5 - Unter Sternen
Hinter den Blättern deutete sich der Abendhimmel an, die Wolken ähnelten Fetzen bunter Zuckerwatte. Als Merle und Amelie aus dem Gestrüpp heraustraten, war es bereits dunkel und der Supermarkt kurz vor der Schließung, also kauften sie sich zu den Vorräten im Auto zusätzlich ein paar Snacks. Den Alkohol hatte Merle ihrer Freundin aus der Hand genommen und direkt ins Regal zurückgestellt.
„Du musst noch fahren."
Amelie seufzte. „Aber heute nicht mehr."
„Ich habe hier kein Hotel gesehen."
„Dort werden wir auch nicht schlafen, Dummchen." Sie nahm sich einen anderen Wein aus dem Regal und deutete damit Richtung Fenster. „Hast du den Himmel schon gesehen?"
Merle wollte gerade fragen, was sie meinte, bis es ihr selbst klar wurde. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Bei der Vorstellung lächelte sie in sich hinein.
„Na gut. Wehe, du übergibst dich, dann küble ich nämlich auch – und zwar in dein Auto."
Wenig später saßen sie im Fahrzeug, verließen den Parkplatz und stellten es zehn Minuten später am Rand des Waldes ab. Merle griff nach ihrer großen Decke, die sie im Kofferraum verstaut hatte und breitete sie auf der Wiese neben ihnen aus. Die Taschenlampe in ihrem Handy half ihr dabei zu sehen. Dann machte sie es sich gemütlich, kurz darauf stieß Amelie mit ihrer geliebten Weinflasche dazu. Das Gras um sie herum raschelte im abgekühlten Sommerwind.
Merle lehnte sich zurück und reckte den Hals, um das Himmelszelt über ihnen betrachten zu können. Die Vielfalt an Sternen überraschte sie, genauso die Größe des Mondes. Sofort fand sie den kleinen Wagen.
Das Klimpern von Amelies Schlüsseln holte sie in den Moment zurück. Sie war gerade dabei, einen davon als Korkenzieher zu verwenden. Als er sich mit einem Ploppen aus der Öffnung löste, grinste sie zufrieden und nahm einen Schluck. Dann bemerkte sie ihre starrende Freundin und hielt ihr die Flasche vor die Nase. Merle war selbst überrascht, als sie das Angebot annahm – und verzog nicht wie letztes Mal das Gesicht.
„Gar nicht übel."
Amelie streckte sich aus und summte zufrieden eine Melodie, während Merle sich nachdenklich auf den Händen abstützte. „Das war eine tolle Idee. Warum bin ich nicht darauf gekommen?"
„Naja, es stand auf deiner Liste, also im Grunde BIST du darauf gekommen."
Unter freiem Himmel schlafen.
Ein weiterer Punkt, den sie wegstreichen konnte.
„Danke, ehrlich. Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Ich will mich anstrengen."
Und das meinte sie so. Es fühlte sich an, als meißelte Amelie den schweren Stein in ihrer Brust, der ihr das Atmen erschwerte und verwandelte es in etwas anderes. Sie konnte nur nicht benennen, was es war. Und sie würde sich Mühe geben, diese neue Form zu erhalten.
„Perfekt", säuselte Amelie. „Dann kannst du morgen das Autofahren für mich übernehmen. Ich lass' dich mein Baby steuern, wenn du lieb fragst."
Ihre Art schaffte es wieder und wieder, Merle zu überrumpeln. „Aber... Ich bin seit Jahren nicht mehr gefahren."
„Ach, ein bisschen Übung, dann ist alles wieder da."
Merle zögerte und ließ es genau deswegen ihre Einwände sein.
„Gut. Morgen früh."
„Abgemacht!"
Energisch nahm sie Merle die Flasche aus der Hand und trank. Die Bewegung verursachte einen Luftzug, der auf ihrer Haut kitzelte und sich ein Hauch Parfüm in ihre Nase stahl.
„Darf ich dich was fragen?" Ihre Blicke trafen sich. „Warum hast du das alles nicht schon längst getan? Der Nachthimmel ist jeden Tag für dich da, genauso das Meer. Kam ein Ausflug mit Freunden oder der Familie nie in Frage? Oder vielleicht ein Spaziergang am Abend, um die Sterne zu sehen?"
Merle sah sich wiederholt die Sterne an, um ihren Blick nicht erwidern zu müssen. Die angenehmen 25 Grad waren plötzlich unangenehm schwül. Und doch glaubte sie, es erklären zu müssen, es wenigstens zu versuchen. Das war sie ihr schuldig, oder? Zumindest einen Teil davon. Also begann sie zuerst stockend zu erzählen und verfiel dann in einen Fluss aus Worten und Erinnerungen.
„Mal abgesehen davon, dass weder Freunde noch Eltern dafür taugen... hatte ich Angst, schätze ich. Sie ist immer da, bei allem, was ich tue. Und dann änderte sich alles. In der ersten Nacht nach der Diagnose, da... konnte ich nicht einschlafen. Stundenlang wälzte ich mich im Bett herum, mein Kopf schmerzte trotz der Medikamente. Als ich mich umdrehte und auf die Uhr sah, schaltete sie auf 00:00 Uhr um. Als hätte dies auch einen Schalter in mir umgelegt. Da wurde mir klar: Die Zeit läuft und wird nicht stoppen. Der erste Tag, an dem ich meine Zeit nicht mehr an diese Gedanken verschwenden durfte, begann. Etwas musste sich ändern. Also bin ich aufgestanden, um die Liste zu schreiben. Um mich bei dem blöden Speed Dating anzumelden."
Sie lachten, dann ergänzte Merle: „Ich will keine Angst mehr haben. Sie hält mich immer davon ab, das zu tun, was ich mir wünsche, etwas zu wagen. Jemanden kennenzulernen."
Merle griff nach der Flasche in Amelies Hand, um ihren ausgetrockneten Mund zu befeuchten. Dann gab sie diese zurück, schwieg und wartete auf eine Antwort. Als Amelie eine Minute später immer noch nichts gesagt hatte, hielt sie es nicht mehr aus.
„Jetzt sag schon was."
Das Lächeln war in Amelies Stimme zu hören. „Sorry. Es ist nur... Danke, dass du dich mir anvertraut hast. In dem Moment hast du es wirklich realisiert, oder? Was passieren wird. Ich kann mir das kaum vorstellen, wie sich das anfühlen muss."
Merle war überrascht, dass sie das selbst auch nicht konnte. Ihr Verstand konzentrierte sich nur auf das Hier und Jetzt, auf Amelie.
„Und ich kann immer noch nicht glauben, jemanden in diesem Haufen peinlicher Gespräche gefunden zu haben. Auch wenn es nur Zufall war."
„Ein guter."
„Wieso warst du überhaupt dort?"
„Das weißt du doch, Merle."
„Ja, aber... Mich wundert es nur, dass du niemanden hast. Oder bist du eine unerträgliche Alkoholikerin?"
Amelie knuffte sie in die Seite. „Ich bin altmodisch, was Apps angeht. Ich schau mir die Leute doch lieber direkt an und vertraue auf mein Bauchgefühl. Das hat bei dir definitiv angeschlagen."
„Dachte ich's mir doch: Mein Charme hat dich überzeugt."
Ihre Augen funkelten verschwörerisch. „Ich bin zumindest offen für alles."
Merles Atem stockte, genau genommen schien alles anzuhalten, bis auf ihre Gedanken. Deutete sie wirklich an, was sie dachte? Als sie nicht antwortete, lachte Amelie.
„Dich kann man so leicht ärgern, herrlich. Bist ja schon ganz rot, wie süß!"
Sie knurrte verlegen und verwirrt zugleich und verschränkte die Arme über sich, um ihren Kopf darunter zu verbergen. Als wäre sie bei etwas ertappt worden.
„Gräme dich nicht. Es ist doch schön, wenn besondere Momente auch besondere Emotionen in uns hervorrufen. Das mag ich sehr an dir, Merle."
Amelie legte ihr die Hand tröstlich auf die Schulter, was ihren Puls keineswegs senkte. Doch ihre Worte nahm sie war und bedankte sich in ihren Gedanken. Eine Weile noch lagen sie wach und genossen die Aussicht. Dann fielen Merle die Augen zu und sie schlief ein.
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