Teil 15 - Michael
Piep. Pause. Piep. Pause. Piep. Pause. Piep. Pause.
Nichts als dieses gleichmäßige Geräusch. Kein Atmen, keine Stimmen. Stille und Piepen. Michael musste nicht einmal die Augen aufmachen, musste nicht den sterilen, weiß gestrichenen Raum sehen um zu wissen, was das hieß.
"Haben wir das nicht schon durch?" fragte er gereizt in die Stille und setzte sich ruckartig auf. Keine gute Idee, sofort drehte sich wieder alles und der Teenager ärgerte sich über sich selbst. Er hätte es besser wissen müssen, immerhin war er schon häufiger in der Situation gewesen.
Bis heute wussten die Ärzte nicht, woran es lag, dass Michael manchmal einfach umkippte und der braunhaarige hatte eigentlich gedacht, dass das vorbei war, weil es schon seit ein paar Monaten nicht mehr passiert war, aber dem schien ja nicht so zu sein.
Eigentlich wusste Michael auch, dass er hier brav liegen bleiben sollte, aber er wollte nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken zog er sich die Nadeln aus dem Arm und löste sich vorsichtig von all den Maschinen und Infusionen, um aufstehen zu können.
Man hatte schon viel zu viel an ihm herum gedoktort, er war schmerzfrei geworden was das anging.
Ein lauter Alarm signalisierte ihm, dass er das hier wirklich nicht durfte, aber er ignorierte es auch dieses Mal. Zum einen fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr, zum anderen hatte er keine Lust noch länger zu bleiben und.. Ein bisschen fragte er sich auch, wo Maurice war.
Er erinnerte sich noch daran, dass sie gemeinsam unter dem Auto gelegen hatten und wie nahe sie sich gewesen waren, das war auch noch ziemlich präsent, der Gedanke daran ließ Michael erröten, doch ab dem Zeitpunkt als er unter dem Auto hervor war, war alles weg.
Hoffentlich lag Maurice nicht immer noch unter dem Auto. Und hoffentlich hatte der andere es noch rechtzeitig nach Hause geschafft.
Unbewusst tastete Michael nach seinem Handy, auch wenn ihm klar war, dass er es in dem Kittel, den man ihm angezogen hatte, nicht finden würde.
Es war die Sorge, die ihn dann dazu brachte, die paar Schritte bis zur Tür zu gehen und diese zu öffnen. Gerade rechtzeitig, ihm kamen schon die Ärzte entgegen, die nach ihm sehen wollten. Doch Michael ignorierte sie und sah sich um. Er konnte Thorsten nicht sehen, das war schon mal sehr gut. Doch er konnte auch seine Mutter nicht sehen und das war ziemlich ungewöhnlich.
"Michael?" einer der Ärzte fasste ihn an der Schulter. "Was machst du hier draußen?" Michael drehte sich zu ihm um und musterte ihn kurz. Schmale Lippen, starke Wangenknochen und eine schmale Nase. Ziemlich sicher hatte er ihn noch nie gesehen.
"Wo ist Maurice?" fragte Michael statt einer Antwort und lehnte sich dem Druck, der ihn zurück in das Zimmer schieben wollte, entgegen. "Wo ist er? Ich will zu ihm!"
Die Ärzte ließen sich von Michaels Geschrei wenig beeindrucken, sondern schoben ihn einfach zurück in das Zimmer. "Wo ist Maurice?!"
Michael blendete aus, dass sie beruhigend auf ihn ein redeten, er sah einfach nur raus auf den Flur, probierte den Blonden zu erspähen, auch wenn er wusste, dass Maurice nicht hier war. Das war unmöglich, der andere musste zuhause sein. Zuhause.. Oder irgendwo in Lebensgefahr.
Michael konnte trotzdem nicht aufhören zu brüllen. "Maurice!" er wusste, dass das dämlich war, dass der andere ihn nicht hören konnte, aber das war das einzige was er tun konnte. Und es half. Zumindest ein bisschen.
"Michael?" er sah das blonde Mädchen noch über den Gang joggen, doch noch bevor er sagen konnte, ob das Real oder Einbildung war, schloss sich die Tür, er wurde auf das Bett verfrachtet.
Lange sollte sie nicht zu bleiben, eine ziemlich erzürnte Emily riss die Tür auf und zog hinter sich einen ziemlich perplexen Jungen her. "Michael?"
Nur ganz am Rande bekam Michael mit, dass die Ärzte die beiden Besucher aus dem Zimmer schicken wollten, doch Emily ließ sich davon ebenso wenig beeindrucken wie Michael sich ablenken ließ.
"Maurice geht es gut. Er ist nur ein bisschen sediert worden, weil er sich so aufgeregt hat. Es geht ihm gut, Michael, es geht ihm gut."
Ihr Begleiter stand in dem Zimmer wie Falschgeld, doch Michael konnte ihm gerade keine Beachtung schenken. Er sah nur zu dem Mädchen, das ihm gerade versprach, dass es Maurice gut ging.
Und nun, da er es wusste, wehrte Michael sich nicht mehr gegen die Ärzte, er ließ sich einfach zurück in die Matratze sinken und schloss die Augen.
~
Piep. Pause. Piep. Pause. Piep. Pause. Und Stimmen. Als Michael das nächste Mal zu sich kam, war es nicht mehr still um ihn herum. Seine Mutter war da. Seine Mutter und Thorsten.
Michael hielt die Augen geschlossen und tat so, als würde er noch nicht bei Bewusstsein sein. Es fiel ihm schwer, sich auf die Unterhaltung zu konzentrieren, aber er versuchte es zumindest.
"Marianne." hörte er Thorsten sagen. "Du musst dir keine Vorwürfe machen. Ich bin derjenige, der zwei Mal am Tag mit ihm im Auto sitzt, ich hätte es merken müssen."
"Er ist mein Sohn. Michael ist mein Sohn, ich hätte merken müssen, dass es ihm schon seit Tagen schlecht geht."
"Marianne, der Junge ist fast erwachsen. Ich weiß auch nicht, warum er sich so verschließt, aber du kannst nichts dafür. Du hast nichts falsch gemacht." Michael hasste es, dass Thorsten wenn es ernst war gefühlt jeden Satz mit 'Marianne' begann.
"Ich.... Thorsten, das kann so nicht weitergehen. Michael kann sich nicht mehr Nacht für Nacht draußen rumtreiben. Er musst sich jetzt zusammen reißen und wir müssen uns mehr dahinter klemmen. Ich... Ich kann nicht auch noch Michael verlieren."
Michael konnte die Geräusche die folgten nicht ganz einordnen, aber Thorsten redete auch nach wenigen Momenten weiter.
"Vielleicht ist es ja nicht so ernst, Marianne. Es kann ja auch temporär sein. Vielleicht hat er zur Zeit sehr viel Stress oder... Vielleicht hat es was mit seinem Vater zu tun. Mach dir nicht so viele Sorgen. Der Junge wird sich schon wieder berappeln."
"Thorsten." Jetzt fing auch noch seine Mutter damit an. Hinter den geschlossenen Augenlidern verdrehte Michael seine Augen. "Thorsten, Michael hat mich gebeten, ihm etwas aufzuschreiben weil er es selbst nicht hinbekommen hat! Thorsten, Micha kann nicht mehr schreiben! Und du.. Du sagst mir, dass es nicht so schlimm ist?"
"Marianne, so hab ich das doch gar nicht gemeint. Ich weiß, dass Michael krank ist und das will ich ihm auch gar nicht absprechen. Ich meine nur, dass er sich etwas zu sehr hängen lässt. Er müsste es mehr wollen und dann würde es ihm auch besser gehen."
Stille. Und Michael schwieg auch. Es machte ihn seltsamerweise nicht sauer. Er fühlte sich einfach nur leer, deswegen war es ein leichtes, ganz ruhig liegen zu bleiben.
"Du gehst jetzt besser, Thorsten." die Stimme seiner Mutter zitterte bei den Worten. "Marianne..."
"Nichts 'Marianne'! Ich.. Thorsten, ich brauch mal ein paar Tage Abstand. Geh jetzt bitte."
Das leise Klacken des Schlosses bestätigte Michael, dass Thorsten wirklich weg war und dass er jetzt aufwachen konnte, doch das Schluchzen seiner Mutter ließ ihn dann doch peinlich berührt ganz still bleiben.
~
"Michael?" Maurice' Stimme klang ein bisschen ungläubig. So, als konnte er es nicht fassen, dass Michael jetzt einfach vor seiner Tür stand.
Bei genauerer Betrachtung war das auch logisch, Michael hatte nämlich nicht gesagt, dass er ihn besuchen kommen würde, er hatte ihm nicht einmal gesagt, dass er schon aus dem Krankenhaus raus war.
"Ja?" ein bisschen unschlüssig stand er vor der Zimmertür seines besten Freundes, wusste nicht, ob er einfach rein durfte. Er musste sich keine weiteren Gedanken um ein angemessenes Auftreten machen, weil Maurice die Entscheidung am sich riss.
Die Tür flog so heftig auf, dass sie mit der Klinke an die Wand knallte und ein ziemlich verweinter Maurice warf sich Michael so heftig an den Hals, dass dieser einige Schritte rückwärts taumelte und schlussendlich von der Wand an seinem Rücken gebremst wurde.
Nichts desto trotz schloss er seine Arme fest um den anderen, vergrub das Gesicht an der Schulter seines Freundes und schloss die Augen. Es störte ihn nicht, dass Maurice ihm so nahe war, es störte ihn nicht einmal, dass er so an die Wand gepresste wurde und er störte sich auch nicht an den Tränen in seinen Haaren.
Hier hatte sich jemand wirklich Sorgen um ihn gemacht und das rührte Michael. Es zeigte ihm irgendwie, dass Maurice ihn wirklich gerne hatte, und vor allem erwiderte er diese Gefühle auf eine seltsame Art und Weise.
"Ist schon gut, Maurice." murmelte er, ein kleines bisschen von der Situation überfordert. "Michi... Die wollten mich im Krankenhaus nicht zu dir lassen und haben nur gesagt, dass es dir den Umständen entsprechend gut geht... Ich hatte Angst um dich, Michi. Richtig Angst."
Diese offenen Worte ließen Michael die Tränen in die Augen steigen, er nickte nur und vergrub das Gesicht noch tiefer in dem weichen Stoff.
Leise Schritte zogen seine Aufmerksamkeit dann doch auf sich, er sah zu Maurice' Mutter.
Sie lächelte die Jungs nur an, als sie merkte in was für eine Szene sie hier gerade geplatzt war und zog sich einfach zurück in das Zimmer aus dem sie gekommen war.
Es riss Michael trotzdem ein bisschen aus dem Film und erinnerte ihn daran, dass sie hier gerade in einem Flur standen, wo wirklich jeder lang kommen konnte.
"Lass uns reingehen.." murmelte er leise und schob Maurice sanft rückwärts in dessen Zimmer, bevor er sich von ihm löste und die Tür zu machte, sich dann unsicher auf den Boden setzte und sich in dem Zimmer umsah. Jetzt gleich würden also die Fragen kommen, die Maurice schon seit Tagen im Kopf geistern mussten.
Michael sollte recht behalten. Er sah zu, wie Maurice sich die Tränen trocknete und sich mit vor der Brust verschränkten Armen Michael gegenüber setzte.
"Du bist einfach so umgekippt, Michael. Du warst einfach weg und ich stand da ganz alleine und wusste nicht mal, wie man nen Krankenwagen ruft. Niemand sagt mir, was hier los ist. Niemand redet mit mir. Sag mir, was das war, Michael. Sag es mir bitte."
Neue Tränen blitzten in den großen, grasgrünen Augen, Michael musste schlucken.
"Das war nichts. Ich hab nur nicht so viel gegessen und war ein bisschen gestresst. Kann jedem Mal passieren."
"Michi.... Du, ich habe vielleicht absolut keine Ahnung von der Welt, aber ich bin weder dumm noch ein kleines Kind! Emily hat mir gesagt, dass die Ärzte dich beim Vornamen nennen.... Und das ist ganz sicher nicht der Fall, wenn man mal zu wenig isst. Michael... Du kannst mir vertrauen! "
Michael musste innerlich seufzen. Das hatte nicht besonders gut geklappt. Stattdessen hatte er viel mehr das Gefühl, dass er Maurice gegen sich aufgebracht hatte.
Einige Lichtpunkte, die über den Boden tanzten, fesselten Michaels Aufmerksamkeit, er verfolgte sie mit seinem Blicken, bis Maurice ihn anstieß.
Achja, richtig. Sie unterhielten sich ja gerade.
"Mir geht es gut, Maurice. Mach dir keine Sorgen um mich, ich bin mal umgekippt, das passiert im echten Leben ständig." er sah Maurice fest an, doch zu seinem Entsetzen sah er nur Misstrauen und Ungläubigkeit auf dem runden Gesicht.
"Ich habe keine Ahnung, was hier gerade passiert. Ich habe keine Ahnung, was ich überhaupt noch glauben soll und... Und... Michael, du lügst mich an. Ich erwarte doch gar nicht, dass du.. Was weiß ich, dass du es deiner ganzen Schule erzählst, aber... Wir sind Freunde! Wir sind Freunde und langsam musst du auch mal ehrlich zu mir sein! Ich... Wir sind schon viel zu tief, als dass ich dich einfach so gegen lassen will. Ich hab dich gerne, Michael, und du machst es mir echt nicht leicht. Bitte.... Bitte sag doch endlich was. Du kannst mir doch vertrauen... Du kannst mir vertrauen. "
Der Angesprochene hatte ihm ruhig zu gehört und nickte dann leicht." Ich... Ich gehe jetzt, Maurice. Es tut mir Leid, aber... Ich muss jetzt gehen. Ich... Ich hab dich wirklich gerne, aber... Du verlangst zu viel von mir, das kann und werde ich dir nicht erzählen."
Maurice sah ihm nur stumm dabei zu, wie Michael aufstand und sich durch das Gesicht wischte.
"Du solltest mich vergessen.. Das ist besser für dich. Glaub mir, ich.. Ich hab dich schon viel zu Nahe an mich gelassen und... Ich verletze dich nur."
Michael wusste nicht, ob das was er sagte überhaupt Sinn ergab. Er drehte sich schlussendlich ohne eine richtige Verabschiedung um und verließ das Zimmer. Auf Maurice' leise Frage "Sehen wir uns heute Abend wieder?" antwortete er nicht mehr.
Er verließ einfach das Zimmer und das Haus und verdammte Maurice damit bewusst zur Untätigkeit.
"Michael?" Das durfte nicht wahr sein. Wie aus dem Nichts war Emily vor ihm aufgetaucht und Michael war sich nicht sicher, ob das hier die Realität war. Er blinzelte nur und sah sie stumm an.
"Michael? Hallo?" sie schnippste ihm vor dem Gesicht rum und riss ihn so aus seiner Starre.
"Hast du dich schon wieder mit Maurice gezofft? Michael, hallo? Du stehst mitten auf der Straße." Michael ließ zu, dass sie ihn von der Straße auf den Bürgersteig zog und blinzelte einfach weiter.
"Redest du nicht mehr mit mir?!" sie wirkte wenig begeistert, doch Michael sah an ihr vorbei zu dem gut bekannten Zimmer. Auf der Fensterbank, direkt hinter dem dunklen Fenster konnte er Maurice sehen. Das versetzte ihm einen kleinen Stich ins Herz.
"Ihr habt euch also gestritten, großartig. Hör mir zu, Michael. Ich mag dich gerne. Aber du hast meinem Bruder weh getan und das finde ich nicht okay. Ich habe ihm gesagt, er soll dich auf deine Krankheit ansprechen, weil es ihm echt dreckig deswegen geht. Ich bin nicht dumm, Michael. Ich weiß was mit dir los ist und wenn du es ihm nicht sagst, dann mach ich das. "
Michael konnte nicht einordnen, ob das eine Lüge oder die Wahrheit war.
"Michael.. Du bist der erste Freund, den er hatte. Und er hat dich gerne. Du bist ein bisschen seltsam, aber du bist ein netter Typ und ich bin nur sicher, dass du ihn ganz tief in dir drin auch gerne hast. Bitte geb euch noch eine Chance. Du tust Maurice gut. Bitte, mach euch beiden das nicht kaputt nur weil du Angst hast. "
Irgendwas in ihrer kleinen Rede bewegte Michael. Maurice mochte ihn gerne. Klang schön, wenn es so direkt ausgesprochen wurde.
"Okay..." murmelte er leise und ließ sich von ihr die Einfahrt hoch und wieder in das Haus ziehen.
"Du bleibst hier stehen." bestimmte sie und ließ ihn um Flur los, um in alleine Maurice' Zimmer zu verschwinden. Michael ließ sie, er stand einfach in dem Flur und erinnerte sich aus einem unerklärlichen Grund an die Akzeptanz, die Maurice ihm immer entgegen gebracht hatte.
Er merkte kaum, wie die Tür sich nach ein paar Minuten wieder öffnete und das Mädchen zum ihm raus kam. Erst als sie ihm gegen die Schulter stieß, bemerkte er ihre Anwesenheit und die offene Tür.
"Versau es nicht." und schon war er wieder alleine in dem Flur vor der Zimmertür und sah hinein. Maurice saß auf dem Fensterbrett und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.
"Maurice?" Michael schloss zaghaft die Tür hinter sich und kam zu ihm.
"Ich glaube.... Ich glaube, wir müssen mal reden. Weißt du.... Komm her." Michael wusste nicht genau wieso, aber er umarmte Maurice vorsichtig, legte ihm den Kopf auf die Schulter. "Wollen wir uns vielleicht hinsetzen?"
Er hörte, wie Maurice heftig schluckte und dann den Kopf schüttelte. "Wenn du mir jetzt nicht endlich sagst, was hier los ist, dann kannst du wieder gehen." Das war es also gewesen, was Emily hier gemacht hatte. Michael verfluchte sie innerlich ein kleines bisschen.
"Weißt du.. Vor fünf Jahren hat das alles angefangen. Zuerst nur mein Vater und.. Jetzt auch ich." dieses Mal merkte er zumindest, dass das was er erzählte keinen Sinn ergab.
"Sagt dir 'letale familiäre Insomnie' etwas?" wie erwartet schüttelte Maurice den Kopf. "Man nennt es auch tödliche Schlaflosigkeit. Bei meinem Vater hat es mit Schlafproblemen angefangen.. Konnte nicht mehr ein schlafen oder durchschlafen... Sowas eben. Und dann... Dann hat es angefangen, dass er sich nicht mehr konzentrieren konnte. Hatte Probleme mit feinmotorischen Aufgaben und.. "
Er verstummte und wischte sich trotzig die Tränen weg. Nach all den Jahren tat es immer noch genauso weh wie am Tag der Diagnose. Vielleicht noch mehr.
"Und... Und.."
Michaels Tränen ließen Maurice erweichen. Zumindest legte er seine Arme um den anderen und hielt ihn sanft an sich gedrückt.
".... Mein Vater.... Irgendwann ist er zum Arzt. Und... Der hat das dann festgestellt. Stimmt etwas mit dem Thalamus nicht. Und... Es gibt keine Heilung. Ist unterschiedlich, wie lange man noch lebt, aber....in der Regel stirbt man innerhalb von zwei Jahren. Mein Vater.... Mein Vater ist dann auch.... Naja, er ist dann... "
Michaels Stimme versagte. Er kuschelte sich nur noch fester an Maurice und weinte in dessen Shirt.
"Er ist gestorben, nicht wahr?" Maurice' Finger lagen in Michaels Haaren, der größere zerzauste vorsichtig die dunklen Haare, entwirrte sie ein bisschen.
"Ja." nach all den Jahren konnte Michael es noch immer nicht aussprechen. Aber das war okay, weil Maurice für ihn da war. Und jetzt, wo der Anfang gemacht war, fühlte er sich leichter als zu vor. Das machte das Weiter reden fast schon angenehm.
"Ich.. Ein paar Monate nachdem es passiert ist... Ging es dann bei mir los. Mir hat zuerst niemand geglaubt, weil man das erst mit etwa vierzig oder so bekommen kann und ich erst vierzehn war, aber.... Es wurde dann ziemlich schnell so heftig, dass... Naja. War offensichtlich, dass da etwas nicht stimmt. Bei mir.. Ist das ganze wohl irgendwie mutiert. Die Ärzte... Man hat keinen Scheißplan was mit mir los ist! Ständig wird an mir rum geforscht und man hat immer noch keine Idee, warum ich es so früh bekommen habe und warum es so... So anders ist!"
Michael schnappte nach Luft und krallte sich in Maurice' Shirt. Der blonde ließ ihn einfach machen, er drängte ihn nicht weiter, sondern war einfach nur da, was es Michael unendlich viel erleichterte.
So konnte er Minuten später auch weiter reden.
"Ich... Ich hab Probleme in der Motorik. Schreiben ist schwer. Türen aufschließen, Schuhe binden, kleine Sachen greifen. Sowas alles. Und... Wird auch immer schlimmer. Hab Probleme mich zu konzentrieren. Zuhören ist schwer, nachdenken auch... Ich.. Ich halluziniere. Manchmal... Manchmal sehe oder höre ich Dinge, die nicht da sind. Und... Ich kann nicht mehr einordnen, was real ist und was nicht. Das... Naja. Außerdem... Ich Kipp manchmal einfach um. Man weiß noch nicht genau warum... Dachte eigentlich auch, ich hätte das hinter mir, aber... Wohl nicht. Vor... Vor ein paar Tagen habe ich festgestellt, dass ich nicht mehr lesen kann. Und... Seitdem wird es immer schlimmer. "
Mehr wollte Michael nicht sagen. Er konnte auch nicht. Der brünette wusste ganzem genau, dass er es nicht schaffen würde, Maurice zu sagen, dass sein Vater zwei Wochen vor seinem Tod das Lesen ebenfalls nicht mehr hinbekommen hatte. Nicht einmal seine Mutter wusste das.
Einige Minuten lang war es ganz still, dann fragte Maurice etwas.
"Und... Woran stirbt man dann schlussendlich?" Eine gute Frage. Michael war sich nicht sicher, ob er das überhaupt schon erzählt hatte.
"Man kann entweder an einem Virus oder einfach plötzlich sterben, aber es kann auch zu... Ich glaube es ist eine Art Koma. Ein Teil des Gehirns fällt aus und dann ist man wie im Wachkoma... Naja. In Anbetracht der Tatsache, dass ich keine Müdigkeit fühle und nicht schlafe.... Man vermutet, dass ich einfach einschlafen werde. Aber.. Steht in den Sternen. "
Michael war von der Kälte, mit der er das sagte, ziemlich überrascht. Wieder einmal konnte er feststellen, dass er sich mit dem Gedanken zu sterben voll und ganz abgefunden hatte.
"Na los... Frag schon. Ich seh doch, dass es dir auf der Zunge brennt."
Da war wieder diese seltsame Ruhe. Es hatte... Gut getan, mit Maurice darüber zu sprechen.
"Wie... Wie lange hast du noch?" Michael hob die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächeln. "Ich bin seit sieben Monaten tot, Maurice."
~
"Schmeckt's dir?" Michael sah zu Maurice und nickte, musste sich dabei aber ein kleines Kichern verkneifen. Der warme Kakao, den sie von Maurice' Mutter gemacht bekommen hatten, hatte einen kleinen Milchbart über der vollen Oberlippe des blonden hinterlassen.
"Warte.. Ich helfe dir." murmelte er und wischte Maurice mit dem Daumen die Milch aus dem Gesicht. Der blonde wurde rot, strich sich die Haare aus dem Gesicht und murmelte ein leises 'Danke'.
"Weißt du... Danke, dass du es mir gesagt hast." Maurice stellte die leere Tasse beiseite und griff Michaels Hand. "Wenn du möchtest, dann kann ich dir ein bisschen helfen. Mit den Schulsachen zum Beispiel. Wenn du was lesen musst, kann ich das dir vor lesen."
Das wollte Maurice für ihn tun? Michael war ziemlich gerührt. "Danke... Das... Das ist lieb von dir. Du, dass ich einfach umgekippt bin, das tut mir Leid. War nicht böse gemeint."
Maurice lachte ein ziemlich helles Lachen und Michael stellte fest, dass die Stimmung seit seinem Geständnis irgendwie lockerer war. Jetzt wussten sie zumindest woran sie miteinander waren.
"Schon okay. Ich.. Bin ein bisschen ausgetickt. Das war nicht fair von mir. Sag mir nur, warum du Nachts so rum schleichst. Du kannst doch einfach bei dir im Zimmer bleiben und dir ne schöne Zeit tagsüber machen."
"Darf ich mit einem Zitat antworten?" auf Michaels Frage nickte Maurice nur und neigte sich näher zu Michael.
"Here in the dark we are safe from the judgment"
Kurz musste Maurice nachdenken, dann antwortete er.
"And now arm in arm, locked tight so no one gets in
The Heaven-sent say, 'Child you are Hellbent'
But Hell is not where we're going..."
"Hell's where we've been"
Sie sahen einander etwas verwirrt an, dann mussten sie lachen und Maurice griff auch noch Michaels andere Hand, neigte sich zu ihm.
"Ich hatte viel Zeit, um Lyrics zu lernen."
Und irgendwie wusste Michael ganz genau, dass Maurice verstanden hatte, dass Michael genauso viel Angst vor dem Tageslicht hatte, wie er selbst, auch wenn die Gründe andere waren.
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