Milan, 4
Als Milan aus dem Ärztezimmer trat, war der Wartebereich sogar noch voller geworden, als er es vor einer Stunde gewesen war. Er drängte sich an einem kleinen, jammernden Schattenwesen vorbei, das am Kleid seiner Mutter zupfte und sich beschwerte, warum das so lange dauerte. Milan gab ihm im Stillen recht und stellte sich an der Schlange zur Kasse an, um sich das Attest abzuholen und sich dazu noch ein Rezept für Schmerzmittel abzuholen. Der Doktor war ein Seelenfühler mit dunkelblauer Streifenmusterung gewesen und er hatte ihm lächelnd erklärt, dass seine Schulter nur leicht geprellt war und in ein paar Wochen wieder voll einsatzfähig war, wenn Milan seine Schulter schonte. Außerdem hatte er vermutlich eine leichte Gehirnerschütterung, die aber nicht weiter tragisch war, solange Milan sich nicht übergeben musste. Na schönen Dank auch, dachte Milan, das weiß doch jedes Kind. Wenigstens hatte er jetzt ein Attest und konnte die Uni noch ein paar Tage länger ausfallen lassen. Nachdem er endlich Attest und Rezept hatte, ging er zum Haupteingang und geradewegs zur Rezeption. Dabei kam er an einem Kaffee-Automaten vorbei und alles in ihm drängte danach, sich ein Getränk zu beordern, aber Milan wendete seinen Blick wieder zu seinem Ziel. Er durfte sich jetzt wirklich nicht aufhalten lassen. Schließlich stand er nach kurzem Warten vor dem Tresen und blickte einer streng dreinblickenden Gestaltwandlerin entgegen. „Was kann ich für sie tun?", leierte sie ihren Text herunter und sah ihn erwartungsvoll an. Ihre Wimpern klimperten und sie heuchelte Interesse, während Milan sie stirnrunzelnd musterte. „Sagen sie, wie gut sind ihre Chirurgen, ein –" „Die Besten", unterbrach die Dame ihn und blickte ihn ungeduldig an. Milan schätzte sie auf Ende dreißig. „Wunderbar", Milan setzte ein Lächeln auf, nur um es dann verblassen zu lassen und erschüttert auszusehen. Das viel ihm aufgrund der Umstände nicht sonderlich schwer. „Es ist nur so, ein Freund von mir, der hatte einen schrecklichen Unfall, wissen sie..." Die Wandlerin nickte energisch. „... er war halb verwandelt, als das Auto ihn gerammt hatte." Milan stockte kurz, das Gesicht tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf. Die Frau am Empfangsschalter deutete die Stille falsch. Sie fing an, an ihrem Computer herum zu tippen. „Name?"
„Oh nein, das ist schon länger her, ich glaube er... wurde bereits entlassen, aber ich bin ein wenig besorgt... ihn naja, zu sehen, verstehen sie?"
Die Frau nickte und zupfte ihre weiße Bluse zurecht.
„Also nun ja, sogar die Knochen waren zu sehen und das halbe Gesicht war beinahe weggerissen." Die letzten Wörter hatte Milan so hektisch hervorgestoßen, dass er Angst hatte, die Frau habe ihn nicht verstanden. Aber langsam nickte sie und fixierte ihn mit seinen Blicken. „Wir haben nur selten so schwere Fälle. Die Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt und in den autonomen Fahrzeugen sind nahezu perfekt.", kurze Atempause, „Wie lange ist das her? Ich erinnere mich nicht an einen solchen Unfall.", säuselte sie dann weiter und dabei hob sich ganz leicht ihr linker Mundwinkel.
„Also gab es in letzter Zeit keinen solcher Notfälle?"
„Nein. Das wüsste ich. Und ihr Freund wurde bestimmt wieder bestens zusammengeflickt."
„Aber sind Werwölfe bei solchen Verletzungen nicht ohnehin besonders zäh und halten größeren körperlichen Belastungen stand?" Die Frau musterte Milan mit schmalen Augen, „Nein. Auch in dem verwandelten Zustand sind Werwölfe genauso anfällig für Verletzungen wie Sie und Ich. Es macht keinen ob Unterschied, welches Wesen man ist und ob verwandelt oder nicht. Noch Fragen?" Milan schüttelte stumm den Kopf. „Gut. Auf Wiedersehen."
Er nickte ihr als Abschiedsgruß knapp zu und ging dann grübelnd zum Vorraum des Krankenhauses, in dem sich überwiegend Seelentiere aufhielten -die brav auf ihre Seelenfühler warteten- um Coron abzuholen. Der Drache reckte gerade stolz die Brust, als er von zwei kichernden Schattenmädchen bewundert wurde, die vermutlich noch nie einen echten Drachen gesehen hatten. Milan schenkte ihnen ein Lächeln und ließ Coron dann auf seine Schulter klettern. Milan glaubte die starrenden Blicke der Mädchen zu Coron noch auf sich zu spüren, bis er das Haupttor durchquert hatte und in das weiße Automatik-Auto seiner Eltern stieg.
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