Lektion 9 (Part 2)
Langsam und ehrfürchtig schritt Pamina auf die Tür zu legte ihre Hand auf die Klinke. Was befand sich wohl dahinter?
"Nun mach schon auf", drängelte ich, erntete dafür aber einen warnenden Blick. Sie schien leicht unsicher "Hier bin ich schon ewig nicht mehr gewesen", hörte ich Pamina murmeln.
"Seit Du hier ausgezogen bist?"
"Ja, und auch davor schon länger nicht mehr."
In diesem Moment drückte Pamina entschlossen die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Ich hatte wieder ein Déjà-Vu:
Ein Schwall kalter, frischer Nachtluft drang mir entgegen. Augenblicklich sog ich gierig den Sauerstoff in meine Lungen. Ich schloss die Tür hinter mir wieder und sah mich um:
Eine Dachterrasse oder so etwas in der Art. Jedenfalls war da am Ende der großen Plattform, auf der ich stand, ein Geländer und man konnte die Skyline unserer Stadt bei Nacht als Panorama sehen.
Alles schien mir wie bei unserem ersten Zusammentreffen. Denn hinter dem dicken Holz der Tür befand sich ebenfalls eine offene Fläche. Nur war diese um einiges kleiner als die Dachterrasse des Clubs.
Ich war froh, statt der modrigen, schweren Treppenhausluft wieder frischen Sauerstoff atmen zu können und trat hinter Pamina ins Freie. Dieses Mal fiel die Tür zu, ohne dass ich im Weg stand.
"Gut", begann Pamina. "Beginnen wir mit der heutigen Lektion. Komm her."
Sie machte eine Armbewegung, die zeigte, dass ich näher treten sollte. Als ich dies getan hatte, verschränkte Pamina vorsichtig meine Arme hinter dem Rücken und hielt sie fest.
"Augen zu.", befahl sie dann. Ich tat, wie mir geheißen und langsam, aber sicher schob Pamina mich vorwärts.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinlief, aber irgendwann musste der Boden der Dachterasse doch ein Ende haben!
Genau in diesem Moment blieben wir stehen. Pamina stand ganz dicht hinter mir, ich konnte ihren Atem auf an meinem Nacken spüren. Eine Gänsehaut breitete sich an der Stelle aus.
"Augen auf", vernahm ich ihre ruhige Stimme hinter mir.
Blitzschnell schlug ich die Lieder auf, da ich es unangenehm fand, nichts zu sehen
-und bekam fast einen Herzinfarkt.
Denn ich blickte in die Tiefe.
In eine gähnende Tiefe von mindestens fünfzig Metern!
Es ging direkt vor mir einfach senkrecht nach unten, ich stand mit den Füßen komplett am Abgrund.
Das Adrenalin schoss in Lichtgeschwindigkeit durch meine Adern und ich stieß einen erschrockenen Schrei aus.
Im selben Moment wurde ich an meinen Armen hinten zurückgezogen. Ich taumelte einige Meter umher, bis ich mein Gleichgewicht wiederfand.
Dann musste ich erst einmal realisieren, dass ich jetzt meterweise Boden um mich herum hatte und nicht bei jedem noch so kleinen Schritt abstürzen konnte.
Ich war in Sicherheit.
Schließlich drehte ich mich wutentbrannt zu Pamina um. Was fiel ihr ein, mich einfach so an den Rand der Dachterrasse zu stellen?!
"Sag mal, bist Du komplett durchgeknallt?!", zischte ich. "Was war das denn?! Hätte ich da vorne vor Schreck einen Schritt nach vorne gemacht, was wäre dann gewesen?!"
"Jetzt beruhig Dich mal", antwortete Pamina gefasst. Ihr schien meine Wut überhaupt nichts auszumachen! "Ich hab Dich nicht umsonst an den Händen festgehalten. Du hättest gar nicht fallen können."
In mir begann der Zorn zu brodeln und Blasen zu schlagen, wie flüssige Lava. Wie hatte sie bloß so leichtsinnig sein können?! Und überhaupt: was sollte das ganze eigentlich? Gab es irgendeinen Grund dafür?
"Warum hast Du das überhaupt gemacht?! Soll das eine deiner Lektionen sein?! Ein verdammter Schritt und ich hätte tot sein können und überhaupt..."
Plötzlich begann Pamina zu lächeln. Ich hielt verwirrt inne und beobachtete, wie sich ihre Mundwinkel immer weiter in die Höhe zogen. "Genau!", rief sie. "Ein Schritt von Dir und Du hättest fallen können. Du bist Dir also bewusst, wie schnell Dein Leben vorbei sein kann. Es ist wahnsinnig wertvoll, das wollte ich Dir nur nochmal als kleinen "Reminder" in Erinnerung bringen."
"Ich fasse es nicht."
"Bist Du jetzt wieder eine Woche lang beleidigt? So wie bei Lektion eins?"
"Ja."
"Gut, dann lass uns aber wenigstens noch ein Polaroid-Bild machen, dann kannst Du in Ruhe schmollen."
Mein Mund klappte auf, ich wollte eigentlich noch etwas erwidern, aber jetzt wusste ich nicht mehr, was ich sagen konnte. Sollte das hier alles ein Witz sein?! Ich kam nicht mehr mit.
Im selben Moment hob Pamina die Polaroid-Kamera vom Boden auf und richtete sie direkt auf mich. Es machte Klick und langsam schob sich ein Bildstreifen au dem Gehäuse. Ich ließ alles über mich ergehen, denn meine Gedanken waren bei Lektion eins hängen geblieben. Damals hatte ich Pamina ebenfalls angeschrien, was der Sinn der Aktion gewesen war, sich einfach vor mir zu verstecken und so zu tun, als hätte sie sich im Wald verlaufen. Und ich hatte sie als verrückt bezeichnet. Daraufhin grinste sie nur stolz und meinte "Ja, das stimmt".
Ich atmete tief ein- und aus. Ja: Pamina war komplett verrückt. Durch und durch. Wie sie so vor mir auf dem Boden kniete und mit Folienstift etwas auf das frische Polaroid-Bild schrieb und das auf einem Hausdach ohne Geländer, mitten in der Nacht- da wurde mir plötzlich klar, dass es keinen Sinn machte, wütend zu sein. Es war passiert, wie es passiert war und Pamina würde sich eh nicht ändern. Sie war, wie sie eben war. Da konnte ich noch so sehr auf sie einreden.
"Hier", Pamina richtete sich auf und übergab mir das Bild. Darunter stand: Das eigene Leben selbst in der Hand haben.
Und ich sah auf dem Bild aus, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, weswegen ich plötzlich einfach lachen musste.
Pamina mit mir.
Hilfe. Meine Gefühle waren heute eine einzige Achterbahn.
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