Teil 12 - Maurice
"Maurice, jetzt komm doch wieder raus." fast wollte der Blonde dem Bitten seiner Mutter nachgeben, wollte raus kommen und sich umarmen lassen, doch er widerstand dem Drang.
Stattdessen lehnte er den Kopf gegen das Fenster, biss sich fest auf der Unterlippe herum und versuchte gar nicht mehr, die Tränen zurück zu halten.
Er hatte Michael einen sicheren Rückzugsort bieten wollen, er hatte ihm hier einen Ort an dem er willkommen war bieten wollen und das war gescheitert.
Maurice wusste, dass er Michael nicht lang genug kannte, um ihn zu beurteilen, doch er war sich ziemlich sicher, dass der andere verletzt war, dass er das erste bisschen Zutrauen des anderen verloren hatte.
"Maurice?" er antwortete nicht, drehte das Handy in seiner Hand hin und her. Er wusste, dass Michael lieber angerufen werden wollte, aber er wusste nicht, was er sagen sollte und deswegen rief er nicht an.
"Maurice, redest du nicht mehr mit mir?"
Der angesprochene blieb stumm. Normalerweise hätte er nie so reagiert, aber das hier war nichts, was noch als normal gelten konnte. Er hatte einen Freund gefunden.. Oder zumindest etwas ähnliches. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben jemanden kennengelernt, mit dem er sich eine Freundschaft vorstellen konnte, die auch in der Realität funktionierte und es fühlte sich an, als hätte seine Mutter ihm das kaputt gemacht.
Trotzig schniefend versuchte er sich die Tränen weg zu wischen, doch kaum hatte er die Hand zurück gezogen, kamen neue, große und salzige Tränen, die über seine Wangen liefen, die blasse Haut benässten.
"Ich hab ihn gesagt, dass er mit zu mir kann und hier willkommen ist." seine Stimme brach fast, als er ihr dann nach einigen Momenten der Stille doch antwortete.
"Und er hat mir vertraut. Er hat mir vertraut, Mama, dass er sich hier ausruhen kann und nicht geärgert wird. Ich will gar nicht wissen, wie er sich jetzt fühlt."
Noch ein Grund, Michael nicht anzurufen. Der andere wollte bestimmt nichts mehr mit ihm, Maurice, zu tun haben.
"Maurice..." er hörte sie auf der anderen Seite der Tür Seufzen. "Du kennst ihn doch kaum. Du kannst doch nicht einfach nachts jemanden mitbringen, von dem du nicht mehr als den Vornamen und die Schule auf die er geht kennst."
"Emily kennt ihn auch. Sie hat gesagt, er ist okay. Mama, ich... Ich verstehe ja, dass du es nicht so toll findest, dass ich plötzlich nachts mit einem Fremden da stehe, erst recht..." Maurice unterbrach sich kurz selbst und atmete tief durch. "Erst recht, weil mein Urteilsvermögen vielleicht nicht das beste ist, aber Emily kannst du doch vertrauen."
Kurz war es auf der anderen Seite der Tür still, dann folgte eine Antwort. "Wenn du möchtest, dann kannst du ihn fragen, ob er heute Mittag vorbei kommen möchte."
~
"Emily?" Das Mädchen griff nach Maurice' Hand und drückte sie sanft. "Beruhig dich, Brüderchen." sie lächelte hoch zu ihm. "Ich helf dir, versprochen. Wir schaffen das schon, so schlimm kann es doch gar nicht werden."
Die Türklingel unterbrach ihre Aufmunterungsversuche. "Gehst du aufmachen?" bat Maurice, streichelte dabei Shadow mit der freien Hand. Er hatte Milo den Kater suchen geschickt und dann den Vormittag über drin gehalten, damit er auch sicher da war, wenn Michael kam. Er hatte immerhin versprochen, dass Michael die Katze streicheln konnte und dann sollte sie auch da sein.
"Natürlich." Maurice sah ihr nach und knabberte sich auf der bereits blutig gebissenen Unterlippe herum. Jetzt kam die Aufregung so richtig. Er hatte noch nie Besuch gehabt, er wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte.
Am liebsten hätte er selbst die Tür geöffnet, doch von dieser hielt er sich tagsüber möglichst fern. Und so saß er in seinem Zimmer und wartete.
Vom Flur her konnte er Emilys helles Lachen hören, sie redete wie immer viel zu schnell, aber zumindest kittete sie die ganze Situation ein bisschen und Maurice wusste nicht, wie er das jemals wieder gut machen konnte.
Das leise Klacken der Tür, als sie ins Schloss fiel, war für den Blonden das Startsignal. Mit seinem Kater auf dem Arm kam er aus dem Zimmer heraus in den Flur und stellte fest, dass der Brünette tatsächlich hergekommen war.
Jetzt erst fiel ihm auf, dass er insgeheim doch etwas daran gezweifelt hatte. Natürlich, bei dem gemeinsamen Telefonat hatte Michael gesagt, dass er kommen würde, doch es jetzt zu sehen war etwas ganz anderes.
"Hi." stellte Maurice wenig geistreich fest und kam zu Michael, um ihm die Katze zu geben. Michael stand dort einfach, wirkte ein bisschen überfordert und hielt den Kater auf dem Arm, der sich das Ganze, Gott sei Dank, ziemlich willig gefallen ließ.
"Hi?" gab Michael nach einigen Momente zurück und sah sich um. Der unruhige Blick huschte durch den Flur mit den vielen Bildern, er sah überall hin außer zu Maurice. Dieser kratzte sich mit einem verlegenen Lächeln am Hinterkopf und sah Hilfe suchend zu Emily. Das Mädchen machte eine für Maurice ziemlich eindeutige Kopfbewegung und verdrehte mit einem Lächeln die Augen.
"Ich bin schon mal in der Küche und deck den Tisch, Jungs. Kommt ihr dann einfach nach, wenn ihr euch ein bisschen beruhigt habt, ja?"
Und so standen sie alleine da. Maurice sah zu, wie Michael sich umsah und beschloss dann, daß peinliche Schweigen zu brechen." Bist.. Äh... Bist du gut her gekommen? "
Als Antwort darauf nickte Michael zunächst nur, fügte dann aber doch noch ein paar Worte hinzu. "Ja. Danke, dass... Dass du mir den Weg beschrieben hast."
Maurice lächelte noch mehr. "Kein Ding." er hatte sich Michaels Adresse sagen lassen und hatte dann über Google Maps die beste Route herausgesucht, um diese dann heraus zu schreiben und als Sprachnachricht zu Michael zu schicken.
Natürlich wunderte er sich, warum es so umständlich hatte sein müssen, aber er hinterfragte es nicht. Michael akzeptierte ihn mit allem was das bedeutete und deswegen wollte er Michael auch so akzeptieren wie dieser war.
"Willst du nicht..?" Maurice deutete auf die Kopfhörer, die Michael wie all die Male zu vor auch trug. "Wie? Ach... Klar." Maurice sah zu, wie Michael Shadow auf den Boden setzte und dann die Kopfhörer abnahm, sie unsicher in den Händen drehte.
"Wohin...?" Maurice nahm sie ihm vorsichtig aus den Händen, als er Michaels Hilflosigkeit bemerkte und legte sie auf die niedrige Kommode, bevor er dann seinerseits die Katze hochhob und ein bisschen streichelte. Nach wenigen Momenten trat Michael dann auch näher und legte ebenfalls eine Hand in das weiche Fell.
So streichelte sie das schwarze Tier einige Minuten lang, bis Michael wieder unvermittelt etwas feststellte. "Du hast dir die Lippe zerbissen."
Maurice zuckte ein bisschen zusammen und sah zu Michael, der ihn wieder einmal mit den hellen Augen fixierte, ihn wohl schon seit einigen Momenten anstarrte. Irgendwie störte es ihn kaum, er wusste ja, dass Michael manchmal einfach starrte, Emily war das auch aufgefallen.
"Ja, das hab ich." der blonde beschloss, dass er das hier ziemlich albern fand. Sie kannten sich schon und das hier musste keinem von ihnen unangenehm sein. Mit einem schüchternen Lächeln trat er noch näher zu Michael hin und umarmte ihn, darauf bedacht, das Kätzchen nicht zu zerdrücken.
Michael versteifte sich zwar ein bisschen, ließ die Nähe aber zu, zumindest einige Momente lang, bevor er dann zurück wich und unsicher auf die Tür deutete, hinter der Emily verschwunden war.
"Wollen wir..?"
~
"Darf ich dich noch ein Stück begleiten?" Maurice sah zu, wie Michael sich seine Schuhe anzog und nickte. "Danke." sofort kniete Maurice sich runter und zog sich ebenfalls seine Schuhe an.
Es war spät geworden, draußen war es schon dunkel. Und der blonde wollte Michael gerne noch ein Stück draußen begleiten oder sogar bis ganz nach Hause bringen.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Michaels Finger hektisch mit den offenen Schnürsenkeln spielten, er beobachtete, wie der andere versuchte die Bänder zu fassen und dann zu einer Schleife zu binden und er sah auch, wie Michael hektischer wurde, als es nicht funktionierte.
"Hey.." Vorsichtig berührte er Michael an der Schulter, weil er ahnte, dass der andere gerade mal wieder in einem Zustand war, in dem er auf reines Ansprechen nicht reagierte.
Erst als Michael zu ihm sah, griff Maurice sanft seine Hände, hielt und drückte sie kurz. "Lass mich das für dich machen, ja?" er löste den Stoff aus den verspannten Fingern und verknotete ihn langsam zu einer Schleife.
"So?" als Michael nickte, glaubte Maurice die Tränen in den blauen Augen glänzen zu sehen, aber er sagte nichts dazu. Stattdessen nahm er die Kopfhörer von der Kommode und setzte sie Michael vorsichtig auf, zupfte die darunter liegenden Haare zu recht, bevor er sich bei ihm unter hakte und ihn mit sich raus zog.
~
"Leise sein, ja? Meine Mutter schläft." sie standen gemeinsam in einem kleinen Garten vor einem kleinen Häuschen, vor einem Fenster. "Ja?"
Maurice sah argwöhnisch zu, wie Michael sich an dem Fensterbrett hochzog und das Fenster aufstieß, um hinein zu klettern. Ob das wirklich richtig so war?
Doch er kam nicht mehr dazu, es weiter zu hinterfragen, weil sich ihm eine Hand entgegen streckte. "Kommst du?" Maurice nickte nur und griff die Hand, um sich von Michael rein helfen zu lassen.
Und dann war er zum ersten Mal in Michaels Zimmer. Zuerst konnte er nichts sehen, doch dann ging das Licht an und er konnte sich umsehen. Es war ein kleines Zimmer, mit einem großen Bett, das so wirkte, als wäre es seit Wochen nicht mehr angefasst worden, auf dem Kissen konnte er Staub sehen.
An der gegenüberliegenden Wand war ein Regal voller Bücher und CDs, welches Maurice' Aufmerksamkeit fesselte. Er war noch nie bei jemand anders zuhause gewesen und so hatte er sich seinen ersten Besuch ganz sicher nicht vorgestellt, nachts heimlich wo einzusteigen war definitiv kein Teil der Vorstellung gewesen, doch auf eine seltsame Art und Weise fühlte er sich hier wohl.
Maurice spürte Michaels Blick auf sich, als er zu dem Regal ging und sich die Bücher ansah. Viel von Fitzek und Strobel, ein paar Thriller von denen er wusste, dass sein Vater sie gelesen hatte und von denen er wusste, dass sie ihm selbst zu gruselig waren, doch da waren auch andere Werke. Etwas von Kant, natürlich auch Darwin und das überraschte ihn weniger als erwartet. Es passte zu Michael, sich mit sowas zu beschäftigen. Maurice lächelte und kam zu Michael getreten, der immer noch am Lichtschalter stand.
"Schön hast du es hier." sagte er und griff wieder nach Michaels Hand, um ihm ein bisschen mehr Sicherheit zu geben. "Wollen wir uns ein bisschen hinsetzen?" mit einem Gähnen zog er Michael mit sich zu dessen Bett uns setzte sich darauf.
Maurice konnte sehen, wie sich alles in Michael gegen dieses Bett wehrte, wie dieser kurz mit sich kämpfte, bevor er sich auch hinsetzte.
"Du interessierst Dich also für Philosophie?" fragte er und musste erneut gähnen. Jetzt erst merkte er so richtig, dass er heute nicht geschlafen hatte.
"Ja, mach ich. Bist du müde?" Maurice musste etwas beschämt nicken. "Sorry. Ich.. Ich will dich nicht langweilen oder so.." er sah zu Michael, doch dieser bedachte ihn nur mit einem langen Blick. "Mach die Augen ein bisschen zu."
Maurice musste lächeln und neigte sich kurz zu ihm, um ihm dankbar ein kleines Küsschen auf die Wange zu hauchen. "Danke, Michi..." murmelte er und legte den Kopf an die Schulter seines Freundes.
"Michi?" fragte Michael etwas argwöhnisch, doch Maurice lächelte nur noch mehr und nickte ein bisschen, während er die Füße auf die Matratze hoch zog und sich noch mehr an den anderen kuschelte. "Gute Nacht..."
"Gute Nacht, Maurice. Schlaf gut... Ruh dich ein bisschen aus."
~
Stille. Stille und ein ungewohnter Geruch. Verwirrt atmete Maurice tief ein und bekam sofort Staub in die Nase, was ihn Niesen ließ.
Staub? Nein, in seinem Zimmer war es nicht staubig. Maurice konnte das nicht leiden und putzte deswegen spätestens alle drei Tage.
Erst als er langsam blinzelte, erinnerte er sich an das was passiert war. Er war bei Michael zu Hause. In dessen Bett. Und er lag mit dem Kopf auf dem Kissen und war sogar ordentlich zu gedeckt. Maurice war sich ziemlich sicher, dass das Michael gewesen war und er kam nicht umhin, das ziemlich süß von dem anderen zu finden.
Apropos Michael, wo war der eigentlich? Maurice musste feststellen, dass er ganz alleine in dem Bett lag. Irritiert setzte er sich auf und tastete auf dem Nachttisch nach der Lampe. Kaum dass er sie angemacht hatte, fiel sein Blick auf die Uhr.
Es war kurz nach drei. Drei Uhr Nachmittags. Verdammt! Verdammte Scheiße, er war nicht Zuhause, er war hier in Gefahr!
Die Panik lähmte Maurice für einige Momente, er klammerte sich nur Panisch in die Decke... Und stellte dann fest, dass Michael mitgedacht hatte. Das Fenster war mit einer Decke provisorisch abgehangen.
Maurice musste unwillkürlich lächeln. Michael würde das nicht hören wollen, aber Maurice war sich ziemlich sicher, dass der andere tief in seinem Inneren ein guter Mensch war.
Erst nach einigen weiteren Momenten erinnerte Maurice sich daran, dass seine Familie sich vielleicht Sorgen um ihn machte. Wo war sein Handy? Wo war sein verdammte Handy?
Schnell schwang er die Beine aus dem Bett und wollte sich auf die Suche nach dem kleinen Gerät machen, als es an die Tür klopfte. "Maurice?" fragte eine freundliche Frauenstimme. "Darf ich rein kommen?"
"Ja?" Maurice' Stimme war noch höher als sonst, doch die kurze Sorge legte sich, als sich eine Frau, die vom Aussehen her definitiv Michaels Mutter war, rein kam.
"Ich bin Marianne, Michas Mutter." Micha. Ja, das war zweifelsohne eine typischer Abkürzung als Michi und es erklärte auch Michaels Verwirrung. Eine leichte Röte legte sich auf Maurice' Wange, er musste sich Zuhause dringend mit Emily unterhalten.
"Michael hat mir erzählt, dass du eingeschlafen bist und jetzt nicht mehr nach Hause kommst. Wir haben heute Morgen alle Fenster auf dem Weg zum Bad abgehängt, wenn du willst kann ich dir zeigen, wo du lang musst, deine Mutter habe ich auch angerufen, keine Sorge. Und wenn du mir sagst, was du nicht verträgst oder isst, dann koch ich dir was. Micha kommt auch bald aus der Schule. "
Etwas überfordert nickte Maurice nur und klammerte sich etwas an die Decke, bevor er dann vorsichtig aufstand.
"Dankeschön. Ich... Ich ess eigentlich alles. Hab keine Unverträglichkeit oder so, aber.. Ich esse eigentlich kein Fleisch. Wenn das ein Problem ist, dann... Dann würd ich natürlich auch das Essen, aber.. Naja."
Maurice verstummte, als er merkte, dass er nur vor sich hinstammelte. Aber Marianne lächelte nur." Nein, das ist kein Problem. Michael isst auch kein Fleisch, er kommt da nach seinem Vater. "
Ein Motor unterbrach sie, dazu wieder die laute Musik, die Maurice schon kannte.
"When it rains it pours
Like summer storms
The skies as gray as leaves
The rivers flood the banks
And spill into the streets
But the people laughed
And swore that they'd restore
The city piece by piece"
Und wenige Momente später kam Michael dann auch schon in das Zimmer gestapft.
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