige Sekunden später enttäuscht, als er seinen Kopf nach unten neigte, sich ein Nasenloch zuhielt, dann tief und energisch durch die Nase einatmete und sich dabei schnell nach rechts bewegte, um der Linie des Pulvers zu folgen. Ein Schütteln durchfuhr seinen Körper, kurz darauf rieb sich die Hände - und das war erst der Anfang. Das, was passieren würde, wenn das Koks in ein paar Minuten die eigentliche Wirkung erreichen würde, war noch viel schlimmer. Zufrieden steckte er sich das Tütchen mit dem restlichen Pulver in den Hosenbund seiner Boxershorts.
Sie schloss die Augen und betete, dass dieses Mal nichts passieren würde; dass ihm nicht »die Hand ausrutschen« würde.
»Hey! Willst du auch?« Und schon erlosch der letzte Funken Hoffnung. Er stellte dieselbe Frage wie jedes Mal, und jedes Mal ging es nie gut aus. Sie öffnete ihre Augen.
»Du weißt doch, ich will kei-« Dieselbe Antwort wie immer, noch bedachter und leiser als zuvor.
Nur, dass sie jetzt unterbrochen wurde. Das war anders, doch der fast schon fröhliche Ausdruck in seinem Gesicht verunsicherte sie noch um Weites mehr. »Jetzt hab dich nicht so! Komm schon! Das wird dir gut tun."
Sie rang mit sich, konnte ihn nicht weiter in die vor Freude strahlenden Augen blicken. Niemand würde glauben, was sich hier am dem kleinen See mit nur einem kleinen Steg und einem Boot, umzingelt von dem großen Fichtenwald, abspielt hatte.
Die Bäume kamen ihr vor wie neugierige Zuschauer, gespannt auf ihre Antwort. Als würden sie es dann weitererzählen, bis es irgendwann bis zur Stadt vorgedrungen sein wird.
»Stell dir vor, was ich neulich gesehen habe: die Kleine, die jede Sonntagnacht mit dem Junkie so einen Lärm veranstaltet, die hat ernsthaft überlegt, das Koks von dem Typen zu schnupfen!«
»Nein, ernsthaft?!«
»Wirklich? Ist die dumm!«
»Und wie ging's dann aus? Hat sie's gemacht?«
Und im nächsten Moment hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie sah zurück zu ihm, der grinsend zwei, drei Meter entfernt stand und ihr seine Hand entgegen strecke. Sie sah ihm nervös in die Augen, überlegte noch, ob das, was sie gleich tun würde, das Dümmste, das sie je getan haben wird, sein würde, warf den Gedanken beiseite, ging einen Schritt auf ihn zu und nahm entschlossen seine Hand.
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