Steh-Geh
Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, starre nur auf meine Zehen in den weißen Sneakersocken, die ich abwechselnd krümme und wieder ausstrecke. Vielleicht mache ich das erst seit einer Minute, vielleicht ist aber auch schon eine ganze Stunde vergangen, seit ich mich das letzte Mal in dem hübsch eingerichteten Wohnzimmer umgesehen habe, in dem ich sitze. Tua ist wie vom Erdboden verschluckt, nach wie vor. Ich habe ein paar mal versucht, ihn anzurufen, aber er ist nicht rangegangen, da wurde es mir irgendwann zu blöd. Ich bemerke, wie sich das Gefühl von Wut in mir breitmacht. Er ist nicht hier, wo er sein sollte. Zu Hause, wohlbehütet. Bei mir. Er sollte auf seine Mutter aufpassen, wieso ist es meine Aufgabe sicherzustellen, dass Ivanka ruhig schläft? Ist es meine Aufgabe? Ich fühle mich, als müsste ich dafür Sorge tragen, weil es ja sonst keiner tut.
Das Kratzen des Schlüssels löst gemischte Gefühle in mir aus. Ich würde Tua am liebsten die Augen ausstechen, wenn er diesen Raum gleich betritt. Oder ihn küssen. Während seine Schritte sich nähern, entscheide ich mich für Letzteres. Ich stehe auf, fahre mir mit den Fingern durch meine Locken, als die Tür ein Stück aufgeht.
"Warum bist du noch wach?", fragt er aus dem Halbdunkel heraus, ohne das Zimmer zu betreten. Fassungslos atme ich aus. Zurück zu der Option mit dem Augen-Ausstechen.
"Ich hab dich vier- oder fünfmal angerufen, weil ich mir Sorgen gemacht habe."
Tua zieht sein Handy aus der Hosentasche und wirft einen Blick darauf.
"Sorry", murmelt er desinteressiert. "Der Ton war aus." Ich schnaube.
"Ja, wirklich super", sage ich im Affekt und schäme mich im nächsten Augenblick dafür. Sein Vater ist heute gestorben. Als ich an ihm vorbeiwill, um mich im Badezimmer bettfertig zu machen, schlingt er einen Arm um meine Taille, hält mich so auf.
"Iara, ich hab mich doch gerade bei dir entschuldigt, oder etwa nicht?"
"Du hast Sorry gesagt", korrigiere ich ihn spitzfindig und will mich von ihm losmachen, aber er lässt nicht locker, bis ich ihn anschaue.
"Es tut mir leid", sagt er. Diesmal meint er es aufrichtig. Der Kuss, der sich daran anschließt, besänftigt mich ein wenig. Innerlich bin ich allerdings noch immer sauer. Wahrscheinlich genügt schon ein falsches Wort und ich gehe in die Luft, aber Tua will offenkundig gar nicht reden. Er lehnt seine Stirn nur gegen meine und sieht mir traurig in die Augen. Die Tränen, die ich darin sehe, lassen auch in mir wieder welche aufsteigen. Ich hasse es, ihn so leiden zu sehen.
"Wir sollten schlafengehen", räuspert er sich nach einer Weile.
"Nein, wir sollten reden", widerspreche ich. "Über deine Gefühle."
"Ich weiß nicht, was ich fühle", verschließt er sich mir gegenüber und ich schlucke.
"Dann versuch's zu beschreiben", bitte ich ihn sanft, streichle seinen Rücken dabei und warte geduldig. Tua wischt sich über die Augen.
"Lass mich nachdenken. Komm, wir gehen rauf." Er zieht leicht an meiner Hand und ich lösche das Licht im Wohnzimmer, bevor ich ihm folge.
Als wir im Bett liegen, droht die Stille, die zwischen uns herrscht, mich mit Haut und Haar zu verschlingen.
"Du riechst immer noch nach Kiffe", nuschle ich in sein T-Shirt. Mein Freund schiebt mich von seiner Brust runter und zerrt sich das Oberteil wortlos über den Kopf. Er holt mich wieder zu sich. Ich fülle meine Lungen mit einem tiefen Atemzug. Sein Regengeruch ummantelt mich wie eine warme Decke.
"Ich würde die Finger vom Gras lassen, aber wenn ich stattdessen zur Flasche greife, ist damit auch niemandem geholfen. Das willst du nicht erleben", behauptet er. Er will sich vor allem selbst nicht so erleben, ich kann es aus seiner Stimme raushören.
"Der Rausch hält ihn am Leben, oder?", äußere ich meine Vermutung. Tua nickt, schluckt und lässt die Tränen dabei fließen.
"Aber nur in meinem Kopf", antwortet er erstickt.
Ohne irgendwas darauf zu erwidern, küsse ich ihn, setze mich auf seinen Schoß. Aber er ist schwach.
"Erzähl mir was Schönes", flüstere ich. "Irgendeine alte Erinnerung."
"Gerade gibt es einfach keine schönen Erinnerungen." Diesmal bin ich diejenige, die schlucken muss.
"Das ist doch Unsinn."
"Das sage ich dann auch zu dir, wenn deine Mutter stirbt."
Obwohl ich kein Fan von Gewalt bin, boxe ich so fest gegen seine Brust, dass meine Faust danach schmerzt. Ich klettere von ihm runter, wende mich ab und ziehe die Decke über meinen zitternden Körper. Das hat gerade so wehgetan. Eine Zeit lang versuche ich mein Schluchzen noch zu unterdrücken, aber das kostet mich Kraft, die ich schon seit Stunden nicht mehr habe.
Tua rührt sich nicht, er liegt bloß neben mir. Solange ich weine, kann ich nicht schlafen, ich muss damit aufhören, ermahne ich mich selbst. Die Bettdecke raschelt, als mein Freund sich über mich beugt und seine Lippen meinen Hals streifen.
"Verzieh dich", fauche ich. "Du kannst nicht solche Dinge zu mir sagen und dann erwarten, dass ich dir auf der Stelle vergebe."
"Ich wollte das nicht sagen."
"Hast du aber."
"Ich weiß, dass das nicht in Ordnung war."
"Gut so."
"Es tut mir leid."
"Schön."
Auch wenn ich meine Augen schließe, kann ich den Gesichtsausdruck erahnen, den er aufgesetzt hat. Reue, geplagt von Wehmut und Traurigkeit.
"Danke, dass du dich um meine Mutter gekümmert hast", kommt es von ihm und ich überlege, ob ich so tun soll, als wäre ich eingeschlafen, aber das würde er ohnehin durchschauen. Deshalb kralle ich mich ins Laken und entgegne: "Du warst nicht da, ich hab nur getan, was in dem Moment richtig war."
Als er seine Hand auf meinem Bauch ablegt, versteife ich mich.
"Vergib mir", fleht er nah an meinem Ohr.
"Vergib dir selbst", kontere ich herausfordernd.
"Geht nicht", nuschelt er in mein Haar.
"Tua, wenn du nicht sofort deine Finger da wegnimmst, ziehe ich auf die Couch um und verbringe die Nacht dort", drohe ich ihm und schlage auf seine Hand, die von meinem Bauch immer höher gewandert ist. "Du bist am Boden zerstört und ich bin wütend auf dich, Sex wird diese Probleme nicht für uns lösen."
"Ich weiß", gibt er heiser zu.
"Dann hör endlich auf, so dumm zu sein!", fahre ich ihn an und stoße ihn weg von mir.
Sein Atem beschleunigt sich, doch ich lasse mir nicht anmerken, dass es mich beunruhigt.
"Wie erträgst du mich überhaupt?", fragt er. Der leise Anflug von Panik in seiner Stimme veranlasst nun doch, dass ich mich zu ihm umdrehe.
"Ich liebe dich nun mal", sage ich und kehre ihm wieder den Rücken zu. Sein Blick lastet schwer auf mir, aber er startet keinen neuen Annäherungsversuch.
"Verlass mich", ist das nächste, was ich aus seinem Mund höre. Langsam setze ich mich auf und sehe ihn schweigend an. "Ich liebe dich", haucht er schließlich. Natürlich stellt mich das nicht zufrieden, aber die Erschöpfung packt mich mit einem Mal so heftig, dass ich zurück in die weichen Kissen sinke. Manchmal tut Liebe so weh.
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