Durne koshenya
Für die Dauer eines Moments bin ich ausschließlich Gefühl. Kein Wort dringt über meine Lippen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, bin gänzlich ohne Verstand. Tua schaut mich an und vergräbt seine Hände in den Taschen seiner Hose. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten, aber es liegt keine Feindseligkeit in der Luft. Über uns stehen die Sterne.
"Ich verstehe nicht, wie ein einzelner Mensch so widerlich sein kann", durchbreche ich die Stille. "Ich meine übrigens dich, nicht Hannes."
"Das war mir schon klar", murmelt er. Ich höre das Klicken seines Feuerzeugs und verdrehe die Augen. Unwirsch nehme ich ihm die Zigarette weg.
"Du kannst deine früheren Fehler nicht wegrauchen", keife ich. "Du qualmst wie ein Schlot. Ich dachte, nach Kostjas Tod hört das auf."
"Sei froh, dass ich nicht ziehe wie ein Ochse."
"Du bist trotzdem ein Ochse", kontere ich trocken. Mein Freund lacht vorsichtig. Ich wende den Blick ab. Tua drückt mein Kinn mit dem Daumen so hoch, dass ich ihm wieder in die Augen sehen muss.
"Ich weiß, du fühlst dich ausgeschlossen, weil du erst so spät was über diese Zeit in meinem Leben lernst. Nicht nur ich kann dir Dinge aus meiner Vergangenheit erzählen, das überfordert mich auch immer mal wieder. Hannes könnte dir so einiges über mich sagen. Seine Perspektive ist wahrscheinlich sogar interessanter für dich als meine, glaub mir."
"Davon musst du mich doch gar nicht überzeugen", gebe ich nachdenklich zurück und streiche mir die Locken hinters linke Ohr. "Ich -" Mein Hals schnürt sich zu. Ich spreche dennoch weiter. "Hannes ist die Verkörperung all dessen, wovon ich geglaubt habe, ich würde es eines Tages hinter mir lassen können. Sucht, Gewalt, Grenzüberschreitung ... Er ist wie unser Leben in diesem beschissenen Plattenbau damals, und -" Ich verschränke die Arme vor der Brust. "Und ich habe Angst vor ihm. In seiner Gegenwart bin ich wehrlos."
"Das stimmt nicht, du bist nicht wehrlos", widerspricht er mir. "Du spielst das Opfer nur, ich kenne das von dir, aber ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass das bei Hannes nicht funktioniert. Deswegen bleibt nur die Frage nach dem Warum übrig. Warum machst du das?"
"Ich brauche Liebe, ich kann nicht ohne. Wie kann irgendwer nur ohne Liebe? Dafür muss man doch verletzlich sein. Aber Hannes ist so ohne ... so ohne Gefühle. Ich weiß nicht, ob du dir das überhaupt vorstellen kannst: Am liebsten würde ich ihn umarmen, aber ich hab Angst, dass er mich schlägt."
"Du hast Angst vor Alkis, seit dich einer verprügelt hat, das ist 'ne völlig normale Reaktion, Iara."
"Aber es ist ja nicht nur das." Tua holt mich näher zu sich ran. "Ich sehe in seine Augen, und in meinem Herzen wird es kalt. Ich verabscheue ihn, weil er sich aufgegeben hat, und das auf irgendeine komische Art und Weise für dich. Und ich bin im Begriff, dasselbe zu tun. Er hat recht damit."
"Er hatte sich bereits aufgegeben, als ich ihn kennengelernt habe. Es ist nur schlimmer geworden mit den Jahren."
"Merkst du nicht, dass er sich völlig auf dich eingeschossen hat? Hannes hat irgendeine seltsame Obsession mit dir, du spürst das, ich weiß es. Du hast diesen Umstand ja sogar schon mal zu deinem Vorteil ausgenutzt. Nicht zu wissen, was da los ist, macht mich wahnsinnig. Ich kriege solche Sachen für gewöhnlich immer raus, Menschen vertrauen mir. Aber Hannes vertraut mir kein bisschen. Der hält mich für die Anti-Christin oder so."
"Du sammelst diese Infos über andere ja auch nicht nur aus heiligen Motiven", kommentiert Tua.
"Okay, was willst du jetzt andeuten?", frage ich verärgert.
"Na ja, du manipulierst deine Freunde", antwortet er lapidar.
"Inwiefern bitteschön?"
"Tarik hat mir vorhin erzählt, was du zu ihm und Bastian alles gesagt hast, bevor du sie auf eigene Faust nach Hause gebracht hast. Du hast Sachen laut rausposaunt, für die sie sich schämen. Außerdem hast du Maurice und Sinan ein schlechtes Gewissen gemacht, weil sie nicht eingeschritten sind."
"Jeder von ihnen hatte das verdient", zische ich.
"Darüber entscheidest du?" Tua zieht eine Augenbraue hoch. "Ich dachte immer, du wüsstest, dass du zwar viele liebevolle, aber auch einen sarkastischen Spitznamen hast."
"Ich habe einen sarkastischen Spitznamen?" Mein Freund kratzt sich am Hinterkopf. Er schweigt.
"Aus der Nummer kommst du jetzt eh nicht mehr raus, Tua, spuck's aus", fordere ich ihn auf.
"Maurice, Sinan, Niko und Tarik haben dich Das Jüngste Gericht getauft."
"Wie bitte?!", rufe ich.
"Keiner von ihnen meint das böse."
"Darum geht's nicht!", rege ich mich auf. "Glaubst du, ich bin wie die beschissene Stasi und sammle Informationen über die Leute, damit ich sie irgendwann mal gegen sie verwenden kann?" Seine Hände legt er auf meinen Schultern ab.
"Du versuchst nur zu helfen", beruhigt er mich.
"Das nennst du Manipulation", schnaube ich unzufrieden.
"Ich nenne das Manipulation, weil du nie wissen kannst, wie sich sowas auf die Leute auswirkt", erklärt er, "und nicht weil ich denke, dass du deine Freunde als deine persönlichen Marionetten betrachtest oder so 'ne Scheiße."
"Genau das impliziert Manipulation aber", erwidere ich beleidigt.
"Niemand stellt hier infrage, dass du empathisch bist. Dass du andere bevormunden willst, hat aber hauptsächlich was mit deinem Helfersyndrom zu tun. Du willst nicht, dass Tarik und Bastian den Drogentod sterben, und einerseits willst du das natürlich für sie - Andererseits weißt du nicht, wie du ohne sie weiterleben sollst. Ohne ihre Liebe, wie du dich ausgedrückt hast."
"Was ist das denn für ein Bullshit?", reagiere ich ungehalten auf seine Aussage. "Als würde ich meine Freunde retten wollen, damit ich auch in Zukunft weiter von ihnen profitieren kann."
"Das ist kein Bullshit, Iara, das ist menschlich", korrigiert er.
"Du spinnst doch", halte ich dagegen.
"Keine Liebe, ohne Ego-Bestätigung", präsentiert er mir eine simple Gleichung. "Der Teil von dir, geliebt werden will, ist dein Ego. Verstehst du nicht, dass das Ego an sich nichts Schlechtes ist? Unser Ego macht uns besonders."
"Ich bin aber nichts Besonderes!"
Tua sieht schockiert auf mich runter.
"So denkst du hoffentlich nicht wirklich über dich, oder etwa doch?", fragt er langsam. Ich ziehe die Schultern zu den Ohren hoch und lasse sie wieder fallen.
"Es stimmt." Mein Freund schüttelt den Kopf.
"Ganz sicher nicht." Er lacht fassungslos. "Echt jetzt?", hakt er nach. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Wieder lacht er. "Ja, Hannes beackert dich bestimmt so, weil du 'ne todlangweilige Frau bist." Eigentlich will ich recht behalten, doch gegen meinen Willen zucken meine Mundwinkel. Ich presse mein Gesicht an seine Brust, damit er nicht sieht, wie ich amüsiert lächle.
"Fick dich", nuschle ich in den Stoff seines Hoodies. Tua drückt mich fester und flüstert: "Idy syudy, durne koshenya."
"Ich hoffe für dich, du hast was Süßes zu mir gesagt."
"Ich hab was Süßes und was Gemeines gesagt." Ich gebe ihm einen Klaps auf den Oberarm.
"Das war für das Gemeine", erläutere ich, bevor ich ihn küsse. "Und das für das Süße."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro