Teil 5 - Michael
"Ich weiß, dass ich nichts weiß." Diesen Satz murmelte Michael leise vor sich hin, während er vor seiner Zimmertür stand, sie von innen ansah.
Der Satz stand dort schon seit Jahren, er hatte ihn irgendwann mal auf ein Post-it geschrieben und dort hingeklebt und nun starrte er auf den Zettel und versuchte die Buchstaben zu ordnen.
"Ich weiß, dass ich nichts weiß." sechs einfache Wörter. Wenn Michael die Umgebung vor seinen Augen verschwimmen ließ und sich nur auf das Gesamtbild konzentrierte, dann konnte er die Lücken dazwischen sehen, konnte erkennen dass es nicht ein langes Wort war.
"Ich..." mit etwas Mühe konnte er sogar die einzelnen Buchstaben zählen. Erst drei, dann vier. Wieder vier, dann drei, fünf und zum Schluss wieder vier.
Michael musste lächeln. Wenn er nicht versuchte zu lesen, dann konnte er die Buchstaben einfach so angucken, ohne dass sie umher sprangen und die Plätze tauschten.
Doch was brachte das schon? Im nächsten Moment war Michael wieder auf dem Boden der Tatsachen. Er hatte sich gut gehalten. Weit über zwei Jahre lang hatte er sich gut geschlagen und das Leben so gut wie möglich bestritten. Es hatte mal schlechtere Tage und Wochen gegeben und er wusste auch, dass er stetig abgebaut hatte, doch er hatte sich immer irgendwie gehalten.
Heute war der zweite Tag in Folge, an dem er nicht das geringste bisschen lesen konnte. Ganz egal wie viel Zeit er sich nahm, er konnte nicht lesen.
Bei seinem Vater nicht lesen können auch ziemlich spät eingesetzt. Zwei Wochen bevor er eingeschlafen war, hatte sein Vater zum ersten Mal beklagt, dass er auch mit Konzentration nicht lesen konnte. Und dann war es ziemlich schnell vorbei gewesen.
Michael wusste, was es zu bedeuten hatte, dass er nicht mehr lesen konnte. Zwei Wochen, mehr gab er sich nicht mehr. Wofür hatte er denn all die Monate so gekämpft, wenn er jetzt einfach starb? Er hatte sich geschworen zu leben, bis man eine Heilung gefunden hatte... Doch das stand nach wie vor in den Sternen.
Ständig war er im Krankenhaus, ständig forschten sie an ihm herum und die ganzen verdammten Ärzte hatten immer noch nichts gefunden! Sie wussten ja nicht einmal, wie es überhaupt möglich war, dass er krank war!
Bei all dem Zorn und der ganzen Verzweiflung stiegen Michael die Tränen in die grau-blauen Augen. Mit einem bockigen Schniefen zog er die Nase hoch, doch das Zittern seiner Lippen wollte einfach nicht mehr aufhören.
"Verdammte Scheiße!" flüsterte er leise, während er unterdrückt schluchzend auf sein Bett sank. Es war Monate her, dass er hier zum letzten Mal gelegen hatte, doch irgendwie hatte es etwas vertrautes.
Das Bett hatte Michael gemeinsam mit seinem Vater gebaut. Und die Erinnerung an ihn ließ ihm nicht nur mehr Tränen in die Augen steigen, sie ließ ihn auch etwas ruhiger werden.
Egal wo man nach dem Tod hinkam... Sein Vater würde ihn erwarten. Irgendwie erleichterte das Michael. So sehr, dass der Junge sich kaum daran störte, dass er draußen das alte Auto hörte.
Ein bisschen fühlte er sich in der Zeit zurück versetzt. Er wusste, dass es nur Thorsten war, vor gut drei Stunden hatte der ihn von der Schule abgeholt und nach Hause gebracht, war dann nochmal auf die Arbeit gefahren und hatte jetzt wohl Feierabend... Aber es war wie früher.
Durch das gekippte Fenster hörte Michael nicht nur den etwas brummigen Motor des Autos, sondern auch die Musik.
"Help is on the way, Help is on the way."
Michael liebte diesen Song. Er hörte keine Musik mehr, aber er liebte dieses Lied. Sein Vater hatte ihm die dazugehörige CD geschenkt und sie hatten sie häufig zusammen gehört.
Fast glaubte Michael den kühlen Colageschmack eines Eis auf seiner Zunge zu spüren, wie so oft, wenn sein Vater früher nach Hause gekommen war und aus den offenen Autofenstern dieses Lied gedröhnt war, fast sah er sich selbst heraus rennen um die Tüte mit dem noch warmen Döner darin an sich zu nehmen und schon auf den Tisch zu tragen.
Normalerweise hätte es ihn wütend gemacht, dass Thorsten sich so benahm, aber heute verzieh er es ihm.
Stattdessen schwelgte er lieber in seinen Erinnerungen.
~
Für einige Momente kam es Michael so vor, als hätte er geschlafen, so desorientiert fühlte er sich, aber er wusste genau, dass das nicht sein konnte.
Draußen war er schon dunkel und er fragte sich unwillkürlich, wie viel Zeit vergangen war, seit er sich hin gelegt hatte. Es mussten mehrere Stunden sein. So lange war er noch nie mental abwesend gewesen. Doch der Junge verdrängte die Gedanken daran.
Er wollte nicht immer daran denken, dass er jederzeit sterben konnte. Viel lieber griff er sich seine Kopfhörer und setzte sie sich auf. Und dieses Mal packte er auch sein Handy und steckte es ein. Nicht um Musik zu hören, obwohl er einen Ohrwurm hatte, sondern nur um im Zweifelsfall irgendwie Maps nutzen zu können.. Oder es zumindest zu versuchen.
"I have my mother's dreams
I have my father's eyes"
Summte er leise vor sich hin, während er versuchte, den ätzenden Ohrwurm los zu werden, öffnete dann das Fenster.
Die Wunde an seiner Hand ziepte unangenehm, doch der leichte Schmerz klärte Michaels Geist. Der Junge hatte neue Hoffnung geschöpft. Er konnte gerade vielleicht nicht lesen, aber er konnte zumindest gucken, ob er sich in der letzten Nacht tatsächlich einen ganzen Menschen eingebildet hatte.
Wie genau er ihn finden wollte, das wusste er nicht, aber alles war besser, als hier zu sitzen und Trübsal zu blasen.
Fast von selbst hatte Michael sich in Bewegung gesetzt, war los getrottet. Ein Gedanke blitzte in seinem Kopf auf, doch er konnte ihn kaum fassen. Mit zusammen gebissenen Zähnen ging er weiter und versuchte sich wie in der Nacht zuvor so in seinen Gedanken zu verlieren, dass er aus Versehen dorthin gelangte, wo er gewesen war.
Und es funktionierte. Irgendwann sah Michael wieder hoch und stellte fest, dass er nicht wusste, wo er war. Und er wusste auch, dass er die Häuser schon einmal gesehen hatte. Er war ganz nah dran, das spürte er.
Während er so ging und hoffte das Schild wieder zu finden war da plötzlich wieder dieser Gedanke. Michael biss sich auf die Unterlippe, ballte die Hände zu Fäusten und wieder half ihm das leichte Ziehen. Er kannte diese Umgebung, weil es der Weg war, den Thorsten ihn von der Schule nach Hause fuhr.
Michael lächelte. Es war nur ein kleiner Triumph, aber er hatte sich an etwas erinnert. Er hatte sich gerade an einen vergessenen Gedanken erinnert. Und er konnte gerade ziemlich klar denken.
Fast hätte er wieder geweint, dieses Mal aber vor Freude. Für jemand anderes war das wohl nichts besonderes, aber er fühlte sich gerade so stark wie zuvor. Erst recht, als er ein Schild vor die Augen bekam.
"Spielstraße" stand dort. Spielstraße. Michael war klar, dass er das mehr aus dem Bild der spielenden Kinder erkannt hatte, weil er solche Schilder schon oft gesehen hatte, aber... Er hatte es erkannt und die Buchstaben tanzten nicht!
Nur noch mehr Tränen kamen hoch, doch Michael lächelte. Er lächelte, während er versuchte das Glucksen zu unterbrechen, dann aber in Gelächter aus brach. Vielleicht war es doch noch nicht vorbei. Vielleicht hatte er doch noch ein bisschen Zeit.
Immer noch lachend ging er weiter, strich sich seit langem mal wieder die Haare aus den Augen... Und erstarrte.
Er sah etwas. Er sah ein Haus und er war sich sicher, dass es das war, in dem der Mann verschwunden war.
Michael sah sich aufmerksam um und tatsächlich entdeckte er das blöde Schild und er glaubte auch die anderen Häuser wieder zu erkennen.
Dann galt es jetzt zu warten, bis sich etwas tat. Michael verdrängte die Gedanken daran, wie dumm diese Aktion war und setzte sich einfach hin.
Aus der Tasche seines Pullis zog er sein Handy und hielt es bereit. Wenn irgendwer kam, würde er sofort ein Foto machen. Und Halluzinationen sah man definitiv nicht auf Fotos. Er selbst vielleicht schon, aber jemand anderes würde ihm sagen können, ob da wirklich wer war.
Anders als erwartet musste Michael tatsächlich nicht lange warten. Keine halbe Stunde später regte sich am Ende der Straße was, jemanden kam um die Ecke gebogen.
Michael wusste sofort wer das war. Die Größe und die Statur stimmten, doch es war viel mehr die Art, wie der andere sich bewegte, die ihm klar machte, dass es die richtige Person war.
Sofort riss er das Handy hoch und machte ein Foto. Was er nicht bedacht hatte, war dass die fremde Person den Blitz natürlich sah und auch darauf reagierte.
Der Mann starrte Michael kurz erschrocken an, dieser stand auch sofort auf, wollte zu ihm hin und ihn fragen ob er die vorherige Nacht auch hier gewesen war, doch noch während er die ersten Schritte tat, drehte der andere sich um und rannte.
Der Mann rannte in einem Tempo, das Michael sofort klar machte, dass er ihn niemals einholen würde. Und so versuchte er es gar nicht erst. Er hatte das Foto und das war alles, was zählte.
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