O1: MIDNIGHT RIDER
O1:
MIDNIGHT RIDER
,,Helen, du hängst heute hinterher. Drei Bestellungen warten schon länger als sie sollten", tadelte Chris mich, während er Cocktails mixte oder Martini ausschenkte. Gehetzt sah ich ihn an, es roch beinahe schon erdrückend nach Tabak, Alkohol und Schweiß. Nach einem Jahr sollte ich eigentlich an diesen Geruch gewöhnt sein, war es aber trotzdem immer noch nicht, während ich mich hinter den Tresen schob, mir eine rote Haarsträhne aus der Stirn pustete und Chris skeptischem Blick begegnete.
,,Du bist doch fit, oder?", fragte er mich, meine Schicht hatte vor zwei Stunden angefangen und seit einer lief der Laden beinahe über. Wir hatten heute Abend Live-Musik und ich hatte das Gefühl halb Perth Amboy hielt sich gerade in der Bar auf und lauschte Richie Sambora, dem eigentlichen Gitarristen von Bon Jovi.
Natürlich wusste ich, wer er war. Er hatte vor hier einige Abende hintereinander aufzutreten, nachdem Bon Jovi nach einer langen, ermüdenden Tour eine Pause einlegte. Richie schien nicht genug von der Musik oder den Auftritten zu haben, sonst wäre er nicht innerhalb dieser Pause hier... In einer der bestlaufendsten Bar in New Jersey.
Sie galt als Geheimtipp unter eingefleischten Rock'n'Roll fans - und dass niemand geringeres als der King of Swing nun hier spielte, schien sich schnell verbreitet zu haben.
Ich hatte jedoch nicht weiter Kopf, mich mit der Berühmtheit auf unserer Bühne auseinander zu setzen, sondern war viel mehr damit beschäftigt, Bestellungen aufzunehmen, Bestellungen auszuteilen und dabei die Zähne zusammen zu beißen, weil meine gesamte linke Körperhälfte schmerzte und brannte.
Jack, mein Verlobter, hatte letzte Nacht ziemlich viel getrunken und heute morgen war er nicht mehr er selbst gewesen, sondern nur noch dieses aggressive, unzufriedene Monster, das ich auch noch heiraten würde... Er hatte mich beschimpft und ich dagegen an geredet, hatte versucht ihm zu erklären, dass ich heute Abend arbeiten musste und es spät werden würde... Um das zu verhindern, hatte er mich das Treppenhaus runter gestoßen.
Doch selbst jetzt war ich hier - und erarbeitete hart das Geld, das ich dann für seinen Alkohol ausgab.
,,Ich bin fit", gab ich zurück, das Tablett auf einem Arm balancierend und mit gerunzelter Stirn betrachtete Chris mich einen Moment - er und ich waren heute abend alleine. Er schüttete die Drinks aus, ich verteilte sie. Eigentlich nicht weiter schwer... Wenn uns wegen Richie Sambora nicht die Bude eingerannt werden würde.
Die Türsteher ließen mittlerweile niemand weiteren mehr rein, auch aus Sicherheitsgründen was den Musiker auf der kleinen Bühne anbelangte.
,,Es ist schön wieder hier zu sein, New Jersey!", rief Richie breit grinsend ins Mikrofon und die Frauen, die sich an den Tischen ganz nahe der Bühne tummelten, kreischten und jubelten, in so engen und kurzen Tops, dass es beinahe schon aussah, als wären sie ihnen eingegangen.
,,Zweimal Whiskey...", nuschelte ich und schob zwei Männern an der Theke ihre Gläser zu, teilte noch vier weitere Martinis und zwei Bier aus, ehe ich mich keuchend wieder hinter den Tresen betrat und mit einem Seufzen an die Wand lehnte. Ich schwitzte, die Luft hier drin war heiß und stickig.
Chris reichte mir eine Flasche Bier. ,,Siehst aus, als könntest du die gebrauchen", meinte er, ohne zu hinterfragen, weshalb ich schon vollkommen fertig an die Arbeit gekommen war. Ich brauchte diesen Job, ich brauchte ihn wirklich, wenn ich nicht bald mit einem alkoholabhängigen Verlobten auf der Straße sitzen wollte. Dankend nahm ich die Flasche entgegen.
Es war ein ruhigerer Moment, in welchem ich jeden Barbesucher versorgt und damit einen Moment zum Durchatmen hatte. Unser Stargast hatte eine Pause eingelegt und war verschwunden, Stimmengewirr hallte von den Wänden wieder.
,,Geh ruhig mal frische Luft schnappen, vielleicht geht's dir hinterher wieder besser", meinte Chris zwinkernd und ich nickte, nahm meine Schürze ab und feurte sie erleichtert auf den Tresen, ehe ich mich zum Hinterausgang des Personals schob und aufatmete, als ich die Tür aufdrückte. Die kühle Nachtluft schlug mir entgegen, es nieselte und die feinen Tropfen kühlten meine erhitzte Haut.
Ich ließ mich auf einen Mauervorsprung sinken, hatte nicht bemerkt, dass ich nicht alleine hier draußen war - und zuckte zusammen, als ich ein leises Seufzen hörte. Erschrocken erhob ich mich wieder, als ich Richie Sambora nur wenige Meter entfernt an der Mauerseite gegenüber lehnen sah.
In seiner engen Jeans, dem tief ausgeschnitten Tanktop, das teils mehr zeigte, als es sollte und damit völlige Hysterie bei den Fans auslöste und der schwarzen Lederjacke, die ihn auf eine besondere Art und Weise gefährlich aussehen ließ.
,,Oh entschuldige... Ich geh wieder rein, ich wollte dich nicht stören...", nuschelte ich hastig - stieß ich unserem berühmten Besuch noch unangenehm auf, konnte ich meine Sachen packen und meine hässliche Barschürze gleich dort liegen lassen, wo sie war.
Richie lachte heiser. ,,Nein, bleib ruhig. Ich war nur gerade erleichtert, dass du offensichtlich kein Groupie bist", meinte er zwinkernd und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er sah von nahem noch besser aus, als auf der Bühne - im Halbdunkel konnte ich wage den Kajal ausmachen, den er um die Augen trug, welche dadurch noch größer und noch dunkler wirkten. Wie Zartbitterschokolade.
Ich leckte mir schluckend über die Lippen, ließ mich langsam wieder zurück auf den Vorsprung sinken. Noch immer nieselte es, die Luft war feucht und kühl und sorgte dafür, dass sich meine sorgfältig geglätteten Haare zu wellen zu begannen, zurück in ihren wild lockigen Ursprung findend.
Richie sah wieder gen Himmel und ich blickte auf meine Knie, bemüht ihn nicht zu beobachten. Meine blasse Haut wurde von einer feinen Strumpfhose und darüber gestreiften Kniestrümpfen bedeckt, die ich nur trug, um in dieser Bar nicht wie ein bunter Vogel aufzufallen... Für gewöhnlich war mein Naturell anders, mädchenhafter...
,,Arbeitest du hier?", fragte Richie, dem das Schweigen fast schon unangenehm zu sein schien. Ich biss mir auf die Unterlippe, ehe ich nickte. ,,Ich bin Kellnerin", nuschelte ich und rieb meine Hände aneinander. Sie zitterten durch all den Stress und ich wurde nur noch nervöser unter der Musterung, welcher seine braune Augen mich unterzogen.
,,Willst du mal? Beruhigt die Nerven", meinte er und ich sah erstaunt auf seine Zigarette. Richie Sambora bot mir gerade einen Zug an? Ich erhob mich langsam, trat auf ihn zu - Aftershave vermischt mit Schweiß, Nikotin und Alkohol stieg mir in die Nase. Es war das erste Mal, dass mir dieser Geruch fast schon gefiel.
,,Danke...", hauchte ich leise und nahm die Zigarette entgegen. Ich hatte aufgehört zu rauchen, vor weniger als zwei Wochen. Abrupt und so plötzlich, dass mich der Entzug teilweise immer noch wahnsinnig machte - ich hatte einfach nicht das Geld für meine eigene Sucht, ich musste die meines Verlobten im Griff behalten, bevor er mich noch umbrachte.
,,Kein Problem", zwinkerte Richie, als ich ihm die Zigarette wieder reichte. Er grinste mich an. Er hatte ein schönes Lächeln, auch wenn es nicht hundertprozentig seine Augen erreichte... Jetzt, wo ich direkt vor ihm stand und ihm so nahe war, sah ich auch erst, wie müde er doch aussah.
Ich sah unsicher auf meine Schuhe, um ihn nicht weiter anzustarren. Er war weltberühmt, jedes zweite Mädchen vergötterte ihn - oder Bon Jovi. Es war irritierend, jetzt einfach bloß neben ihm zu stehen und sich seine Zigarette mit ihm zu teilen, die er nun auf den Boden schnipste und mit der Sohle seines Western-Stiefels ausdrückte.
,,War nett, mal kein Autogramm geben zu müssen", zwinkerte er lachend, als ich gerade in Erwägung zog, ihn um eins zu bitten. Unweigerlich zuckten meine Mundwinkel und ich kicherte leise, was meine Seite scharf stechen und mich nach Luft schnappen ließ.
Richie, der sich schon halb abgewandt hatte, sah mich wieder an. Seine dunklen Augen betrachteten mich genau, im Licht der Straßenlaterne links von uns wirkte seine sonnengebräunte Haut makellos. ,,Geht's dir gut?", fragte er mich ohne Umschweife, offen, als würde er mich schon ewig kennen... Dabei hatte ich vor wenigen Minuten seine Auszeit gestört. Gott sei Dank war ich wirklich kein Groupie...
Es musste anstrengend sein, wenn einem alle zweihundert Meter ein kreischendes Mädchen an den Hals sprang und anfing zu heulen, als sei Richie Sambora das achte Weltwunder.
Ich schlang die Arme um mich. ,,Ich denke schon", gab ich mit wackligem Lächeln zurück und er rückte seinen schwarzen, silbern verzierten Westernhut zurecht, nickte mir zu und zog zwei Zigaretten aus der Tasche seiner Lederjacke.
,,Ich denke nicht", meinte er schief grinsend, legte mir die zwei Zigaretten in die Handfläche und mich durchfuhr ein Stromstoß, als seine Hand einen Moment die Meine berührte. Ich blinzelte, mir wurde heiß, dabei war der Nieselregen schon deutlich stärker geworden und die Mitternachtskälte sollte mir eigentlich Gänsehaut verpassen...
Richie zog die schwere Eisentür auf, sah noch einmal zurück und in seinem Blick lag etwas Undefinierbares, dann trat er ein und das Geschrei nahm wieder zu. Mit einem leisen Knall flog die Tür hinter ihm ins Schloss - und ich blieb zurück, in seichtem Mitternachtsregen und mit zwei Zigaretten, die ich nun sicherlich für mehrere hundert Dollar an irgendeinen verrückten Groupie verticken könnte...
Hatte ich mir den Kopf an der Mauer gestoßen - oder hatte gerade wirklich Richie Sambora mit mir seine Zigaretten geteilt?
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