6 - Zielgerade
Das Vogelgezwitscher und die Ameisen in ihrem Gesicht weckten Merle auf.
Erschrocken schüttelte sie sich die Tiere vom Kopf und stand mit einem Mal senkrecht. Amelie war auch schon auf, da griff sie sogleich nach der von ihr zur Seite gelegten Haarbürste.
„Hast du nichts abbekommen?"
Amelie zuckte bloß mit den Schultern.
„Dabei hast du längeres Haar als ich, da könnten sie sich ein Nest bauen."
Merle streckte sich und stöhnte, weil sie wegen dem unerwartet harten Boden jeden einzelnen Muskel spürte.
„Mein Hintern tut weh", jammerte Amelie. „Das machen wir nie wieder."
Merle lächelte bei ihrer stummen Frage, ob es denn je dazu kommen würde. Vorerst jedenfalls nicht. Sie fühlte sich glatt 50 Jahre älter, als sie sich bückte, um die Decke aufzuheben und im Kofferraum zu verstauen. Dann griff Merle nach ihrer Tasche und kramte darin nach ihren Ersatzklamotten.
Amelies Blick, der auf ihr ruhte, war ihr nicht entgangen.
„Du trägst nur schwarz, oder? Selbst deine Höschen!"
Merles Wangen färbten sich rot. „Die sieht doch eh keiner."
„Naja..." Amelie ließ ihre Brauen tanzen und lachte auf, als Merle hektisch wühlte und ihr Gesicht sich zwischen Scham und Grinsen nicht entscheiden konnte.
„Huch, was ist denn das?"
Mit einer blitzschnellen Bewegung zupfte Amelie an einem hellblauen Stück Stoff, das seitlich aus der Tasche lugte – und hatte es gänzlich herausgezogen, ehe Merle reagieren konnte. Amelies herausfordernden Blick wollte sie nicht ohne Widerstand ertragen, also reckte sie stolz die Nase.
„Siehst du? Ich besitze ein Kleid. Und es ist nicht einmal schwarz!"
Amelie breitete das Kleidungsstück vor sich aus, um es besser betrachten zu können. „Da ist noch das Preisschild dran."
Merle riss es ihr aus den Händen. „Ich hatte noch keine Chance, es zu tragen."
„Oder du hast es für diesen Anlass gekauft – oder vielleicht doch schon ewig im Schrank versteckt?"
„Wo ist der Alkohol, du schnüffelst zu viel herum", sagte Merle in gespieltem Ernst, steckte es aber wieder in ihren Rucksack zurück.
„Zieh es doch an", schlug Amelie vor. „Du wolltest dich doch sowieso umziehen."
Merles Wangen glühten noch immer, aber die Scham verwandelte sich in Ärger – war sie wirklich so durchschaubar? War es so offensichtlich, wie schwer es ihr fiel?
Na gut, dachte Merle patzig. Sie wollte das blaue Kleid, dann sollte sie es kriegen.
In einem Anflug von ist-mir-egal-was-andere-denken-Haltung breitete sie das Kleid wieder vor sich aus und öffnete den Reißverschluss. Dann zog sie sich das Shirt über den Kopf, schlüpfte aus der Hose und stand für einen Moment nur noch in Unterwäsche vor Amelie. Diese musterte sie verblüfft und Merle genoss jede Sekunde dieses Anblicks. Bis ihr Schamgefühl sie einholte und ihre Hände fahrig das Kleid hoben, sodass sie hineinschlüpfen konnte. Dann streckte sie Amelie ihren Rücken hin, sie schloss den Reißverschluss. Amelies Augen durchbohrten sie beinahe, Merle fiel es schwer, ihren Blick zu deuten.
„Es steht dir."
Merle verharrte für eine Sekunde in diesem Augenblick, fand weder Wort noch Gefühl, mit dem sie reagieren konnte. Sie hatte mit einer weiteren Stichelei gerechnet und keinem Kompliment. Also nickte sie nur und schritt Richtung Wagentür. „Lass uns fahren, ich muss duschen."
Sie musste aussehen wie eine Tomate.
Amelie manövrierte das Auto rückwärts Richtung Straße und sie machten einen Abstecher zum Bäcker, um Kaffee zu kaufen. Dann bogen sie auf die Autobahn ab und legten die restlichen Stunden Richtung Meer zurück. Der fröhliche Mann im Radio berichtete von Temperaturen bis zu dreißig Grad und einem wolkenfreien Himmel. Am Horizont war bereits das endlose Blau zu erkennen. Merles Herz schlug Saltos bei der Vorstellung.
„Warum ist es eigentlich das Meer?", fragte Amelie. „Viele wollen einen anderen Kontinent besuchen oder gleich eine Weltreise machen."
Merle hob unschlüssig die Schultern. „Mal abgesehen davon, dass ich wahnsinnige Höhenangst habe und nirgendwo hinfliegen kann... Ich glaube, es gibt nichts Vergleichbares."
„Das stimmt. Es ist ein wundervoller Anblick. Als ich klein war und mit meinen Eltern dort Urlaub gemacht habe, habe ich dem Wasser alles entgegengeschrien – Freude, Flüche und Sorgen. Die anderen Touristen waren mir natürlich egal. Meine Eltern hätten mir wahrscheinlich am liebsten den Mund zugeklebt."
„Hast du Ärger bekommen?"
„Nö, ein ernstes Gespräch, sonst nichts. Mein Vater hätte bestimmt mitgemacht, schließlich hab ich die Flausen von ihm geerbt, ganz sicher."
Merle versuchte sich einen herumalbernden Vater mit Amelies Gesicht vorzustellen.
„Steht ihr euch nahe?"
„Nein. Dafür sind wir uns wohl zu ähnlich. Er hat einen Hang zum Choleriker, während ich mir gar nichts sagen lasse. Was, wie du dir denken kannst, zu viel Streit in meinen Teenagerjahren geführt hat. Das hat sich nicht geändert."
Merle sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Wir haben nie gestritten. Zumindest nicht mit Worten. Da war immer etwas Unsichtbares zwischen mir und meinen Eltern, von dem ich wusste, dass es uns entzweit. Der Grund dafür waren allerlei Dinge."
„Also habt ihr euch nie ausgesprochen?"
„Nein."
„Das ist beängstigend." Amelies Gesicht war eine starre, traurige Maske. „Wenn man nie erfährt, was zwischen euch liegt – oder ob da je etwas gewesen ist."
Merle verschloss sich vor dieser Vorstellung, sonst würde sie sich wie ein Virus in ihrem Kopf verbreiten. Nie im Leben hatte sie sich das eingebildet. Sie kannte ihre Eltern.
„Manchmal ist es vielleicht besser zu schweigen. Die falschen Worte kann man nämlich nicht so leicht wieder zurücknehmen."
Merle war froh, dass Amelie nicht weiter nachforschte, was sie damit meinte.
„Stimmt wohl – wenn sie nur da sind, um jemanden zu verletzen. Doch die meisten sind nicht ohne Grund in unseren Köpfen. Das glaube ich zumindest."
Und wenn sie aus den falschen Gründen gesagt wurden? Was, wenn irgendwelche Absichten ein Leben zerstörten, obwohl sie rein gar nichts mit dir zutun hatten? Wenn nur die egoistischen Gedanken eines anderen dahintersteckten?
Der Anblick der Stadt ließ Merles Gedanken verstummen, ließ sie aus der düsteren Stimmung in Euphorie abtauchen. Hatten eben noch lange Felder die vorbeiziehende Landschaft geziert, waren es nun Wohngebiete und schließlich das Herz der Stadt – Gebäude an Gebäude reihten sich aneinander.
Eine salzige Brise mischte sich unter den konstanten Luftzug ins Auto. Zum ersten Mal in ihrem Leben inhalierte Merle das Meer. Und es ließ ihr Herz schneller schlagen.
„Riechst du es auch?", fragte sie.
Amelie nickte. „Wir kommen unserem Ziel immer näher."
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