7 - Das Meer
Sie fuhren durch die Innenstadt. Ein Fluss kreuzte die Straßen und wurde von kleinen, steinigen Brücken geziert. Wenn Merle es nicht besser wusste, wäre sie sofort nach diesem Ausflug hierhergezogen.
Auch Amelie schien wie gebannt von der bezaubernden Architektur zu sein, ihre Augen glänzten.
Bei fast jedem Restaurant oder Café nahm sie sich vor, ein Gericht zu kosten. Die Begeisterung schwappte sogar auf Merle über, obwohl sie die heimelige Atmosphäre beim Essen schon immer bevorzugt hatte.
Ihr Navigationssystem führte die beiden zum Hotel, das Merle vor der Reise ausgesucht hatte. Mittlerweile war es später Nachmittag, gerade noch Zeit, um in Ruhe einzuchecken und den Abend zu genießen. Sie verschwanden mit dem Gepäck in ihren Zimmern und trafen sich eine halbe Stunde später in der Lounge. Merle hatte sich entschieden, ihr Kleid anzubehalten. Ein kleines bisschen stolz war sie schon, es angezogen zu haben, dann würde sie das auch weiterhin durchziehen.
Es war beiden klar, was als nächstes zutun war. Sie luden ihre Wertsachen auf den Rücksitz von Amelies Auto und fuhren los. Ihr Weg führte sie durch die Innenstadt, bis immer weniger Häuser ihre Sicht umrandete. Merle vernahm sie das erste Mal und wusste trotzdem, dass es das Rufen der Möwen war, dem sie lauschte. Als wäre ihre Brust genauso leicht wie ihre Flügel, die diese Vögel schier von allein durch den Himmel trugen, summte sie in plötzlicher Euphorie zum Lied im Radio.
Ob Amelie verstand, was in ihr vorging? Ungeachtet dessen sang sie mit, was Merle nur noch bestärkte. Ihr fiel es schwer zu glauben, dass dies ein weiterer Wunsch war, der sich eben erfüllte und nicht mal auf ihrer Liste gestanden hatte – aus dem Glück heraus singen, zusammen mit einem vertrauten Menschen.
Der Himmel dämmerte bereits, als sie in der Nähe des Strandes parkten. Seit sie dort angekommen waren, hatte Merle ihre Augen kaum von dem Anblick abwenden können. Das Sonnenlicht glitzerte im Wasser, ein leuchtender Feuerball am Horizont, der sie anlächelte, warm und freundlich. Das Rauschen war wie Musik in ihren Ohren und der Sand sah verführerisch weich aus. Sofort ploppten Bilder in ihrer Vorstellung auf, wie jedes Korn zwischen ihren Finger hindurchglitt.
„Willst du auch ein Eis?"
Als Merle nicht antwortete, spielte Amelies Hand den Scheibenwischer vor ihrem Gesicht.
„Äh, ja. Klar."
Die Verkäuferin schichtete zwei großzügige Kugeln auf jede Waffel. Zusammen folgten sie dem Klang des Meeres, gingen den Holzsteg einige Treppen hinunter und betraten den Strand. Sogleich schlüpfte Merle aus ihren Sneakers, um den feinen Sand zwischen ihren Zehen zu spüren. Amelie tat es ihr gleich.
Das kühle Wasser hatte schier heilende Wirkung auf ihre aufgeheizten Füße. Auf Kniehöhe blieben sie stehen und genossen stumm die Aussicht. Standen nur dort und genossen den Moment. Amelie ließ es sich nicht nehmen einige Fotos zu machen und diesmal ließ sich Merle davon nicht stören. Sie beugte sich hinunter und fuhr mit beiden Händen durch die Wellen.
„Wunderschön, nicht wahr?"
Merle vermochte es nicht zu antworten, ihre Worte schienen so fern wie die Sonne im Himmel. Sie konnte nicht sagen, wie lange die beiden schon dort verharrten. Irgendwann liefen sie rückwärts, noch immer gebannt von der Aussicht, und ließen sich auf den Boden sinken.
Merle kehrte in die Wirklichkeit zurück, als ihre Augen immer schwerer wurden und die Sonne beinahe verschwunden war. In dem Moment war es ihr egal, dass der Sand sich in ihrem Haar verteilte, weil sie sich ohne ein Handtuch auf den Rücken fallen ließ.
„Bist du auch müde?", fragte Amelie und tat es ihr gleich.
„Ja."
„Sollen wir ins Hotel zurück?"
„Ich würde gern noch bleiben."
Ihr Schweigen nahm Merle als eine Bestätigung auf, dass sie ihr Gesellschaft leisten würde. Jedenfalls machte sie keine Anstalten, den Strand zu verlassen.
„Danke, Amelie", sprach Merle und lauschte weiterhin dem Rauschen der Wellen.
„Wofür?"
„Für alles." Sie stieß einen zischenden Laut aus. „Ohne dich hätte ich es nicht einmal geschafft, dieses blöde Kleid anzuziehen."
„Ist doch egal, was die anderen denken."
„Das war es mir nie. Leider."
„Wovor hast du denn Angst, was soll passieren?"
Merle konnte ihr eine ganze Liste nennen, viel länger als die ihrer Wünsche. Und es stieß ihr bitter auf, nun zu wissen, was sie dadurch beinahe verpasst hatte.
„Vor allem", murrte sie. „Die ganze Welt macht mir Angst. Sie ist so verdammt groß."
Vielleicht lag es an diesem malerischen Moment, der ihre sonst lebendigen Gedanken und Zweifel verstummen ließ. Als hätte sie immer nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen, um sich am Aussprechen mancher Worte zu hindern. Seit einer Ewigkeit nahm sie diese von ihrem Gesicht und sprach, ohne weiter nachzudenken.
„Jeden Morgen will ich mich unters Bett verkriechen bei der Vorstellung, einen weiteren Tag durchzustehen. Zur Arbeit gehen, mit Menschen sprechen, streiten, Einkaufen. Und dann nach Hause zu gehen, dich mit Menschen in einen Zug zu quetschen, die dich mit Krankheiten anstecken oder bestehlen wollen, nur um dann Duschen und Schlafen zu gehen, damit der Albtraum von Neuem beginnt."
Ihr fehlte der Atem, um weiterzusprechen.
Amelie stützte sich auf die Ellenbogen und drehte ihren Kopf, sodass sie Merle sehen konnte. Aber sie sagte nichts. Instinktiv wandte Merle ihren Kopf zur Seite, wusste nicht, ob sie über sich lachen oder weinen sollte.
„Ich kann mich nicht mal erinnern, wann ich zuletzt mit meinen Eltern gesprochen habe. Ich ertrage sie einfach nicht. Ihre enttäuschten Augen auf mir, weil sie mich für eine Versagerin halten. Es hat einfach nie gepasst – egal welche Noten, Freunde oder Ideen ich mit nach Hause gebracht habe. Und dann... hab ich aufgegeben, es ihnen recht machen zu wollen. Und bin gegangen."
Nach kurzem Schweigen schien Amelie ihre Sprache wiederzufinden.
„Wie... Wie lange ist das her? Dass du gegangen bist, meine ich."
Merle überlegte kurz. „Mindestens drei Jahre."
„Das tut mir leid. Ehrlich."
„Schon okay. Ich komme damit klar."
Als Amelie seufzte, sah Merle sie an und erkannte ehrliche Bestürzung in ihren Augen.
„Tust du das? Ich meine..." Amelie ließ die Augen wandern und suchte anscheinend nach den richtigen Worten. „Ich begebe mich auf dünnes Eis, das weiß ich. Aber meinst du nicht, sie verdienen es, von deinem Zustand zu erfahren?"
„Das interessiert sie doch gar nicht."
„Ach, Merle!" Amelie stieß einen Fluch aus, setzte sich auf, fuhr sich durchs Haar und wandte sich wieder ihrer Freundin zu. „Sie sind deine ELTERN!"
Dieser unterschwellige, urteilende Unterton in ihrer Stimme brachte Merles Blut in Wallung.
„Das waren sie nie. Und ich sterbe lieber allein als neben ihrem geheuchelten Interesse für mich."
Amelies Lippen waren nur noch ein dünner Strich. „Ach ja? Wofür dann dieser ganze Plan? Um letzten Endes doch einsam zu sterben und Menschen zu verletzen, die sich gar nicht von dir verabschieden konnten?"
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