Über Freundschaft
Ich lehne mich mit dem Oberkörper ein Stück vor, stütze mich mit den Unterarmen aufs Geländer und atme tief durch. Mein Nacken fühlt sich verspannt an und ich dehne meine Wade leicht. Überhaupt habe ich das Gefühl, all meine Gliedmaßen sind verkrampft.
"Trink das", werde ich plötzlich unwirsch von der Seite aufgefordert. Hannes hält mir eine Flasche vor die Nase und ich will schon ablehnen, als mir das Etikett ins Auge springt.
"Rhabarber-Schorle?", frage ich.
"Er sagt, du bist auf Entzug." Ich schnaube.
"Auf Entzug", wiederhole ich angepisst und nehme Hannes die Rhabarber-Schorle ab. "Danke, aber für die Zukunft: Ich entscheide, wann ich trinke und wann nicht."
Hannes bietet mir schweigend was von seinem Scotch mit Eis an. Mein Blick klebt für einen kurzen Moment an seinem Glas. Ich könnte wirklich was Starkes vertragen, der Streit mit Tua vor der Tür war harter Tobak. Aber irgendwas sagt mir, dass die Sache längst noch nicht gegessen ist. Seine Aufregung wegen Jess kam mir so gekünstelt vor. Ich glaube, es geht vielleicht um etwas ganz anderes, ein noch größeres Problem, das er hat.
Meine Grübelei entgeht Hannes offenbar nicht. Er leert sein Glas auf Ex und ich wende mich kopfschüttelnd ab, beobachte wieder das geschäftige Treiben unter uns. Auf der erhöhten Galerie ist es im Vergleich zum Rest des Clubs noch entspannt. Man kann sich fast normal unterhalten. Der Boden klebt zwar unter den Füßen ... und, na ja: Auf die Stöhngeräusche der Frau, die anscheinend denkt, sie müsste wie ein Pornostar klingen, damit ihr Sexpartner oder ihre Sexpartnerin auch checkt, dass sie Spaß hat, könnte ich wohl verzichten. Trotzdem, so alles in allem hat man hier oben seine Ruhe.
"Na, wieder eifersüchtig auf die Weiber, mit denen er früher mal das Bett geteilt hat?", leitet Hannes ein Gespräch ein, das ich eigentlich gar nicht mit ihm führen möchte. Dementsprechend werfe ich ihm einen düsteren Seitenblick zu.
"Du könntest zur Abwechslung doch mal testen, wie ich reagiere, wenn man nett zu mir ist", übergehe ich seine Frage. Er setzt ein Grinsen auf.
"Das überlass ich Momo. Du bist viel interessanter, wenn du sauer bist."
"Herzlichen Glückwunsch, dann bist du ja genau zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht", murmle ich und trinke einen weiteren Schluck Rhabarber-Schorle.
"Ich sag dir was, Doçura." Bei dem portugiesischen Wort für 'Süße' stellen sich die Härchen auf meinen Armen auf. Hat Tua mich nicht vor zwei Tagen erst so genannt?"Du willst diesen Beziehungs-Kack mit ihm also durchziehen. Kann ich aus deiner Perspektive irgendwo nachvollziehen, anscheinend stehst du auf den mysteriösen, depressiven Typ." Ich kneife skeptisch die Augen zusammen, warte aber ab, was er mir mitteilen möchte. "Aber, weißt du -" Hannes bricht ab und zieht einen vorgedrehten Joint aus der Bauchtasche seines Hoodies. "Keiner kann ihm helfen. Er will sich nicht helfen lassen, und ich glaube, du bist einfach zu naiv, um das wirklich zu kapieren, Iara."
"Doch, will er", widerspreche ich lapidar. "Er kümmert sich um einen Therapieplatz." Ich mustere ihn schief. "Wundert mich aber nicht, dass er niemandem was davon erzählt hat." Hannes sieht mich erst prüfend an, dann wandern seine Mundwinkel langsam nach oben.
"Du glaubst echt, dass er uns das nicht anvertrauen würde?" Stumm sehe ich zu ihm auf. Er fasst sich mit einer Hand an den Hinterkopf, schaut erst zur Decke und mir dann wieder ins Gesicht. "Er war am Montag beim Arzt, wegen der Überweisung. Danach war er in der JVA bei mir." Hannes tritt einen Schritt auf mich zu, aber ich weiche nicht zurück, lasse mich nicht einschüchtern von seinem eindringlichen Blick. "Soll ich dir sagen, was er dem Arzt erzählt hat?" Ich schlucke bloß, schweige mit eiserner Miene. "Dass sein Vater gestorben ist und ihm das zusetzt. Und dass er sich theoretisch auch mal mit jemandem drüber unterhalten würde, der 'ne psychotherapeutische Ausbildung absolviert hat. Er hat von leichten Depressionen gesprochen, die auch schon mal schlimmer waren, und dass seine Freundin ihm aktuell eine Riesenstütze ist. Damit hat er tatsächlich dich gemeint, ich hab extra nochmal nachgehakt, ob ich das richtig verstanden habe." Während ich versuche, diese Informationen zu verarbeiten, verschwimmt die Welt um mich herum, alles wird unscharf. Stimmt es, was Hannes sagt, oder ist das eine Strategie, die nur darauf abzielt, uns auseinanderzubringen? Ich kann nicht abschätzen, ob ich ihm noch immer ein Dorn im Auge bin und er deswegen versucht, mich von Tua wegzutreiben.
"Im Ernst?", hake ich nach, noch bevor ich die unterschiedlichen Szenarien gedanklich durchexerziert habe. Hannes nickt.
"Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Die Sache ist bloß die: Ich bin sein Freund, und er liebt dich, also erzähle ich dir die ganze Wahrheit -"
"Ehrlich zu sein ist keine Aufgabe, die er einfach so an jemanden delegieren könnte, besonders an dich nicht", unterbreche ich ihn genervt und Hannes lacht.
"Ich hatte dich eigentlich für klüger gehalten", spottet er. "Weißt du, mir nützt das gar nichts, wenn ich dir erzähle, wie's zurzeit wirklich um ihn steht. Das löst überhaupt nichts in mir aus. Du bist ein Trotzköpfchen, und jetzt, wo du dir Tua nach langem Hin-und-her-Überlegen ausgesucht hast, wirst du dich mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr von ihm abwenden. Stattdessen billigst du ihm die volle Kontrolle über das, was du fühlst, zu - und über eure gemeinsame Zukunft. Ihr klebt aneinander wie Pech und Schwefel", macht er seinem Unmut Luft. "Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Dinge, die dich von Tua wegtreiben, alle auf seine Kappe gehen. Er ist der notorische Lügner, nicht ich. Was immer er dir über seine Bemühungen vorgeschwindelt hat: Es hat nichts mit der Realität zu tun."
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